Botschafter des Heils in Christo 1884
Kain und Abel
Zwischen den äußeren Charakteren und Umständen Kains und Abels gab es keinen nennenswerten Unterschied. Beide standen unter dem Gericht der Verbannung aus der Gegenwart Gottes. Beide hatten eine ehrliche Hantierung, die sie, wie es scheint, mit Fleiß und Eifer betrieben. Beide kamen auch, um anzubeten, und Kain brachte das, was ihn am meisten kostete, das, was er erarbeitet hatte. Gott hatte dem Menschen geboten, den Erdboden zu bauen, und Kain war ein Ackerbauer. Soweit war alles in Ordnung, und es war auch richtig für ihn, ein Opfer zu bringen. Der Unterschied zwischen den beiden Brüdern bestand in diesen Dingen durchaus nicht. Auch in seinem äußeren Charakter unterschied sich Kain nicht von Abel; wir hören von nichts Verkehrtem bis zu dem Augenblick, da er seinen Bruder erschlug. Was war es nun, das ihn nicht wohlgefällig vor Gott erscheinen ließ? Sein Herz hatte kein Gefühl davon, dass er aus dem Paradies vertrieben war, weil er es verdiente. Wahrscheinlich war es ihm noch nie zum Bewusstsein gekommen, dass die Sünde den Menschen aus der Nähe Gottes verbannt hatte, und dass sie zwischen ihm und dem heiligen Gott stand. Er glaubte, einfach vor Gott hintreten zu können, als wenn nichts geschehen und mit ihm alles in Ordnung sei.
Genau dasselbe tun die Menschen auch heutigen Tages noch. Sie sind aus der Gegenwart und Gunst Gottes vertrieben, aber sie gehen in ihren Beschäftigungen voran, bauen den Erdboden, treiben Handel und dergleichen, und wenn die Zeit kommt, treten sie vor Gott hin, um anzubeten. Sie tun, als wenn es gar nichts zwischen Gott und ihnen zu ordnen gebe. Doch was würde ein Vater fühlen, wenn sein Kind heute ungehorsam gegen ihn wäre und morgen zu ihm käme, als wenn gar nichts geschehen sei, und erwartete, von ihm aufgenommen zu werden, wie früher? Und so gerademachen es die Menschen mit Gott. O, mein lieber, unbekehrter Leser, bedenke doch, dass du aus dem Paradies, aus der Gegenwart Gottes vertrieben bist! Glaubst du, als solcher kommen und anbeten zu können, wie wenn nichts vorgefallen wäre? Glaubst du, in den Himmel eingehen zu können in einem Zustand, der nicht um das geringste besser ist, als derjenige Adams war, als er aus dem Paradies ausgewiesen wurde? Wenn du wirklich in den Himmel eingehen könntest, so würdest du ihn nur verunreinigen. Aber in Wahrheit willst du auch gar nicht in den Himmel eingehen, sondern möchtest dir vielmehr einen eigenen Himmel hier auf Erden machen.
Abel war, was seine Stellung und seine Natur betraf, um nichts besser als Kain; aber es gab dennoch einen großen Unterschied zwischen den Brüdern. Abel erkannte völlig an, dass er ein Sünder und gerechterweise von Gott getrennt war, und er erlangte das Zeugnis, dass er gerecht war. „Durch Glauben brachte er Gott ein vorzüglicheres Opfer dar als Kain usw“ (Heb 11). Alan hatte vielleicht in einem natürlichen Sinne sagen können, dass er sich im Blick auf seinen Beruf in einer weniger richtigen Stellung befunden habe, als Kain; denn Gott hatte den Menschen nicht dazu bestimmt, Schafherden zu halten, sondern den Erdboden zu bauen. Aber Abel brachte ein Opfer von der Herde ein blutiges Schlachtopfer. Er hatte ein Bewusstsein davon, dass er außerhalb des Paradieses stand, ja mehr als das, er hatte das Bewusstsein, um der Sünde willen ausgetrieben zu sein. Er fühlte, dass er ein Sünder war. Er hatte das Bewusstsein, dass er mit Gott und Gott mit ihm gebrochen habe, und er kannte Ihn als den, der zu rein von Augen ist, um das Böse zu sehen. Er erkannte an, dass Gott vollkommen gerecht gehandelt hatte, als Er Adam aus dem Paradies vertrieb, und dass Er ungerecht handeln würde, wenn Er ihn wieder einlassen wollte. Er erkannte an, dass der Tod über ihm schwebte als eine Folge des gerechten Gerichts Gottes.
Diese Dinge hatten eine solche Wirklichkeit für seine Seele, dass er überzeugt war, es würde eine freche Anmaßung seinerseits gewesen sein, wenn er zu Gott hätte gehen wollen, als wenn gar nichts vorgefallen wäre. Zugleich aber war er durch den Geist Gottes unterwiesen, dass etwas nötig war zwischen ihm und Gott, und dass dieses „Etwas“ vorhanden war. Ein blutiges Opfer war der einzige Weg, auf welchem er Gott nahen konnte. Gott sagt gleichsam: „Ich kann die Sünde nicht ansehen, aber es gibt etwas, das ich ansehen kann, nämlich ein Opfer für die Sünde, und dieses vollkommene Sündopfer ist mein eingeborener, geliebter Sohn.“ Der Glaube, welcher in Abel wirksam war, erfasste dieses, und er dachte nicht daran, Gott auf einem anderen Wege nahen zu wollen. „Daselbst werde ich mit dir zusammenkommen“, sagte Gott zu Mose, nachdem Er ihm die Einrichtung des Allerheiligsten beschrieben hatte. Doch was stand an dem Eingang der Stiftshütte? Der Brandopferaltar, auf welchem das Sündopfer verbrannt wurde. Hierin ruht der Glaube, als dem einzigen Wege, auf welchem eine Annäherung zu Gott möglich ist.
Nur diese Tür gibt es, durch welche man eingehen kann, und nur das Opfer Christi ist es, durch welches die Heiligkeit Gottes völlig aufrechterhalten und zugleich seine Liebe in der vollkommensten Weise erwiesen worden ist. So wie ich zuerst meine Sünden vor den Augen Gottes ans Licht gestellt sehe, so muss ich sie auch vor diesen Augen hinweggetan sehen. Und was finde ich vor dem Angesicht Gottes? Ein vollkommenes Sündopfer. An dem Kreuz Christ: ist die Frage zwischen Gut und Böse entschieden worden. Sein Opfer hat eine vollkommene Annahme gefunden. Er hat den ganzen Zorn Gottes wider die Sünde getragen und hinweggetan. Er rief aus auf dem Kreuz: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!“ In Ihm fand sich ein vollkommener Gehorsam bis in den Tod des Kreuzes und eine vollkommene Liebe. Er war ein vollkommenes Sündopfer, und jetzt sitzt Er zur rechten Hand des Vaters. „Jetzt ist der Sohn des Menschen verherrlicht, und Gott ist verherrlicht in Ihm.“ Seine Opferung für die Sünde hat die Frage der Sünde für immer geordnet. Er hat im Blick auf meine Sünde und für meine Sünde Frieden gemacht; und hat Er es nur teilweise getan? Würde das Gott ähnlich sein? Nein; sein Werk war vollkommen. „Nachdem Er durch sich selbst die Reinigung der Sünden gemacht, hat Er sich gesetzt zur Rechten der Majestät in der Höhe“ (Heb 1,3). Wenn ich das erkenne und verstehe, so kann ich nicht Gott nahen, so wie ich bin, wie Kain es tat; und doch muss ich zu Ihm, wenn ich anders Glück und Segen finden will. Was ist nun zu tun? Gott sei Dank! Er hat sich selbst ein Brandopfer ersehen, und Er nimmt dasselbe gleichsam als eine Gabe aus unserer Hand an. Es ist Gottes eigenes vollkommenes Werk, Er hat die Frage der Sünde geordnet in Christus, und ich kann jetzt in den Folgen seines Werkes ruhen. Das ist Glaube. Wir nahen jetzt Gott durch Christus, und wir opfern auf diese Weise gleichsam Christus. In Ihm gibt uns Gott einen vollkommenen Ruheplatz. Der überführte Sünder kann nicht zu Christus kommen, ohne die Entdeckung zu machen, dass seine Sünden für immer hinweggetan sind. In Ihm findet er das vollkommene Sünd– und Brandopfer, und sobald er mit diesem Opfer Gott naht, kann er in seiner Gegenwart ruhig und glücklich sein, trotzdem er seine Heiligkeit völlig kennt.
„Abel erlangte Zeugnis, dass er gerecht war, indem Gott Zeugnis gab zu seinen Gaben.“ Er hatte nicht nur das Zeugnis, dass sein Opfer vollkommen, sondern dass er selbst gerecht war. Und nicht nur war er gerecht, sondern er hatte auch das Zeugnis davon, und das gab ihm Frieden. Die Auferweckung und Erhöhung des Herrn, sowie die Tatsache, dass Gott dem Sünder die frohe Botschaft verkündigen lässt, ist sein Zeugnis von der Annehmlichkeit und der Annahme Christi. Bringt der Sünder das Lamm Gottes in seinen Händen, so gibt Gott Zeugnis zu dieser Gabe und nimmt ihn auf nach dem ganzen Wert, den dieses Lamm in seinen Augen hat.