Botschafter des Heils in Christo 1884
Hat Christus die "Sünden" der Welt getragen?
Die Schrift lehrt nirgendwo, dass Christus die „Sünden“ der Welt getragen habe. Hätte Er es getan, so würde kein Mensch je verloren gehen können. Es ist völlig unmöglich, dass Christus die Sünden aller getragen haben könnte, und dass trotzdem ein Einziger nicht errettet werden würde. Wir lesen deshalb auch in Johannes 1,29 nicht: „Siehe das Lamm Gottes, welches die Sünden“ – sondern: „welches die Sünde der Welt wegnimmt.“ Ebenso heißt es in 1. Johannes 2,2 nicht: „Und Er ist die Sühnung für unsere Sünden (d. h. für die Sünden aller Glaubenden), nicht allein aber für die unseren, sondern auch für diejenigen der ganzen Welt“ – sondern einfach: „für die ganze Welt.“ Wäre Christus die Sühnung für die Sünden der ganzen Welt, so müsste jedermann errettet werden, unbeachtet der Ratschlüsse Gottes und des Werkes des Heiligen Geistes, der in der Seele Buße und Glauben hervorruft.
Wir haben kein Recht, jedem unbekehrten Menschen, der uns auf der Straße begegnen mag, zu sagen, dass Christus seine Sünden ans das Fluchholz getragen habe. Wir können ihm sagen, dass Er die Sünde hinweggetan hat durch das Schlachtopfer seiner selbst, dass der Vorhang zerrissen und Gott im Blick auf die Sünde durch den Versöhnungstod Christi vollkommen verherrlicht ist; wir können ihm ferner die frohe Botschaft bringen, dass die Gnade Gottes, „heilbringend allen Menschen“, erschienen ist, und dass ein jeder, der da will, das Wasser des Lebens umsonst nehmen darf, dass keiner ausgeschlossen ist, sondern dass Gott die Welt also geliebt hat, dass Er seinen eingeborenen Sohn dahingab, auf dass jeder, der an Ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe.
Alles das können wir einem jeden Menschen mit aller Freimütigkeit und Gewissheit sagen; aber erst dann, wenn ein Mensch wirklich durch die Macht des Heiligen Geistes dahin geleitet wird, sich zu beugen unter das Zeugnis Gottes, wenn er in Wahrheit seinen verlorenen Zustand erkennt und mit Aufrichtigkeit Buße tut, erst dann dürfen wir ihm weitersagen, dass Christus seine Sünden auf dem Kreuz getragen hat; ja wir dürfen dann noch mehr tun: wir dürfen ihn belehren, dass unser Herr und Heiland nicht nur die Frage seiner Sünden auf Golgatha in Ordnung gebracht hat, sondern dass auch sein sündiger Zustand auf dem Kreuz zu seinem Ende gekommen ist; wir dürfen ihn aufmerksam machen auf die Unterweisungen des Heiligen Geistes in Bezug auf das Gestorbensein des Gläubigen mit Christus, sowie auf das Hinwegtun der Herrschaft der Sünde und ihrer Macht für den Glauben.
Doch es möchte gefragt werden: Was ist denn die wahre Bedeutung der Worte in Johannes 1,29: „Siehe das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegnimmt?“ – Um die volle Kraft und Tragweite dieser köstlichen Worte verstehen zu können, müssen wir vorwärts blicken auf jene herrliche Zeit, wann jede Spur der Sünde aus der Schöpfung Gottes ausgetilgt sein wird. Und wenn es sich um die gegenwärtige Anwendung der Stelle handelt, so frohlocken wir in dem Bewusstsein, dass Christus durch sein Opfer die gerechte Grundlage gelegt hat, auf welcher Gott in Gnade und Güte, in Erbarmen und geduldiger Langmut gegen die Welt, als Ganzes, wie gegen jeden Einzelnen handeln kann, der je auf dem Erdboden gelebt hat und bis zu dem Ende der Zeiten leben wird, Kraft des vollbrachten Werkes auf Golgatha vermag der gerechte und heilige Gott seine Liebe und Geduld dem größten Sünder gegenüber zu offenbaren. Im Blick auf das Kreuz lässt Er seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Infolge des Kreuzes vermag der Ungläubige und Gottesleugner zu leben und selbst für eine Zeit ungestraft den zu lästern, der ihm Leben und Odem und alles gibt. Und schließlich kann auf Grund des Versöhnungswerkes Christi das Evangelium der ganzen Welt gebracht und aller Schöpfung, die unter dem Himmel ist, verkündigt werden.
Nichts könnte genauer und zu gleicher Zeit umfassender sein, als das Zeugnis der Heiligen Schrift über diese wichtige Frage. Wir finden immer wieder, dass die Schrift überall genau unterscheidet zwischen „Sünde“ und „Sünden.“ So oft der letztere Ausdruck gebraucht wird, steht er stets mit dem Volk Gottes in Verbindung. Ich führe hier nur einige Stellen an: „Also wird auch der Christus, einmal geopfert, um vieler – nicht aller – Sünden zu tragen, zum zweiten Male ohne Sünde erscheinen denen, die Ihn erwarten zur Seligkeit“ (Heb 9,28). „Welcher selbst unsere Sünden – d. h. die Sünden der Seinen, aller wahren Gläubigen – an seinem Leib auf dem Holz getragen hat“ (1. Pet 2,24). „Denn dies ist mein Blut, das des neuen Bundes, welches für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden“ (Mt 26,28). „Denn ich habe euch zuerst überliefert, was ich auch empfangen habe: dass Christus gestorben ist für unsere Sünden, nach den Schriften“ (1. Kor 15,3). „Der sich selbst hingegeben hat für unsere Sünden, damit Er uns herausnehme aus der gegenwärtigen bösen Welt“ (Gal 1,4).
Das Wort Gottes zeugt mit aller Entschiedenheit gegen die ketzerische Lehre von einer allgemeinen Versöhnung, während sie zugleich so klar wie möglich die Wahrheit einer allgemeinen Erkaufung, wenn wir so sagen dürfen, lehrt. Unser Herr Jesus Christus hat ein erkauftes Recht auf das ganze Weltall und auf alle Menschen auf dem Erdboden. Deshalb lesen wir auch in 2. Petrus 2,1 von „falschen Lehrern, welche Sekten des Verderbens neben einführen werden und den Gebieter verleugnen, der sie erkauft hat.“ Der Apostel sagt nicht: „der sie erlöst hat.“ Der Mensch Christus Jesus hat durch seinen Gehorsam bis in den Tod des Kreuzes und durch die Vollbringung des Ihm von dem Vater aufgetragenen Werkes alles erkauft. Er erlöst aber nach den Ratschlüssen Gottes. „Gleichwie du ihm Gewalt gegeben hast über alles Fleisch, auf dass alles, was du Ihm gegeben, Er ihnen ewiges Leben gebe“ (Joh 17,2).