Botschafter des Heils in Christo 1884
Ist der Gläubige ein Kind Gottes oder ein armer Sünder?
Die Frage, welche die Überschrift dieser Zeilen bildet, sollte eigentlich lauten: Redet das Wort Gottes von jemandem, der mit seinem Herzen an Jesus Christus, den Sohn Gottes, geglaubt hat, als von einem Sünder, oder als von einem Kind Gottes? Die Schrift sagt: „Gott aber erweist seine Liebe gegen uns, indem Christus, da wir noch Sünder waren, für uns gestorben ist“ (Röm 5,8). Weiterhin hören wir in derselben Brief: „Der Geist selbst zeugt mit unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind“ (Röm 8,16). Nichts könnte klarer und deutlicher sein: wir waren einst Sünder, aber jetzt sind wir Kinder Gottes. Wir waren einst völlig schlecht und verdorben vor Gott, mit einer Natur, in welcher „nichts Gutes“ wohnt, und die nur fähig ist zu sündigen; wir waren ohne Gott und ohne Hoffnung in der Welt und ohne jede Kraft, um unseren Zustand zu verändern. Mit einem Wort, wir waren Sünder, tot in Sünden und Übertretungen. Aber Gott sei gepriesen! Gerade um solche zu suchen und zu erretten, kam Christus aus dem Schoß des Vaters in diese verdorbene Welt herab.
Und jetzt sind wir, so viele von uns in Wahrheit den Sohn Gottes als ihren Heiland angenommen haben, aus Gott geboren; wir sind Kinder Gottes infolge einer neuen Geburt. Denn „so viele Ihn annahmen, denen gab Er das Recht, Kinder Gottes zu werden, denen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus Geblüt, noch aus dem Willen des Fleisches, noch aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind“ (Joh 1,12–13). Überdies haben wir „Vergebung der Sünden“, sind „gerechtfertigt von allem“ – indem Gott selbst es ist, welcher rechtfertigt – und haben den Heiligen Geist empfangen, damit Er in uns als das Siegel Gottes und das Unterpfand des Erbes wohne; alles dieses sicherlich nur infolge der Gnade Gottes und zum Preis der Herrlichkeit dieser Gnade. Nichts ist aus uns; selbst der Glaube, mittels dessen wir aller dieser herrlichen Dinge teilhaftig geworden sind, ist eine Gabe Gottes (vgl. Apg 10,43; 13,38–39; Röm 3,24; 5,5; Eph 1,13–14).
Gerade dieses gesegnete und köstliche Kindesverhältnis, in welchem der Gläubige zu unserem Gott und Vater steht, wird aber in der bekennenden Christenheit im Allgemeinen wenig gekannt, ja nicht selten geleugnet Man sündigt gegen diese Wahrheit in zweierlei Weise, und zwar erstens dadurch, dass Taufende und Millionen Anspruch darauf machen, Kinder Gottes zu sein, und Gott als Vater anreden, ohne dass sie wirklich ans Gott geboren sind, und zweitens dadurch, dass viele derer, welche in Wahrheit Kinder Gottes sind, dieses Verhältnis nicht als eine gegenwärtige Wirklichkeit kennen und genießen, sondern sich selbst fortwährend „arme Sünder“ nennen. Ja, sie sagen sogar, dass dies der einzig richtige Zustand eines Christen sei, wenn er unter dem steten Druck seiner Sünden einhergehe. Sie denken gar nicht daran, dass Gott dadurch verunehrt, sein Wort verdreht und der Boden der neuen Schöpfung, auf welchen Er uns in seiner wunderbaren Gnade gestellt hat, verlassen wird. Statt dass ein unaufhörliches Lob und ein steter Dank als die Frucht ihrer Lippen zu Gott emporsteigen sollte für das, was Er in Christus Jesus für sie getan hat, halten sie es für Demut, jeden Tag von neuem zu rufen: „O Gott, sei mir, dem Sünder, gnädig!“
Wie gesegnet ist es, sich von diesen menschlichen Lehren zu dem reinen Worte Gottes hinwenden zu können! Die Neubekehrten in Kolossä ermahnt der Heilige Geist durch den Apostel, „des Herrn würdig zu wandeln. danksagend dem Vater, der uns fähig gemacht hat zu dem Anteil des Erbes der Heiligen in dem Licht, der uns errettet hat aus der Gewalt der Finsternis und versetzt in das Reich des Sohnes seiner Liebe, in welchem wir die Erlösung haben, die Vergebung der Sünden“ (Kol 1,10–14).
Vielleicht wird man einwenden: Ist denn ein Kind Gottes kein Sünder mehr? – Ohne Zweifel ist ein Kind Gottes fähig, zu sündigen, und tatsächlich fehlen wir alle mannigfaltig; allein kein Gläubiger ist gezwungen, zu sündigen. Er ist im Gegenteil aus der Macht Satans und von der Herrschaft der Sünde befreit und wird eindringlich ermahnt, nicht zu sündigen. Wie könnte diese Ermahnung an ihn gerichtet werden, wenn er sich noch in der Stellung eines armen, kraftlosen „Sünders“, eines Sklaven der Sünde, befände? Wenn Paulus davon redet, dass Christus Jesus in die Welt gekommen ist, Sünder zu erretten, und dann hinzufügt: „von welchen ich der Erste bin.“ so war das ohne Zweifel von ihm wahr; allem schon die nächsten Worte beweisen deutlich, dass er von seinem Zustand vor seiner Bekehrung redet. Ich möchte fragen: Sind die Briefe der Apostel an Sünder gerichtet, oder an Gläubige? Werfen wir einen Blick auf den ersten Brief des Johannes. Macht uns der Apostel nicht mit aller Sorgfalt darauf aufmerksam, dass er an „Kindlein“, an „Jünglinge“ und an „Väter“ im Glauben schreibt? Selbst die „Kindlein“ in Christus kennen den Vater, d. h. sie wissen, dass sie Kinder Gottes sind und Vergebung ihrer Sünden haben (Kap 2,12–14). Nennt Johannes sie etwa „Sünder“, oder gar „arme Sünder?“ Nein, er sagt im Gegenteil: „Ich schreibe euch, Kinder, weil euch die Sünden vergeben sind um seines Namens willen“; und: „Meine Kinder, ich schreibe euch dieses, auf dass ihr nicht sündigt.“ Doch da er weiß, dass es möglich ist, dass ein Kind Gottes sündigt und auf diese Weise den Genuss der Gemeinschaft mit seinem Vater verliert, so fügt er sogleich hinzu: „Wenn jemand gesündigt hat“ – wir beachten (wir, dass der Apostel nicht sagt, „so hat er“, d. h. der Betreffende, welcher gesündigt hat, sondern wir), „haben einen Sachwalter bei dem Vater, Jesus Christus, den Gerechten.“
So sehen wir, dass der gerechte, fleckenlose Mensch zur Rechten der Majestät droben, welcher auf dem Kreuz gerade für die Sünde, welche wir begangen haben, Versöhnung getan hat und vor Gott ist nach dem ganzen Werte des auf Golgatha vollbrachten Werkes, unsere Sache übernimmt als „unser Sachwalter“, und zwar als unser Sachwalter „bei dem Vater“, weil es sich eben darum handelt, dass wir als Kinder durch unsere Sünde den Vater verunehrt und so die Gemeinschaft mit Ihm praktisch verloren haben. Infolge dieser gnädigen und unaufhörlichen Fürsprache Christi wirkt der Heilige Geist in uns, erweckt das Bewusstsein, dass wir gesündigt haben, und ruft ein aufrichtiges Selbstgericht in uns hervor, so dass wir „unsere Sünden bekennen“ und auf Grund dieses Bekenntnisses die Gewissheit erlangen, dass der Vater uns vergeben hat. Dann ist die Gemeinschaft mit dem Vater wiederhergestellt (vgl. 1. Joh 1,8–10; 2,1–2). Ich frage nun: Handelt es sich hier um einen Sünder in seinen Sünden? Offenbar nicht; sondern vielmehr um ein Kind Gottes, das gesündigt hat, und um den göttlichen Weg, auf welchem seine Gemeinschaft mit dem Vater, die durch die Sünde unterbrochen ist, wiederhergestellt werden kann.
Solange ein Mensch nicht zu Gott kommt mittels des Opfers Christi, wird er in der Schrift betrachtet als ein Sünder in seinen Sünden, der fern von Gott und bereits verurteilt ist. Aber so einfach und zugleich so gesegnet ist der gegenwärtige Heilsweg Gottes, dass der schuldige und verdorbene Sünder, der in einfältigem Glauben an das ein für alle Mal geschehene Opfer des Leibes Jesu Christi zu Ihm kommt, berechtigt ist, zu wissen, dass er Vergebung der Sünden und ein gereinigtes Gewissen besitzt, dass er geheiligt ist durch das Blut und für immer vollkommen gemacht durch jenes eine Opfer, ja, dass er den Heiligen Geist empfangen hat und befähigt ist, mit Freimütigkeit in das Allerheiligste einzutreten durch das Blut Jesu (Heb 10,2–20). Wenn ich nun diese kostbaren Zeugnisse der göttlichen Wahrheit betreffs meiner gegenwärtigen gesegneten Stellung im Glauben annehme, wie kann ich dann noch sagen, dass ich ein armer Sünder bin? Wohl werde ich stets sagen müssen, dass ich ein schwaches, oft irrendes und in mannigfacher Weise sündigendes Kind Gottes bin, aber das ist doch etwas ganz anderes, als ein Sünder in seinen Sünden.
Schließlich möchte ich noch darauf hinweisen, dass jedes wahre Kind Gottes die Sünde hasst. Alle, die von dem Geist geboren sind, wissen und erfahren, dass sie zwei Naturen besitzen. Die alte Natur – „das Fleisch“ – ist und bleibt in dem Kind Gottes, solange es in dieser Hütte pilgert; aber das braucht nicht seine Gemeinschaft mit dem Vater zu hindern. Denn Gott versichert uns in seinem Wort nicht nur, dass unsere Sünden für ewig vergeben sind, sondern dass Er auch uns selbst nach unserem alten Zustand mit Christus auf dem Kreuz gerichtet und vor seinen Augen hinweggetan hat. „Unser alter Mensch ist mit Ihm gekreuzigt“, und wir besitzen jetzt ein neues Leben in Christus. Deshalb wird von dem Gläubigen in den Briefen als „in Christus Jesus“, als „begnadigt in dem Geliebten“ und „vollendet in ihm usw.“ gesprochen. Wie könnte ich nun diese Wahrheiten im Glauben genießen und zugleich sagen: „Ich bin ein armer Sünder?“ Die Wahrheit ist, dass ein Kind Gottes, wenn es sündigt – so traurig und demütigend diese Tatsache auch sein mag – dennoch nicht zu verzweifeln braucht; denn derselbe Jesus, der unsere Sünden auf dem Kreuz getragen hat, ist jetzt unser Sachwalter bei dem Vater. Und Er vermag „völlig zu erretten, die durch Ihn zu Gott kommen, indem Er immerdar lebt, um sich für sie zu verwenden“ (Heb 7,25). Er war einst für uns auf dem Kreuz, und Er ist jetzt für uns bei dem Vater, und Er ist unaufhörlich für uns und mit uns beschäftigt, bis Er kommen und uns in die Wohnungen des Vaterhauses einführen wird. Welch eine gesegnete, herzerquickende Wahrheit!