Botschafter des Heils in Christo 1884
"Milch ohne Geld"
„Wohlan, ihr Durstigen, kommt zu den Wassern, und die ihr kein Geld habt, kommt, kauft und esst; ja kommt, kauft ohne Geld und ohne Kaufpreis: Wein und Milch. Warum wägt ihr Geld dar für das, was nicht Brot ist, und eure Arbeit für das, was nicht sättigt? Hört doch mir zu und esst das Gute, und lasst eure Seele sich ergötzen an Fettem! Neigt euer Ohr und kommt zu mir, hört, und eure Seele wird leben!“ (Jes 55,1-3)
Diese liebliche Stelle mit ihrer gnädigen Einladung an alle, die unbefriedigt sind und nach dem Heil ihrer Seele dürsten, verbindet sich, so erzählt Dr. W., ein englischer Arzt, mit einem kleinen Vorfall, welchen ich vor einigen Jahren erlebte und dessen Mitteilung vielleicht der einen oder anderen suchenden Seele von Nutzen sein könnte. Ich befand mich damals mit einem Freund im Norden von Irland auf einer Reise, die wir eigens zu dem Zweck der Verkündigung des Evangeliums unternommen hatten. Es war im Monat September und das Wetter äußerst schön und warm. Wir hatten versprochen, am 14. September in L. zu sein und näherten uns langsam dem Ziel unserer Reise. Am Abend des 13. kehrten wir bei einem Freund und Bruder in Christus ein, der uns mit großer Herzlichkeit aufnahm. Wir hatten jetzt die Wahl; entweder konnten wir die Stadt L. auf einem weiten Umweg mit der Eisenbahn erreichen, oder wir mussten einen Botenwagen benutzen, der direkt über die Berge nach L. fuhr. Auf den Rat unseres Gastwirts wählten wir das letztere. Nachdem wir uns mit einer genügenden Anzahl von Traktaten und Erweckungsschriften versehen hatten, traten wir am nächsten Morgen unsere Reise an. Mein Freund saß auf der einen, ich auf der anderen Seite des Wagens, und während unserer ganzen Fahrt streuten wir die kostbare Saat des Evangeliums aus. Wir ließen keinen Wandrer vorübergehen, ohne ihm einen unserer kleinen Friedensboten mit auf den Weg zu geben. Zuweilen stiegen wir auch ab, wenn der Wagen unseres Boten langsam die Hügel hinauffuhr, und benutzten die Gelegenheit, auch den im Feld arbeitenden Landleuten einen Traktat einzuhändigen oder ein kurzes Wort mit ihnen zu reden. Wir freuten uns, dass die Schriftchen überall mit Dank angenommen wurden, und ich bin überzeugt, dass an dem zukünftigen Tage noch manche Frucht dieses stillen, aber so schönen Dienstes offenbar werden wird. Möchten die Erkauften des Herrn überall nicht müde werden, die frohe Botschaft von der Liebe Gottes auch in dieser Weise zu verbreiten! Schon manches Herz ist auf diesem Weg erreicht worden, das sonst vielleicht unzugänglich geblieben wäre.
So vergingen mehrere Stunden in eifriger Tätigkeit. Allmählich begann die Sonne sehr heiß zu scheinen, und wir wurden durstig. Doch vergebens sahen wir uns nach einem Brunnen oder Bächlein um, an dessen frischem Wasser wir unseren Durst hätten löschen können. Als wir deshalb an einem kleinen Bauernhause vorbeifuhren, bat ich unseren Boten, einen Augenblick zu halten, sprang vom Wagen herab und klopfte an die Tür der ländlichen Wohnung. Diese öffnete sich gleich darauf, und eine junge Bauersfrau, ohne Zweifel die Herrin des kleinen Anwesens, schaute mich fragend an. Nachdem ich ihr „Guten Tag!“ gewünscht, fragte ich sie: „Würden Sie so freundlich sein, mir etwas Milch zu verkaufen?“
Sie zögerte einen Augenblick und erwiderte dann in bestimmtem Ton: „Nein!“ fügte aber sogleich mit freundlichem Lächeln hinzu: „Ich will Ihnen aber Milch geben“, indem sie auf das „geben“ denselben Nachdruck legte, wie vorher auf das „Nein.“
Mit diesen Worten wandte sie sich um, um die versprochene Milch zu holen. Ich konnte nicht umhin, zu meinem Freund, der inzwischen an meine Seite getreten war, zu sagen: „Nun, was meinst du dazu? Ist es nicht gerade so mit dem Evangelium? Gott schenkt sein Heil dem Sünder, aber Er verkauft es nicht.“ Einen Augenblick später erschien die Bäuerin wieder mit einem Topf kalter, süßer Milch, und nachdem wir uns durch einen herzhaften Trunk gelabt hatten, setzten wir unsere Reise fort, jedoch nicht, ohne vorher der freundlichen Geberin von Herzen gedankt und ihr einige Traktate und Schriftchen zurückgelassen zu haben. Auch sprachen wir einiges mit ihr über die große Errettung, welche Gott für den Sünder in seinem Sohn zuwege gebracht hat und jetzt einer jeden bedürftigen Seele frei und umsonst anbietet.
Seitdem habe ich manches Mal über diesen kleinen Vorfall nachgedacht, und ich betrachte ihn als eine liebliche Darstellung der Art und Weise, in welcher Gott mit Seelen handelt, die sich wirklich nach Errettung sehnen. Wir wussten nichts von der Güte und Freundlichkeit jener jungen Frau, an die wir uns wandten, und rechneten deshalb auch nicht darauf. Gerade so ist es mit dem Menschen. Völlig unbekannt mit Gott, weiß er nichts von der Gnade und Liebe seines Herzens; und obgleich der Mensch bedürftig ist und auch vielleicht sein Bedürfnis fühlt, so meint er doch, Gott etwas bringen zu müssen, ehe er von Ihm empfangen kann, was ihm fehlt. Wenn du, mein Leser, zu dieser Klasse von Personen gehörst, so bitte Gott, dass Er dir die Augen öffnen möge, um seinen Weg der Errettung zu erkennen. Seine Gnade hat diesen Weg bereitet; die Werke des Menschen konnten und können nichts dazu beitragen. Es gibt zwei Gründe, weshalb dies unmöglich ist. Zunächst ist Gott zu reich, um sein Heil zu verkaufen, und dann ist der Mensch zu arm, um es kaufen zu können. Willst du daher der Errettung teilhaftig werden, so musst du sie als eine unverdiente Gnade aus den Händen Gottes annehmen.
Der Vers, mit welchem ich obige kleine Erzählung eingeleitet habe, stellt diese Wahrheit in klarer und einfacher Weise vor. Die „Durstigen“ werden eingeladen. Befindest du dich unter der Zahl derselben? Du gehörst, wenn du anders um dein Seelenheil bekümmert bist, unzweifelhaft zu ihnen; alle deine eigene „Arbeit“, all dein eigenes Bemühen ist vergeblich, ist, wie unser Vers sagt, für das gewesen, „was nicht sättigt.“ Dein Durst kann nimmermehr dadurch gelöscht werden; denn eine bekümmerte Seele dürstet tatsächlich nach Gott und nach seinem Heil in Christus, obwohl sie es selbst vielleicht nicht weiß, noch in Wort einzukleiden versteht. Und ihr Durst dauert fort, auf welcherlei Weise sie ihn auch zu löschen versuchen mag, wie der Herr zu dem Weib zu Samaria sagt: „Jeglichen, der von diesem Wasser (aus den Quellen dieser Welt) trinkt, wird wiederum dürsten, wer irgend aber von dem Wasser trinken wird, das ich ihm geben werde, den wird nicht dürsten in Ewigkeit“ (Joh 4,13-14). Köstliche Worte! Und ferner sagt der Herr: „Wenn jemanden dürstet, der komme zu mir und trinke“ (Joh 7,37), indem Er zugleich die gesegnete Versicherung gibt: „Wer zu mir kommt, wird nie hungern, und wer an mich glaubt, wird nimmermehr dürsten ... und wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinauswerfen“ (Joh 6,35.37).
Nun, mein lieber Leser, bist du nicht eingeladen? Geben dir diese herrlichen Worte nicht den Mut, zu dem Heiland zu eilen? Bist du durstig, verlangst du nach Errettung und Vergebung deiner Sünden? Ei, so komme doch zu Ihm und trinke nach Herzenslust! Höre doch: „Wohlan, ihr Durstigen, kommt zu den Wassern!“
„Aber“, sagst du vielleicht, „wie kann ich sicher sein, dass ich gemeint bin? Vielleicht bin ich nicht durstig genug, nicht genug bekümmert um mein Seelenheil.“ Sehr wahrscheinlich bist du es nicht; niemals war jemand so bekümmert, wie er es hätte sein sollen, angesichts der schrecklichen Gefahr, in welcher jeder Mensch von Natur schwebt, und des gerechten Hasses, welchen Gott gegen den geringsten Flecken von Sünde hegt. Aber es handelt sich nicht um das Maß deines Bekümmertseins, sondern einfach um die Tatsache, dass du „durstig“ oder bekümmert bist. Wenn Du es bist, so höre das Wort des Herrn: „Ich will dem Dürstenden aus der Quelle des Wassers des Lebens geben umsonst“; und: „Wen da dürstet, der, komme; wer da will, nehme das Wasser des Lebens umsonst!“ (Off 21,6; 22,17) Welch herzerquickende Worte! „Ich will umsonst geben“, das ist es, was Gott tut. „Wer da will, nehme umsonst“; das ist es, was du tun solltest. Gott gibt; alles, was dir zu tun übrigbleibt, ist, zu nehmen, was Er gibt.
„Doch was muss ich Ihm bringen?“ fragst du. – Nichts, mein lieber Freund. Komme zu Jesu, so wie du bist. „Die, welche kein Geld haben“, sind es gerade, welche Gott einlädt. Du bist nicht imstande, Gott für das, was Er dir geben will, irgendeinen Gegenwert anzubieten; deshalb wirst du aufgefordert, zu kommen und zu kaufen „ohne Geld und ohne Kaufpreis.“ Ist das nicht ein gutes Kaufen, wenn der Verkäufer gar keinen Kaufpreis von dir fordert, wenn du nur zu nehmen brauchst? Ist das nicht ein glückseliges Rechten, wenn der Richter zu dir sagt: „Komm und lass uns rechten miteinander. Wenn deine Sünden sind wie Scharlach, wie Schnee sollen sie weiß werden; wenn sie rot sind wie Karmesin, wie Wolle sollen sie werden?“ (vgl. Jes 1,18)
Und bedenke, mit welchem Ernst Gott dich einladet! Es ist, als wollte Er dich überreden, doch unverzüglich zu kommen ohne Furcht und ohne Angst. Dreimal in einem Vers wiederholt Er seine Einladung: „Wohlan, ihr Durstigen, kommt zu den Wassern, und die ihr kein Geld habt, kommt, kauft und esst; ja kommt, kauft ohne Geld und ohne Kaufpreis: Wein und Milch.“ Mit welcher Gewalt tönt dieses kurze, aber so bedeutungsvolle Wort an das Ohr aller, welche noch ferne von Gott sind: „Kommt! kommt! kommt!“ Wer könnte eine solche Gnade von sich abweisen? Darum, mein Leser, komme, wie du bist! Komme in deinen Sünden! Komme mit deiner ganzen Schuld, mit allen deinen Bedürfnissen, mit deinem Kummer und deinem Weh, mit deiner Hilflosigkeit, deiner Armut, deinem Nichts, mit der Härte deines Herzens – mit einem Wort, komme genauso, wie du bist, komme zu Jesu, und du wirst in demselben Augenblick Segnung, Vergebung, Reinigung und Errettung empfangen.
Ja noch mehr, du wirst in den Besitz eines neuen Lebens eingeführt, denn der Herr fügt seiner Einladung noch die Worte hinzu: „Neigt euer Ohr und kommt zu mir, hört, und eure Seele wird leben.“ Dieses neue Leben ist, wie alles andere, was die Seele von Gott empfangt, eine Gabe, ein Geschenk, wie geschrieben steht: „Der Lohn der Sünde ist der Tod, die Gnadengabe Gottes aber ewiges Leben in Christus Jesus, unserem Herrn“ (Röm 6,23). Aber du kannst versichert sein, dass du nichts empfängst, wenn du auf irgendeinem anderen Weg Gott nahen willst, als auf demjenigen eines verdammungswürdigen Sünders und eines dankbaren Empfängers. Hast du nie gehört, dass der Herr Jesus gesagt hat: „Geben ist seliger denn nehmen?“ (Apg 20,35) Wenn dies so ist, wem gebührt dann der gesegnetere Platz, dir oder Gott? Ohne Zweifel Gott. Denn „ohne allen Widerspruch wird das Geringere von dem Besseren gesegnet“ (Heb 7,7). Darum, was willst du tun? Was willst du sagen? O, möchtest du mit dem Apostel Paulus ausrufen: „Gott aber sei Dank für seine unaussprechliche Gabe!“ (2. Kor 9,15)