Botschafter des Heils in Christo 1883
"Eins weiß ich"
In einer Zeit, wie die gegenwärtige, wo es so viel Bekenntnis, aber so wenig wahres Leben aus Gott gibt, tun wir wohl, uns ernstlich zu prüfen, ob wir es als eine göttliche Wirklichkeit kennen, ob wir wissen, dass wir „aus dem Tod in das Leben hinübergegangen sind“ (Joh 5,24). In den so genannten christlichen Ländern, in welchen wir leben, bekennen die meisten, Sünder zu sein, ja die meisten behaupten selbst, an Christus zu glauben. Aber ach! Wie wenig weiß das Herz oft von dem Bekenntnis des Mundes! Im 9. Kapitel des Evangeliums Johannes lesen wir von einem Mann, der blind war von Geburt an – ein treues, treffendes Bild von jedem Menschen von Natur. Er ist blind von seiner Geburt an, und er bedarf ebenso sehr der Öffnung seiner Augen in Bezug auf göttliche Dinge, wie der arme Blindgeborene in dem genannten Kapitel es hinsichtlich der irdischen bedurfte.
Sind deine Augen geöffnet worden, mein lieber Leser? Sage nicht: Ich weiß es nicht. Jener Mann wusste sehr wohl, was mit ihm geschehen war. Der Herr Jesus kam in diese Welt herab, um „den Gefangenen Befreiung zu verkündigen und den Blinden das Gesicht, in Freiheit hinzusenden die Zerschlagenen, zu verkündigen das Jahr der Annahme des Herrn“ (Lk 4,18). „Und als Er vorüberging, sah Er einen Menschen, blind von Geburt“ (V 1). Konnte Er in seiner Gnade und Güte gefühllos an dem Armen vorübergehen? Konnte der, dessen Herz so manches Mal innerlich bewegt wurde von göttlichem Mitgefühl und Erbarmen, sein Auge verschließen vor dem Elend des unglücklichen Blindgeborenen? Unmöglich. Indes war es nicht nur die äußere Not des blinden Bettlers, die seine Hilfe erforderte. Der Herr las auch in dem Herzen des armen Mannes und sah dort höhere Bedürfnisse. Er war eines jener in der Irre gehenden Schafe, welches die Stimme des guten Hirten hören sollte, das alles dessen bedurfte, was Jesus war und was Er tun konnte. Und um diese Bedürfnisse zu befriedigen, war Jesus gekommen. Er kam, zu suchen und zu erretten, was verloren war.
„Jesus Christus ist derselbe gestern und heute und in Ewigkeit“ (Heb 13,8). Er hat sich nicht verändert und wird sich nimmermehr verändern. Ein jeder bußfertige Sünder kann heute mit derselben Gewissheit auf seine Gnade und Liebe und auf seine Bereitwilligkeit, allen Bedürfnissen zu begegnen, rechnen, wie damals, als Er hienieden wandelte und die Not aller derer stillte, welche zu Ihm kamen. Jesus allein konnte dem Blinden das Gesicht geben, und Er allein kann dem Sünder in seinem verlorenen, verdorbenen Zustand begegnen und ihn von dem ewigen Verderben erretten.
Jesus salbt die Augen des Blinden und sendet ihn zum Teich Siloah, um sich zu waschen. Dieser tut, wie ihm geheißen worden, in einfältigem Vertrauen auf das Wort dessen, der ihn gesandt hat, und empfängt unmittelbare Hilfe. Er kommt sehend zurück. Um Hilfe von Jesu zu empfangen, muss der Sünder mit Jesu in Berührung kommen; aber sobald dies geschieht, ist ein unmittelbarer Segen unausbleiblich. Das Weib in Markus 5, „das viel erlitten hatte von vielen Ärzten und alle ihre Habe verwendet und keinen Nutzen davon gehabt hatte“ – vielmehr war es immer schlimmer mit ihr geworden – hört nicht nur von Jesu, sondern sie kommt zu Jesu und rührt Ihn an, und siehe da, sogleich vertrocknet der Quell ihres Blutes, und sie erkannte, wie der Mann in Johannes 9, dass sie von ihrer Plage geheilt war. Möchtest du deshalb, mein lieber Leser, wenn es noch nicht geschehen ist, zu Jesu kommen und erkennen, was es heißt, mit dem zusammen zu treffen, der danach verlangt, dich zu segnen! „Glaube an den Herrn Jesus, und du wirst errettet werden“ (Apg 16,31).
Die Veränderung in dem Blindgeborenen war so offenbar, dass jedermann sie erkennen konnte Ist es auch so mit uns, die wir den Herrn kennen und aus der Finsternis und Blindheit, in der wir gefangen lagen, in sein wunderbares Licht versetzt worden sind? Wir können uns darin erfreuen, dass Er „unsere Sünde an seinem Leib auf das Holz getragen“ (1. Pet 2,24), dass Gott alle unsere Übertretungen und Ungerechtigkeiten auf Ihn gelegt hat (Jes 53,6), dass alle unsere Sünden vergeben sind und nie mehr in das Gedächtnis vor Gott kommen sollen (Kol 2,13; Heb 10,17), dass wir zu Gott geführt (1. Pet 3,18) und begnadigt sind „in dem Geliebten“ (Eph 1,6). Aber ist unser Leben auch so dem Herrn gewidmet, dass alle unsere Freunde und Bekannten, ja dass jedermann erkennen kann, dass wir mit Jesu zusammengetroffen sind? Erkennen alle, dass wir mit Jesu sind (Apg 4,13)? Prüfen wir uns ernstlich darüber in der Gegenwart Gottes.
Jener Mann hatte nicht nur Segen von dem Herrn empfangen, sondern Er gab auch Zeugnis von demselben und von Jesu. Allerdings hatte er gar keine Klarheit über die Person des Herrn, aber nach der geringen Erkenntnis, die er besaß, bekannte er Christus. Die Veränderung war, wie gesagt, so auffällig und wunderbar, dass sie von allen erkannt wurde, die ihn früher gesehen hatten, ehe seine Augen geöffnet wurden. Die Nachbarn begannen, darüber zu reden und zu streiten; das Geschehene war so unbegreiflich und unglaublich, dass einige daran zweifelten, ob er wirklich derselbe sei, der als Bettler am Weg gesessen hatte. Doch er versichert sie, dass er der sei, welcher früher blind war und jetzt sieht. Man bringt ihn zu den Pharisäern, und hier legt er wiederholt dasselbe Zeugnis ab. Doch die Pharisäer können und wollen seinen Worten nicht glauben, aus Hass und Feindschaft gegen die gesegnete Person dessen, der das Wunder getan hat. Ja sie nennen den heiligen, fleckenlosen Sohn Gottes einen „Sünder“, so wie sie im vorhergehenden Kapitel von Ihm gesagt hatten, er sei ein Samariter und habe einen Teufel (V 48). So ist der Mensch, und zwar der Mensch unter den größten Segnungen und Vorrechten.
Ist es nicht ein hohes Vorrecht, in einem christlichen Land zu wohnen? Und doch, wie wenige wissen, trotz der Vorrechte, deren man sich so gerne rühmt, was es heißt, für ewig errettet zu sein durch das kostbare Blut Jesu Christi, das da reinigt von aller Sünde (1. Joh 1,7)! Und wie wenige selbst von dieser kleinen Zahl bekennen Christus treu und einfältig in ihrem Wort und Wandel!
Bist du errettet, mein Leser? Oder lass mich anders fragen: Verurteilst du, wieso mancher, diejenigen, welche sagen, dass sie errettet seien? Und wenn du es tust, welchen Grund hast du dazu? Der Errettete hat nichts zu seiner Rettung beigetragen. Für ihn ist jeder Ruhm ausgeschlossen (Röm 3,27). Er ist errettet aus Gnade, und nicht aus Werken (Eph 2,8). Warum willst du ihn deshalb verurteilen? Hüte dich, es zu tun; denn er ist Christus und dem Herzen des Vaters überaus kostbar. Lass dich vielmehr warnen, „dem kommenden Zorn zu entfliehen“ (Mt 3,7). Indem du diejenigen verurteilst, welche durch die Gnade sagen können: „Wir sind errettet“, verurteilst du Christus, und Gottes Wort sagt, dass jedes Knie sich vor Ihm beugen und jede Zunge bekennen soll, „dass Jesus Christus Herr ist, zur Verherrlichung Gottes, des Vaters“ (Phil 2,10–11).
Doch der Blindgeborene sollte nicht nur das Werk Christi, sondern auch seine gesegnete Person kennen lernen. Viele Gläubige kennen das Wert Christi, welches ihre Sünden hinweggetan und sie für die Gegenwart eines heiligen Gottes passend gemacht hat; aber ist das der Platz, wo Gott will, dass wir Halt machen sollen? Nein, sicherlich nicht! Das ist nur der Anfang. Das Wort Gottes offenbart uns nicht nur ein gesegnetes, kostbares Werk, sondern auch eine wirkliche, lebende, anbetungswürdige Person – einen, der nicht nur für den Sünder gestorben ist und ihn kraft seines vollbrachten Werkes zu retten wünscht, sondern der zur Rechten Gottes lebt für den Gläubigen.
In unserem Kapitel finden wir beides, das Werk und die Person Christi. Als der Blindgeborene zum ersten Male gefragt wurde, wie seine Augen aufgetan worden seien, antwortete er: „Ein Mensch, genannt Jesus, machte Kot und salbte meine Augen usw“ (V 10–11). Ja, Er war wirklich ein Mensch – „der Mensch Christus Jesus.“ Aber der Glaube erkennt weit mehr als das. Er empfängt immer mehr Licht. Auf die Frage der Pharisäer: „Du, was sagst du von Ihm, dass Er deine Augen aufgetan hat?“ antwortet der Geheilte: „Er ist ein Prophet“ (V 17). Schon hat er eine tiefere Offenbarung von der Person Jesu, von Ihm selbst, empfangen. Ein Prophet bedeutet nicht ausschließlich einen Menschen, der zukünftige Dinge vorhersagt. So hören wir z. B. das Weib in Johannes 4 sagen: „Herr, ich sehe, dass du ein Prophet bist.“ Was brachte diese Überzeugung in ihr hervor? Die einfache Tatsache, dass sie sich in das Licht Gottes, in seine Gegenwart, gestellt sah. So ist es auch hier in unserem Kapitel. Der Blindgeborene erkannte die mächtige Wirksamkeit Gottes, und diese Erkenntnis ließ ihn denen, die Ihn nicht kannten, jene gesegnete Antwort geben: „Er ist ein Prophet.“
Als man ihn nachher zum zweiten Male rufen lässt, tritt er wieder mit derselben Freimütigkeit und Einfalt des Glaubens den ungläubigen Fragern entgegen; es ist ihm unbegreiflich, dass diejenigen, welche als die Führer des Volkes betrachtet wurden, nicht einmal wussten, woher dieser Jesus war. Und doch hatte Er ihm die Augen aufgetan. Es ist herzerquickend, aus dem Mund dieses Mannes die einfältige und doch so schlagende Beweisführung des Glaubens zu vernehmen. „Wir wissen“, sagt er, „dass Gott Sünder nicht hört, sondern wenn jemand gottesfürchtig ist und seinen Willen tut, den hört Er. Von Ewigkeit ist es nicht erhört, dass jemand die Augen eines Blindgeborenen aufgetan hat. Wenn dieser nicht von Gott wäre, so könnte Er nichts tun“ (V 31–33). Welch eine Belehrung für die Lehrer des Volkes! Sie greifen zu dem letzten Mittel, welches der arme, törichte Mensch der überwältigenden Macht der Wahrheit gegenüber kennt – sie werden böse und werfen den unerschrockenen Bekenner Christi zur Synagoge hinaus.
Jesus hört, dass sie ihn hinausgeworfen hatten, und geht ihm nach. O wie köstlich ist es, zu wissen, dass nicht nur das Herz und die mächtige Hand Jesu uns gehören, sondern dass auch sein Auge und Ohr stets für die Bedürfnisse der Seinen geöffnet sind! Welch eine Ermutigung für den geprüften, vielleicht von allen verlassenen Jünger des Herrn! Ja, Er kennt die Seinen, und – Er ist gekannt von den Seinen. Als Jesus den Hinausgestoßenen fand, fragte Er ihn: „Glaubst du an den Sohn Gottes?“ – „Wer ist es, Herr, auf dass ich an Ihn glaube?“ – „Du hast Ihn gesehen, und der mit dir redet, der ist es.“ Und sogleich fällt er vor Ihm nieder und huldigt Ihm. Verstoßen von den Menschen, ja von den religiösen Menschen dieser Welt, findet er Jesus und lernt Ihn kennen als den Sohn Gottes. Mit Freuden teilt er den Platz der Verwerfung mit dem, der so Großes an Ihm getan.
Welch eine Veränderung ist mit diesem Mann vorgegangen! Im Anfang unseres Kapitels in Lumpen, ein Bettler, blind, nichts besitzend für Zeit und Ewigkeit – jetzt zu den Füßen Jesu, ein glücklicher Anbeter, mit sehenden Augen, ein völliges Wunder für seine ganze Umgebung, obwohl hinausgestoßen aus dem religiösen System des Menschen. Aber mochten sie ihn hinausgeworfen haben – er hatte unendlich weit mehr gefunden, als er verloren hatte. Und er wusste, was er jetzt besaß. „Eins weiß ich, dass ich blind war und jetzt sehe.“ Mein lieber Leser, weiht du dasselbe für dich? Wenn es so ist, so danke Gott und suche, für Christus zu leben. Wenn nicht, so eile noch heute zu Jesu, der allein imstande ist, dir Gewissheit zu geben!