Botschafter des Heils in Christo 1884

Wirklichkeit

Es ist ohne Zweifel eine ebenso ernste und feierliche wie gesegnete Sache, es mit Gott zu tun zu haben, Ihm nahegebracht zu sein, in dem Kindesverhältnis zu Ihm zu stehen und der Gegenstand seiner unveränderlichen Gunst zu sein. Aber es ist sehr zu befürchten, dass viele Christen sich heutigen Tages mit Freuden die Segnungen einer solchen Stellung zueignen, während sie nur ein sehr schwaches Gefühl von der Verantwortlichkeit haben, welche dieselbe mit sich bringt. Sie haben nie die Wahrheit völlig verstanden, dass Gott sich nicht spotten lässt, und dass Er in denen, welche Ihm nahen, Wirklichkeit finden muss. Er ist von solchen nicht gesucht worden um dessentwillen, was Er ist, sondern um das zu empfangen, was Er geben kann, und daher haben sie kein oder doch nur ein geringes Gefühl von der hohen Segnung seiner Gegenwart. Sie haben nie erkannt, was es heißt, mit Gott allein zu sein, sich in seiner Nähe daheim zu fühlen.

Mein Leser, weißt du, was es heißt, mit Gott allein zu sein, dich für einige Augenblicke von dem geschäftigen Treiben um dich her und von den Umständen, in denen du lebst, loszumachen, um wirklich mit Ihm allein zu sein, und zwar nicht nur in dem Bewusstsein, dass du nichts zu fürchten brauchst, sondern auch mit einem Herzen, das von beseligenden Gefühlen erfüllt und befriedigt ist, mit Gefühlen, die man nur erfahren, aber nicht in Worten ausdrücken kann? Denn die menschliche Sprache vermag das nicht wiederzugeben, was die von dem Geist belehrte Seele versteht und genießt. Dies in irgendeinem Maß zu schmecken, schließt zwei Dinge ein, die, obwohl verschieden, doch nicht voneinander zu trennen sind, nämlich: das Hervorrufen der Zuneigungen des Herzens und die Übung des Gewissens. Und diese beiden Dinge stehen stets in wechselseitiger Beziehung zu einander; ist das Eine in hohem Maß vorhanden, so ist es auch das Andere. Gibt es in dem Herzen eines Menschen wahre, innige Zuneigungen zu Gott, so wird auch sein Gewissen in tiefer und gesunder Weise geübt sein. Ein gesetzlicher Geist findet sich in einem solchen nicht; er fragt nicht: „Was soll oder muss ich tun?“ Seine Gedanken sind stets mit dem beschäftigt, was diesem Gott, der sein ganzes Herz eingenommen hat, wohlgefällig ist.

Leider gibt es manche Christen, welche nicht wünschen, unserem gepriesenen Herrn so nahe zu kommen. Der Platz des geliebten Jüngers Jesu, der sich an die Brust seines Herrn lehnte, behagt ihnen nicht. Und doch, wer könnte es leugnen, dass die größte Nähe auch die höchste Segnung bedeutet? Und dass der Geber notwendigerweise noch weit besser sein muss, als seine Gaben? Wenn schon die Gedanken und Ratschlüsse, die Wege, Werke und Handlungen Gottes so wunderbar und herrlich sind, was muss Er dann erst selbst sein, wenn Er sich der Seele in der Kostbarkeit seiner Person offenbart? Wenn die Seele einmal etwas von dem, was Er ist, erfasst hat, so kann sie nicht anders als wünschen, Ihm nahe zu sein. Es ist eine überaus gesegnete Sache, etwas zu kennen von dem Herzen Gottes, von seinem vor Grundlegung der Welt gefassten und ewig unveränderlichen Beschluss, uns zu segnen – fähig zu sein, jeden Umstand und jedes auch noch so geringfügige Begegnis nach einer Liebe zu beurteilen, die uns nie aufgeben, sondern, trotz unserer Mängel und Schwächen, alles zu unserem Besten mitwirken lassen wird.

Die Gedanken des Menschen betreffs göttlicher Segnungen beschränken sich leider nur zu oft auf irdische Dinge, während in Wirklichkeit die wahre, vollkommene Segnung darin besteht, Gott zu kennen, mit Ihm selbst bekannt und vertraut zu sein. Kennst du Ihn, mein Leser, besser als jeden irdischen Freund, so dass deine Seele sich nirgends so wohl fühlt als in seiner Gegenwart? Bist du in seiner Nähe so daheim, dass dieselbe dich mit unaussprechlicher Freude und tiefem Frieden erfüllt? Diese köstlichen Dinge sind allen denen unbekannt, welche sich auf einem Weg befinden, der dem Herrn nicht wohlgefällig ist, welche meinen, dass Worte ohne entsprechende Handlungen, dass ein Bekenntnis ohne praktische Ausübung, dass eine Fülle von Wahrheiten im Kopf ohne Wirklichkeit im Herzen dem genügen könnten, der „der Heilige und der Wahrhaftige“ ist und deshalb nichts ertragen kann, das mit der Vollkommenheit seines Wesens nicht in Übereinstimmung steht; denn je mehr seine Gegenwart verwirklicht wird, desto mehr erfährt man, wie unverträglich Er allem Bösen gegenüber ist, allem, was seiner Natur nicht entspricht.

Der Schriftabschnitt, den wir an die Spitze unseres Artikels gestellt haben, liefert uns ein ernstes Beispiel von der heiligen Regierung Gottes Personen gegenüber, die sich nicht einer groben äußeren Sünde schuldig gemacht hatten, sondern einen Charakter größerer Hingebung und Liebe zu heucheln suchten, als sie wirklich besaßen. Sie rechneten auf die Langmut und Nachsicht Gottes und meinten, Er würde ein unwahres Bekenntnis und einen Mangel an Wirklichkeit, von dem ihre Genossen nichts wussten, ebenfalls unbeachtet hingehen lassen. Sie dachten nicht daran, dass ein solches Benehmen dem, welchen sie belogen – denn Er war wirklich gegenwärtig – überaus hassenswürdig sein musste. Sie brachten nur einen Teil des aus dem Acker gelösten Geldes, indem sie fälschlich behaupteten, das Ganze zu bringen. Doch ihre Sünde wurde durch die Gegenwart Gottes sofort bloßgestellt und mit einem unmittelbaren, ernsten Gericht bestraft. Er konnte sich nicht spotten lassen. Wenn nun auch heute die Gegenwart Gottes in der Versammlung weniger verwirklicht und seine Nachsicht mehr offenbart ist, so tun wir doch wohl, uns daran zu erinnern, dass seine Natur sich nicht verändert hat; und obwohl seine Macht in den Wegen seiner Regierung sich nicht mehr in einer solch öffentlichen Weise entfalten mag, wie bei Hananias und Saphira, so kann Er doch nie die Ansprüche seiner Heiligkeit verringern, und Er wird sicherlich früher oder später seiner Heiligkeit entsprechend jede unwirkliche Handlung und jedes leere Bekenntnis mit der verdienten Strafe heimsuchen, es sei denn, dass man aufrichtig Buße tut.

Der Mangel an Wirklichkeit kann unter Umständen die Folge von Unwissenheit sein; in den meisten Fällen aber wird er durch Gleichgültigkeit und Trägheit der Seele hervorgerufen. Ach, überall da, wo keine Wirklichkeit vorhanden ist, fehlt die Antwort der Seele auf die Gnadenbeweise Gottes; alle die Segnungen, welche in so reicher Fülle über sie ausgeschüttet sind, haben jene heilige und wahrhaftige Dankbarkeit nicht hervorzubringen vermocht, deren Dasein sich stets in der aufrichtigen Frage kundgibt: Wie kann ich jetzt dem gefallen, der mich so geliebt und so Großes für mich getan hat?

Wenn die Wahrheit, die ich bekenne, keine entsprechenden Resultate in meiner Seele hervorbringt, wenn die Worte, welche ich rede, nur Worte bleiben und nie in Taten umgesetzt werden, so wird sich bald eine schnell fortschreitende Verhärtung in mir offenbaren; das Gewissen verliert immer mehr seine Empfindlichkeit, und die Liebe des Herzens nimmt zusehends ab. Die äußere Schale des Bekenntnisses mag bleiben, aber wenn andere mich besuchen, welche vielleicht weniger Einsicht, aber mehr geistliche Kraft haben als ich, weniger Erkenntnis besitzen, aber mehr Gemeinschaft mit Gott pflegen, so wird die Hohlheit und Leere in mir von ihnen in schmerzlicher Weise gefühlt werden.

Die Unwirklichkeit, wenn wir sie so nennen dürfen, ist eine der gefährlichsten und furchtbarsten Waffen in der Rüstkammer Satans. Sie verunehrt den Herrn, schwächt und erniedrigt das Zeugnis, setzt den Gläubigen dem Spott und der Verachtung der Welt aus und erweckt in jedem aufrichtigen Herzen das Gefühl des Schmerzes und der Scham, während andere sich nur zu gern hinter dem gegebenen Beispiel verstecken. Das geistliche Unterscheidungsvermögen ist bei einem solchen untreuen Christen völlig geschwächt, das Gewissen nicht mehr in gesunder Übung, der ganze Mensch geistlich gelähmt und unfähig gemacht, sich in irgendeiner Frage, die sich in Verbindung mit den Interessen des Herrn erheben mag, ein richtiges Urteil zu bilden. – Hüte dich, mein Leser, vor jeder Unwirklichkeit!

Wie schon oben bemerkt, gibt es manche Seelen, deren Mangel an Wirklichkeit nicht in ihrer Untreue, sondern in ihrer Unkenntnis und Unwissenheit seine Ursache hat. Ein solcher Zustand ist bei weitem nicht so schlimm, als der vorhin beschriebene. Es genügt sehr oft, solche Seelen auf die Punkte aufmerksam zu machen, in welchen sie fehlen, um sie zu veranlassen, fortan anders zu handeln.

viele aber können in einer so freien und fließenden Weise über ihre „gesegnete Hoffnung“, ihr „himmlisches Bürgerrecht“ und über Christus, als den einzigen Gegenstand ihres Herzens, reden, dass es die Zuhörer höchst verwundern muss, wie es möglich ist, dass eine so große Verschiedenheit zwischen ihren Worten und ihren Werken und Wegen bestehen kann. Andere wieder rühmen sich, auf „dem einzig richtigen Boden“ Zu stehen, alle Parteien verlassen zu haben und zu Christus hinausgegangen zu sein „außerhalb des Lagers“, während in Wahrheit das, was sie getan haben, einzig und allein darin besteht, dass sie Christus als das Banner bekennen, um welches sie sich scharen und um dessentwillen sie sich von den Parteien getrennt haben. In allen anderen Beziehungen werden seine Ansprüche wenig oder gar nicht beachtet, und kommt einmal eine Zeit der Prüfung, so wird Ihm auch das verweigert, was Ihm als Haupt des Leibes gebührt.

In welcher Form sich indes der Mangel an Wirklichkeit in der Seele auch offenbaren mag, verschieden, wie er sein kann im Blick auf seine Ausdehnung und unmittelbare Ursache, so wird man doch stets finden, dass seine eigentliche Quelle darin zu suchen ist, dass es nicht die Gewohnheit der Seele war, mit Gott zu wandeln, alles in das Licht seiner Gegenwart zu bringen und auch über die geringfügigsten Dinge des täglichen Lebens seine Gedanken zu erforschen zu suchen. Ohne Zweifel wird derjenige, welcher dieses tut, zu leiden haben, aber auf der anderen Seite wird er mehr als entschädigt werden durch den Beifall, den seine Wege von Seiten des Herrn finden.

Wenn Gott uns in seine Nähe bringt, so kann es nur den Zweck haben, uns zu segnen, und zwar in einer Weise, die seiner selbst würdig ist; und alle, welche anerkennen, wie reichlich Er uns für die Ewigkeit gesegnet hat, werden sicherlich nicht zu behaupten wagen, dass Er weniger fähig und bereit sei, uns schon in dieser Zeit zu segnen. Aber diese Segnung kann uns nur auf dem von Ihm bestimmten Wege zu teil werden, und dieser Weg ist immer vollkommen. Manche wünschen, dass ihnen die Segnung auf dem von ihnen eingeschlagenen Wege zufließe, aber sie wünschen und hoffen vergeblich. Gott aber wird in seiner unergründlichen Gnade und Huld stets Gegenstände suchen und auch finden, auf welche Er die ganze Liebe seines Herzens und die ganze Fülle seines Segens ausströmen lassen kann.

Hat Er einen solchen Gegenstand auch in dir gefunden, mein Leser? Ist es der bestimmte Vorsatz und feste Entschluss deines Herzens, mit Ihm zu wandeln und Ihm allein und in allen Dingen Ihm wohl zu gefallen? „Henoch wandelte mit Gott; und er war nicht mehr, denn Gott nahm ihn hinweg“; und „vor seiner Entrückung hat er das Zeugnis gehabt, dass er Gott Wohlgefallen habe“ (1. Mo 5,24; Heb 11,5).

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