Botschafter des Heils in Christo 1884
Die Gegenwart des Herrn in der Versammlung
Unser Herr und Heiland hat uns für die Zeit seiner Abwesenheit die köstliche Verheißung hinterlassen: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich in ihrer Mitte“ (Mt 18,20). In diesen Worten hat Er seine Gegenwart ohne Vorbehalt verheißen; und zwar ist diese Verheißung unterschieden von den Verheißungen, die Er in Johannes 14 gegeben und erfüllt hat: nämlich die Sendung des „anderen Sachwalters“, des Geistes der Wahrheit, um bis ans Ende bei den Seinen zu sein, ferner die Innewohnung des Heiligen Geistes und das Wohnen Christi selbst in unseren Herzen.
Die angeführte Stelle enthält eine besondere Verheißung von unendlichem Wert und unerschütterlicher Sicherheit (Mt 18,20). In seiner Gnade hat der Herr jetzt viele auf Grund dieser herrlichen Verheißung zusammengeführt, um seine Gegenwart in ihrer Mitte zu genießen, nachdem in den verflossenen Jahrhunderten diese Verheißung fast ganz vergessen oder wenigstens ihre Verwirklichung vernachlässigt worden war. Sie bildet die Grundlage unseres Zusammenkommens auf dem in 2. Timotheus 2 göttlich gelegten Grund: „Ein jeglicher, der den Namen des Herrn nennt, stehe ab von der Ungerechtigkeit ... strebe aber nach Gerechtigkeit, Glauben, Liebe, Frieden, mit denen, die den Herrn anrufen aus reinem Herzen.“ Das ist die göttliche Losung für die Heiligen während der Zeit, dass sie die Rückkehr Christi erwarten.
In einer solchen Versammlung verheißt der Herr seine Gegenwart. Diese Verheißung ist also geknüpft an die Ausübung des Gemeinschaftslebens seiner Erlösten, wodurch sie ein Zeugnis sein sollen inmitten dieser Welt und des gegenwärtigen bösen Zeitlaufs. Wir sehen deutlich in 1. Korinther 14,23–25, dass es die Absicht des Herrn ist, dass seine Gegenwart in der Versammlung sich offenbare; selbst ein Ungläubiger sollte erkennen können, dass Gott unter den versammelten Korinthern war. Wie überaus wichtig ist es daher, dass wir keinen Augenblick aus dem Auge verlieren, worin die Kraft unseres Zeugnisses besteht, nämlich in der Tatsache, dass der Herr unter uns ist.
Ferner knüpft der Herr seine Verheißung an die Ausübung der Zucht in der Mitte der Seinen. Wir lesen in den Versen, welche der angeführten Stelle vorhergehen, die Worte: „Wahrlich, ich sage euch: Was irgend ihr auf der Erde binden weidet, wird im Himmel gebunden sein; und was irgend ihr auf der Erde lösen werdet, wird im Himmel gelöst sein. Wiederum sage ich euch: dass, wenn zwei von euch werden einstimmig sein auf der Erde über irgendeine Sache, um welche sie bitten, diese ihnen werden wird von meinem Vater, der in den Himmeln ist. Denn wo zwei oder drei versammele sind in meinem Namen, da bin ich in ihrer Mitte“ (Mt 18,18–20).
Der Herr spricht hier von gemeinsamen Handlungen, von gemeinschaftlichen Beschlüssen, wodurch die Seinen, wenn sie versammelt sind, etwas binden oder lösen. Aber ich frage: Worauf beruht die Wichtigkeit des gefassten Beschlusses oder der gemeinschaftlichen Bitten? Beruht sie auf der großen Zahl der versammelten Heiligen? Nein, denn der Herr geht in seiner Bezeichnung einer Versammlung in seinem Namen bis auf die geringste Zahl von Personen herab, die sich überhaupt versammeln können. Beruht sie dann auf der Würde, den Fähigkeiten oder der Erkenntnis der Versammelten, seien ihrer viele oder wenige? Keineswegs. Wie wir sehen, leitet sich die ganze Wichtigkeit, die ganze Feierlichkeit der Handlung von der Gegenwart des Herrn her. Das ist überaus köstlich. Der Herr ist da, in all seiner Liebe und in all seiner Sorge um das Wohl der Seinen; das macht alles sicher. Weil Er da ist, wird nicht der Feind mit seinen Anschlägen die Oberhand haben, sondern der Herr. Er wird immer und überall das letzte Wort haben. Denken wir darüber nach, geliebte Brüder; lasst uns dies im Glauben festhalten, denn darin beruht bei jeder gefahrdrohenden Gelegenheit unsere Sicherheit und unsere Ruhe.
Viele der Unruhen und Trennungen in den Versammlungen der Heiligen lassen sich auf das allmähliche Vergessen dieser kostbaren Wahrheit von der Gegenwart des Herrn in ihrer Mitte zurückführen. Welch ein glückliches Vertrauen zu der Gegenwart des Herrn würde in jeder Zusammenkunft herrschen, und wie ganz anders würde das Verhalten der Einzelnen sein, sowohl der Redenden, als auch der Hörenden, wenn wir mit dem Auge des Glaubens den Herrn in unserer Mitte sehen würden, wie Er wirklich, obwohl unsichtbar, anwesend ist!
Aber nirgends hat das Vergessen der Gegenwart des Herrn in der Versammlung verhängnisvollere Früchte getragen, als in Fällen, wo die Versammlungen veranlasst waren. Beschlüsse zu fassen, wie diejenigen, wovon der Herr in Matthäus 18 spricht. Wie beschämend ist das Bild, welches uns oft Versammlungen dargeboten haben, welche genötigt waren, zu wichtigen Beratungen zusammen zu kommen! Wie oft hat sich da, anstatt „der Weisheit von Oben“, der Geist der Eifersucht, des Neides, des bitteren Eifers und der Zanksucht gezeigt, welche in Jakobus 3,14–15 als eine „irdische, sinnliche, teuflische Weisheit“ bezeichnet werden! Und das in der Gegenwart des Herrn, der anwesend war! Aber das Bewusstsein seiner Gegenwart war da sicherlich nicht vorhanden, denn dieses Bewusstsein bringt Gefühle der Ehrfurcht und der Demut hervor, ohne welche es unmöglich ist, über irgendeine Frage ein gesundes Urteil zu fällen.
Wenn es sich nun um die Annahme solcher Beschlüsse, welche von Versammlungen des Herrn gefasst worden sind, seitens anderer Versammlungen handelt, so bedarf es dazu der Anwendung desselben Grundsatzes. Wenn wir wissen, dass der Herr in seiner Gnade und, als Antwort auf die Erwartung seiner Heiligen, eine solche Versammlung leitet, so können wir Ihm auch völlig vertrauen hinsichtlich der Aufrechthaltung seiner Rechte und seiner Wahrheit in seiner Versammlung. Er hat gesagt: „Was irgend ihr auf der Erde binden werdet, wird im Himmel gebunden sein“, das heißt gebunden durch den Herrn. Was sollen nun die Gläubigen an anderen Orten tun? Sollen sie lösen, was der Herr soeben gebunden hat? Es geziemt sich nur für sie, zu sagen: „Amen, Herr!“ und sich hinsichtlich aller Folgen auf Ihn zu verlassen. Denn der Glaube hält fest, dass der Herr da war, und das gibt uns ein größeres Vertrauen auf die Richtigkeit der gefassten Beschlüsse, als wenn wir selbst anwesend gewesen wären, um Einwürfe zu machen oder zu urteilen.
Die Verantwortlichkeit derjenigen Versammlung, welche berufen war, eine Sache zu beurteilen oder zu entscheiden, bestand darin, es mit redlichem Herzen und aufrichtig unter dem Auge des Herrn zu tun. Unsere Verantwortlichkeit ist es, den Beschluss in Einfalt des Glaubens anzunehmen und hinsichtlich der richtigen Beurteilung der Sache auf die Weisheit und die Macht des Herrn zu rechnen, der in der Mitte der Seinen gegenwärtig war. Vergessen wir diese köstliche Tatsache der verheißenen Gegenwart des Herrn, so scheint es uns nötig, uns persönlich mit dem behandelten Gegenstand zu beschäftigen und ihn aufs Neue in Frage zu stellen, und daraus entstehen dann traurige Zustände und Verwirrung in der Versammlung. Das ist nicht mehr der Weg des Glaubens, sondern derjenige des Vertrauens auf Menschen und der fleischlichen Tätigkeit. Jeder Gläubige wird dann seinen eigenen Gesichtspunkt haben und das Bedürfnis fühlen, ihn geltend zu machen. Soviel Köpfe, so viel Sinne, und „ein jeglicher wird tun, was recht ist in seinen Augen“ (Ri 21,25). Augenscheinlich ist dies nicht der göttliche Pfad.
Aber um die Beschlüsse einer Versammlung im Vertrauen auf die Leitung des Herrn annehmen zu können, dürfen sie nicht im Widerspruch stehen mit dem anderen angeführten Grundsatz, den die Schrift als die Grundlage des Gemeinschaftslebens bezeichnet, nämlich: „Ein jeglicher, der den Namen des Herrn nennt, stehe ab von der Ungerechtigkeit“ (2. Tim 2,19). Wir dürfen überzeugt sein, dass der Herr niemals die Beschlüsse einer Versammlung von Personen durch seine Gegenwart bestätigen wird, in deren Mitte die Ungerechtigkeit die Oberhand gewonnen hat, und wo die Sünde die Beratungen beherrscht. Der „Name des Herrn“ kann nicht als Deckmantel der Ungerechtigkeit dienen. Wenn aber eine Anzahl Christen so sehr unter den Einfluss eines bösen Geistes geraten wäre, dass sie gemeinschaftlich einen der Wahrheit entgegengesetzten (ich sage: entgegengesetzten) Beschluss gefasst hätten, „was ein Gräuel Jehovas ist“ (Spr 17,15), so würde der Herr dafür sorgen, dass dieses zu seiner Zeit offenbar würde. Auch darf man nicht zweifeln, dass Er es in einer so deutlichen Weise als böse offenbaren würde, dass ein einfältiges Auge klar erkennen könnte, welche Stellung die treuen Gläubigen dazu zu nehmen hätten. In einem solchen Fall müssen wir entweder erwarten, dass die betreffende Versammlung „Buße tue“, – denn die Geduld des Herrn ist so groß, dass, wenn wir aus Mangel an Unterwürfigkeit gegen das Wort und die Leitung des Heiligen Geistes geirrt haben, Er sich noch herablässt, uns zur Buße einzuladen, bevor Er uns züchtigt (Off 2,5) – oder zu sehen, ob sie bei ihrem ungerechten Beschluss verharrt, was beweisen würde, dass der Herr sie als Versammlung verlassen hat und einen jeden seinen eignen Weg gehen lässt. Dann würde uns nichts anders übrigbleiben, als sie auch zu verlassen und sie nicht mehr als eine Versammlung Gottes anzuerkennen; denn der Charakter der Versammlung Gottes ist, „der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit“ zu sein, nicht aber die Stütze des Irrtums oder der Ungerechtigkeit. Also nicht allein der Beschluss einer solchen Versammlung wäre zu verwerfen, sondern die Versammlung selbst, weil sie durch die Überhandnahme der Ungerechtigkeit und durch ihre Verhärtung den Beweis geliefert hat, dass der Herr nicht mehr in ihrer Mitte ist.
So sind wir berufen, „abzustehen von der Ungerechtigkeit“, dagegen „Zu streben nach Gerechtigkeit, Glauben, Liebe, Frieden mit denen, die den Herrn anrufen aus reinem Herzen“ (2. Tim 2,22). Diese göttliche Hilfsquelle wird in den allerschwierigsten Umständen für den Gläubigen vorhanden sein. Wenn die Autorität der Wahrheit nicht mehr anerkannt oder gar verworfen wird, wenn jede Ermahnung oder Zurechtweisung zurückgewiesen und dadurch ein gottgemäßes Gemeinschaftsleben unmöglich gemacht wird, dann wird uns der Herr bald andere von den Seinen finden lassen, mit denen wir auf dem Weg des Gehorsams Gemeinschaft machen und den in 2. Timotheus 2,22 bezeichneten gesegneten Pfad wandeln können.
So gibt uns das Wort Gottes einfache Grundsätze, welche vermögend sind, die demütigen Gläubigen in allen Schwierigkeiten, die auf ihrem Weg entstehen mögen, zu leiten.
Es wird kaum nötig sein, auf den gegenseitigen Einfluss aufmerksam zu machen, den die Ausübung dieser Wahrheiten hervorbringt. Wird eine Versammlung in die Lage versetzt, einen Beschluss fassen zu müssen, und ist sie dann von der Überzeugung durchdrungen, dass der Herr „binden“ oder „lösen“ wird, was sie „bindet“ oder „löst“, und dass ihr Beschluss für alle Gläubige maßgebend sein wird – welch ein tiefes Gefühl der Verantwortlichkeit wird dann diese versammelten Brüder beseelen! Sollten sie sich geirrt haben, so wird die Treue der anderen Christen, die sich der Wahrheit unterwerfen, indem sie um des Herrn willen den Beschluss annehmen, ein mächtiges Mittel in der Hand Gottes sein, sie ihres Fehlers zu überführen und sie zur Buße zu leiten, und sie werden selbst in Demütigung das rückgängig machen, was sie aus Nachlässigkeit oder Anmaßung festgestellt hatten.
Unsere Verantwortlichkeit, geliebte Brüder, besteht darin, dass wir durch „den Gehorsam der Wahrheit“ gerade Bahn machen für unsere Füße und die erschlafften Hände und die gelähmten Knie aufrichten, „auf dass nicht das Lahme vom Weg abgewandt, sondern vielmehr geheilt werde“ (Heb 12,13). H. B.