Botschafter des Heils in Christo 1883
Das Gebet des Herrn - Teil 1/2
Welches ist die Bedeutung des Gebets des Herrn und auf welche Personen ist es anzuwenden? Ist sein Gebrauch auf die Zeit des Wirkens Jesu auf Erden zu beschränken, oder auch auf die Zeit nach seinem Tod und auf die Gegenwart auszudehnen? – das sind Fragen, welche oft gestellt werden, und deren Beantwortung schon mancher aufrichtigen Seele Schwierigkeit gemacht hat. Unter des Herrn Hilfe wollen wir versuchen, sie in dem Nachfolgenden seiner Wahrheit und seinen Gedanken entsprechend zu beantworten.
Zunächst sind es nur zwei Evangelisten, Matthäus und Lukas, welche das Gebet des Herrn, und zwar in verschiedener Form, erwähnen. Beide Formen sind ohne Zweifel von gleicher, d. h. göttlicher Autorität, und wenn Lukas zwei Bitten auslässt, so hat dies nicht etwa seinen Grund darin, dass ihm dieselben entfallen seien und sein Gedächtnis ihn betrogen habe, sondern die Auslassung steht in enger Verbindung mit dem Gegenstand, der vor seinem Geist, oder vielmehr vor dem Geist dessen stand, der ihn inspirierte. Das Evangelium nach Matthäus stellt uns den Herrn in seinem Charakter als der Messias, der Sohn Davids vor, der in der Mitte seines Volkes erschienen war, um alle die Verheißungen des Alten Testaments zu erfüllen. Der Herr redet deshalb dort als Jehova – Messias, der nicht gekommen ist, um die Satzungen seines Knechtes Mose und die Gebote des Gesetzes aufzulösen, sondern um in seiner Autorität als Herr ein neues, himmlisches Licht über dieselben zu verbreiten und umso den Weg für andere weit höhere Dinge zu bereiten. Deshalb begegnen wir zu wiederholten Malen den Worten: „Ihr habt gehört, dass gesagt ist: ... ich aber sage euch usw.“ In Übereinstimmung damit wird auch in Matthäus das Gebet in direkten Gegensatz gebracht zu der jüdischen oder pharisäischen Sucht, von den Leuten gesehen zu werden, und zu ihrem Mangel an wahrer Frömmigkeit, und der Strom der erhabenen Sprache desselben wird nicht unterbrochen.
In dem Evangelium nach Lukas tritt der Charakter Jesu als des Sohnes des Menschen, als dessen, der gekommen ist, um dem Zustand und den Bedürfnissen des Menschen nicht (allein des Juden) zu begegnen, mehr in den Vordergrund. Die erzählten Ereignisse und Gleichnisse stehen damit in lieblicher Übereinstimmung. Wir finden in Lukas die Geschichte der großen Sünderin, das Gleichnis von dem barmherzigen Samariter und dem verlorenen Sohn, die Geschichte von dem reichen Mann und dem armen Lazarus, von Zachäus dem Oberzöllner usw. In dem ganzen Evangelium tritt uns das anbetungswürdige Verlangen des Herzens Gottes entgegen, die im Judentum aufgerichteten engen Schranken zu durchbrechen und die Ströme seiner Liebe überallhin ausfließen zu lassen, wo die Sünde Not und Elend angerichtet hatte. Deshalb steht hier das Gebet des Herrn auch nicht im Gegensatz zu der selbstgerechten und prahlerischen Anbetung der Pharisäer, sondern ist vielmehr eins der Elemente, welche zum geistlichen Leben notwendig sind. In keinem Evangelium wird uns so oft erzählt, dass der Herr betete, als gerade in Lukas, und dies ist wieder in Übereinstimmung mit dem ganzen Charakter des Herrn in diesem Teil der Schrift. Er ist der Sohn des Menschen, der in völliger Abhängigkeit von Gott, dem Vater, durch diese Welt pilgert und nötig hat – ich sage dies mit tiefer Ehrerbietung, denn es ist ein Beweis von der Vollkommenheit Jesu als Mensch – von Gott gestärkt und erquickt zu werden. Am Ende des 10. Kapitels sehen wir Maria zu den Füßen Jesu, um aus seinem Mund Worte des ewigen Lebens zu vernehmen. Sie hat das gute Teil, Ihn selbst, das lebendige Wort, erwählt. Doch außer dem Wort Gottes haben wir ein anderes Element nötig. Wir sind durch dieses Wort wiedergezeugt und werden durch dasselbe belehrt, ernährt und gereinigt. Doch trotzdem bedürfen wir als abhängige, schwache Menschen hienieden noch etwas anderes und das ist das Gebet. Das Gebet ist das praktische Mittel, uns in der Gegenwart Gottes zu erhalten und das Wort nutzenbringend und heiligend für uns zu machen. Und so finden wir in Lukas das Gebet des Herrn als eine Antwort auf das Bedürfnis der Jünger. Sie bitten Ihn: „Herr lehre uns beten, wie auch Johannes seine Jünger lehrte.“ Die Auslassung der dritten Bitte: „Dein Wille geschehe, wie im Himmel also auch auf der Erde!“ ist ein weiterer Beweis für die Wahrheit unserer Behauptung, dass wir in Lukas auf ganz anderem Boden stehen, als in Matthäus. Für einen Israeliten war jene Bitte völlig passend. Für ihn bleibt es stets ein richtiger Wunsch, dass der Wille Gottes auf Erden geschehe, wie im Himmel. Aber was wusste ein armer Heide von den gerechten Erwartungen Israels bezüglich der Erde.
Doch es würde uns zu weit führen, wollten wir den Unterschied zwischen den beiden Formen des Gebets noch länger verfolgen. Kehren wir deshalb zu der umfassenderen Form, wie sie uns von Matthäus gegeben wird, zurück, um an der Hand der Worte des Herrn unsere erste Frage: „Welches ist die Bedeutung des Gebets des Herrn, und auf welche Personen ist es anzuwenden?“ Zu beantworten.
Der erste wichtige Punkt, auf welchen ich die Aufmerksamkeit des Lesers richten möchte, ist die Übereinstimmung des Gebets mit dem Platz, den es einnimmt, und mit dem Zweck, welchen der Herr verfolgte. Es findet sich bekanntlich in der so genannten Bergpredigt, in welcher der Herr sich an seine jüdischen Jünger wendet, um sie aus ihren bisherigen Gedanken, Gefühlen und Wegen in die neuen Grundsätze des Reiches der Himmel, das Er aufzurichten im Begriff stand, einzuführen. Wir müssen dies durchaus festhalten, wenn wir anders die Bedeutung und den Zweck des Gebets verstehen wollen. Es ist nicht bestimmt für das ganze Menschengeschlecht ohne Unterschied (Dies geht auch deutlich aus dem Evangelium nach Lukas hervor, wo wir lesen: „Und es geschah, als Er an einem gewissen Orte betete, da Er aufgehört, sprach einer seiner Jünger zu Ihm: Herr, lehre uns beten.“). Es drückt nicht den Zustand, die Bedürfnisse und Gefühle eines jeden Menschen aus, der ein gewisses Verlangen nach Gott oder eine gewisse Furcht vor dem kommenden Zorn hat. Der Zöllner, der sich im tiefen Bewusstsein seiner Schuld und seiner Unwürdigkeit Gott naht, wagt nicht einmal, seine Augen aufzuheben, geschweige denn zu sagen: „Vater“, oder: „Unser Vater, der du bist in den Himmeln.“ Er denkt nicht im Entferntesten daran, die erhabenen Bitten auszusprechen, mit welchen das Gebet des Herrn beginnt, noch hat er den Mut, an das Erbarmen Gottes zu denken und an seine Bereitwilligkeit, dem Sünder zu vergeben, wie wir sie in der letzten Hälfte des Gebets ausgedrückt finden. „O Gott, sei mir, dem Sünder, gnädig!“ das war der richtige und passende Schrei, der aus seinem zermalmten Herzen hervordrang. Und deshalb ging er gerechtfertigt hinab in sein Haus, mehr denn jener Pharisäer, der in seinem Gebet nur seiner Eigengerechtigkeit Ausdruck gab und Gott für das dankte, was er und nicht was Gott war.
Wenn wir nun fragen: Wie können wir wissen, für wen das Gebet des Herrn bestimmt war? So gibt es zwei Wege, auf welchen wir zu einer richtigen Antwort kommen können. Zunächst haben wir zu untersuchen, welche Personen der Herr im Auge hatte und in welcher Verbindung das Gebet vorkommt, und dann müssen wir die Natur der Bitten, getrennt und im Ganzen betrachten, und wir werden finden, dass dieselben mit den wahren Bedürfnissen derer, für welche das Gebet bestimmt war, in völliger Harmonie standen.
Es ist offenbar, dass eine große Menschenmenge der Bergpredigt zuhörte, aber ebenso klar geht aus dem Anfang des fünften Kapitels hervor, dass der Herr seine Worte nicht unmittelbar an die Menge richtete. Er hatte seine Jünger vor sich, und für ihre Bedürfnisse trug Er, Sorge, als solche, die sich noch immer unter dem Gesetz befanden. „Als Er aber die Volksmenge sah, stieg Er auf den Berg; und als Er sich gesetzt hatte, traten seine Jünger zu Ihm. Und Er tat seinen Mund auf, lehrte sie und sprach: Glückselig die Armen im Geist usw.“ Die Jünger bildeten eine Klasse von Personen, die (mit Ausnahme von Judas) Jesus in Wahrheit als den von Gott gesandten Messias angenommen hatten. Er hatte sie auserwählt; sie waren um Ihn versammelt, als seine Zeugen, und schon damals in gewisser Beziehung – wenn auch nach seinem Tod und seiner Auferstehung, in der Kraft des vom Himmel gesandten Heiligen Geistes, unendlich weit mehr – von dem übrigen Volk getrennt. An sie wandte sich der Herr in seiner Predigt, und sie waren auch die Personen, an welche Er in seinem Gebet dachte.
Obwohl daher die Predigt aus einer bewunderungswürdigen Darstellung der Grundsätze des Reiches besteht und große und kostbare Wahrheiten verkündigt, welche stets bleiben werden, so übersah der Herr in seiner Gnade doch nicht die damaligen tatsächlichen Umstände seiner Jünger. Im Gegenteil sind viele einzelne Stellen ihrer vollen Bedeutung nach auf ihre Bedürfnisse anzuwenden und ihrem Zustand angepasst. Und der Herr sorgte nicht nur für sie als der, welcher infolge seiner göttlichen Allwissenheit alles kannte, sondern der als Mensch, geboren von einem Weib, geboren unter Gesetz, aus Erfahrung wusste, was sie am meisten bedurften und wo ihre wahren Gefahren lagen. Denn, obwohl Er Sohn war, lernte Er an dem, was Er litt, den Gehorsam (Heb 5,8). Der Gehorsam war eine ganz neue Sache für Ihn; nicht als ob Er eine rebellische, widerspenstige Natur besessen hätte, wie wir – o nein, denn Er war der Reine, der Heilige, Er war Gott selbst – sondern weil Er das Wort war, welches alle Dinge, die sichtbaren und die unsichtbaren ins Dasein gerufen hatte. Deshalb musste Er Gehorsam lernen, denn Er hatte in diesem Sinn nie zu gehorchen brauchen, und Er lernte ihn auf einem Pfad voller Leiden, wie sie niemand außer Ihm kennen konnte. Was war nun sein erster, letzter und beständiger Gedanke, während Er durch diese Welt pilgerte und in vollkommener Gnade seinen Dienst ausübte? Es war der Name seines Vaters, wie Er an einer Stelle sagt: „Der lebendige Vater hat mich gesandt, und ich lebe des Vaters wegen.“ Er war gekommen, um den Namen des Vaters zu offenbaren, und in Übereinstimmung damit stellt Er die Gefühle seines eignen Herzens als den ersten und vorherrschenden Gedanken seiner Jünger in ihrer Unterredung mit dem Vater dar. Einige der Bitten, welche Er in ihren Mund legen wollte, waren nur für sie passend, wie z. B. diejenige bezüglich der Vergebung ihrer Sünden; aber Er wollte, dass sie mit ihrem Vater, nicht mit sich selbst beginnen sollten.
Dem entsprechend teilt sich das Gebet naturgemäß, in zwei Hälften. Der erste Teil besteht aus Wünschen, die der Gerechtigkeit in ihrem weitesten und höchsten Sinne angemessen sind; es ist, wenn wir so sagen dürfen, die Atmosphäre, in welcher der Herr selbst hienieden lebte und sich bewegte. Der Zweite Teil setzt sich aus Bitten zusammen, passend für solche, welche in jeder Beziehung bedürftig, trotzdem aber die Gegenstände der Gnade waren. Die drei ersten Bitten bilden den einen, die vier letzten den anderen Teil.
Der Titel, mit welchem Gott im Beginn des Gebets angeredet wird, steht im völligen Einklang mit dem Evangelium und der damaligen Stellung der Jünger: „Unser Vater, der du bist in den Himmeln.“ Es ist dies ein Ausdruck, der häufig in dem Evangelium Matthäus, und zwar hier allein, vorkommt. In dem Evangelium Lukas heißt es einfach: „Vater.“ Woher kommt dieser Unterschied? Wie schon oben angedeutet, werden die Jünger bei Matthäus mehr in ihrer Verbindung mit dem irdischen Volk betrachtet; als solche waren sie gewöhnt, auf die Erde zu blicken, als den Schauplatz, auf welchem ihr Volk die verheißene Erhebung und Segnung zu erwarten hatte. Der Herr aber ist beschäftigt, ihre rein jüdischen Bande zu lösen, indem Er ihnen einen himmlischen Vater offenbart, mit welchem sie es fernerhin zu tun haben würden. Es ist hier nicht „der Herr der ganzen Erde“, der den Jordan zu einer Heerstraße für sein siegreiches Volk machte, so dass es trocknen Fußes hindurchziehen und das Land in Besitz nehmen konnte; noch ist es „der Gott des Himmels“, der in unumschränkter Macht und nach seinem höchsten Willen den Nationen in der Person Nebukadnezars, die Herrschaft übergab, nachdem sein Volk in der traurigsten Weise gefehlt hatte. Aber ebenso wenig findet sich hier die Fülle des Segens, welche die Botschaft enthielt, die durch Maria Magdalena von Seiten des auferstandenen Herrn den Jüngern gebracht wurde: „Gehe aber hin zu meinen Brüdern und sprich zu ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und zu eurem Vater, und zu meinem Gott und zu eurem Gott.“
Die Anrede trägt, wenn ich so sagen darf, einen Zwischencharakter. Sie geht über die rein jüdische Stellung hinaus, erreicht aber nicht die Höhe der christlichen. Der Vater wird betrachtet, als im Himmel befindlich, und diejenigen, welche zu Ihm emporblicken, sind auf der Erde, gleichsam weit von Ihm entfernt und in einem Zustand der Schwachheit, des Bedürfnisses und der Gefahr, obgleich mit Herzen, die in einem gewissen Maße sich nach seiner Verherrlichung sehnen. 1 Der Herr wünscht ihren ersten Gedanken auf den Vater droben zu richten und ihren Geist damit vertraut zu machen, auf Ihn zu blicken, als den unendlich gesegneten und gnädigen und zugleich höchsten Gott. In jenem Augenblick war das Gefühl und Bewusstsein der Nähe, welche späterhin ihr Vorrecht sein sollte, unmöglich. Nichtsdestoweniger behandelt sie der Herr als wahre Gläubige aus den Juden und leitet ihre Seelen, indem Er die Autorität des Gesetzes aufrecht hält und seinen Bereich ausdehnt, zu höheren Dingen.
Allein wir suchen vergebens nach einer Anspielung auf das Erlösungswerk, sowohl in dem Gebet, als auch in der ganzen Bergpredigt. Diejenigen, welche der Herr zu beten lehrt, werden durchaus nicht als Anbeter betrachtet, die, einmal gereinigt, kein Gewissen mehr von Sünden haben. Sie waren so weit davon entfernt, einen solchen Platz der Annahme zu kennen und zu genießen, dass sie damals eine solche Sprache gar nicht verstanden haben würden. Es findet sich hier keine Spur von einer Danksagung dem Vater gegenüber, „der uns fähig gemacht hat zu dem Anteil des Erbes der Heiligen in dem Licht, der uns errettet hat aus der Gewalt der Finsternis und versetzt in das Reich des Sohnes seiner Liebe“ (Kol 1,12–13). Alles dieses und noch vieles andere konnte damals nicht gesagt werden, weil das Werk der Erlösung wohl verheißen, aber noch nicht vollbracht war. Dies verleiht dem ganzen Gebet seinen besonderen Charakter. Gott übereilt nichts in seinen Wegen. Die Gläubigen konnten nicht eher die Resultate des Leidens Christi und der Sendung des Heiligen Geistes kennen und genießen, bis diese beiden glorreichen Tatsachen erfüllt waren. Nicht dass ich dem Gebet des Herrn oder seiner Predigt eine Unvollkommenheit unterschieben wollte – Gott bewahre mich vor einem solchen Gedanken! Ich betrachte im. Gegenteil einen jeden, der von dem Einen oder Anderen in verächtlicher Weise redet, als einen Lästerer.
Der Herr begegnet den Jüngern auf dem Boden, welchen sie damals einnahmen. Hätte Er ihnen die Wahrheiten mitgeteilt, welche erst offenbart wurden, nachdem Er gestorben und der Heilige Geist herniedergekommen war, so würde ihnen seine Sprache völlig unverständlich geblieben sein. Das Gebet war durchaus passend für ihren damaligen Zustand und deshalb vollkommen. Ein Gebet, welches der Stellung, der Erfahrung und Anbetung entsprochen hätte, die einer vollendeten Erlösung angemessen sind, würde für sie nicht das vollkommene Gebet gewesen sein.
Nehmen wir als Beispiel einen Majestätsverbrecher, der im Gefängnis sitzt, und für den eine Bittschrift aufgesetzt und an den König geschickt wird. Wenn dieselbe richtig abgefasst ist, so werden wenigstens zwei Dinge sie kennzeichnen. Zunächst wird sie eine völlige Anerkennung der beleidigten Majestät und dann ein demütiges, umfassendes Bekenntnis der Schuld des Gefangenen enthalten. Denn das ist die einzig passende Sprache unter solchen Umständen. Der Gefangene mag Grund haben, zu hoffen, dass seine Bittschrift in den Augen des Königs Gnade finden werde. Aber diese Hoffnung gründet sich nicht auf eine Unkenntnis der tatsächlichen Umstände, sondern vielmehr auf sein freimütiges Bekenntnis und auf die Gnade des Königs. Die Sprache eines freien Mannes zu führen, würde ihm nicht geziemen.
Der Zustand derer, die sich unter dem Gesetz befanden, war der Hauptsache nach demjenigen jenes Gefangenen gleich, bis die vollbrachte Versöhnung alles änderte. Sie besaßen Vertrauen auf Gott, dass Er sie retten würde, und mit Recht; denn dieses Vertrauen gründete sich auf eine gläubige Würdigung des Charakters Gottes und auf seine bestimmten Verheißungen, trotzdem die Israeliten wussten, was sie selbst waren. Er hatte ihnen wieder und wieder, durch Wort und Eid, in Vorbildern und Prophezeiungen, ankündigen lassen, dass Er durch den Messias die Befreiung aller vollführen würde, die ihr Vertrauen auf Ihn setzten. Dennoch waren sie noch nicht in Freiheit gesetzt, so gewiss sie sein mochten, dass es geschehen würde, weil dies von seiner Güte und Treue abhing; und „Gott ist nicht ein Mensch, dass Er lüge.“ Aber bis dahin war es nur eine Sache des Begehrens, nicht des Besitzes, ein ersehntes und erbetenes Vorrecht; es konnte nicht eher von ihnen als ein beständiges Teil empfangen und genossen werden, bis der Tod und die Auferstehung Christi es zu einer Forderung der Gerechtigkeit Gottes machten, so mit dem Gläubigen zu handeln.
In den Psalmen finden wir den Ausdruck der Gefühle und Erfahrungen des gläubigen Israeliten. Zuweilen sind die Sprecher voll von Hoffnung, dann wieder voll von Furcht; in dem einen Augenblick bekennen sie, Schafe der Weide Gottes zu sein, und im nächsten sind sie bange, von der Glut seines Zornes verzehrt zu werden. Alles dieses war die Erfahrung der Gläubigen, bevor das Kreuz Christi es dem Heiligen Geist möglich machte, der Seele von dem vollkommenen und ewigen Hinwegtun der Sünden Zeugnis zu geben. Es war gut und von Gott, dass jene Gläubige ihren Zustand fühlten, aber es war nicht die Erfahrung, welche der von dem Heiligen Geist unterwiesene Christ macht. Und in jenem Zustand befanden sich die Jünger vor dem Tod des Herrn ebenfalls. Viele Propheten und Könige hatten begehrt, zu sehen, was sie sahen, und zu hören, was sie hörten; aber dennoch war die Versöhnung mit allen ihren herrlichen Folgen noch eine zukünftige Segnung; ihre Blicke waren auf dieselbe hingerichtet, aber sie war noch nicht vollbracht. Das Gebet des Herrn nun war der vollkommene Ausdruck ihrer Wünsche und Bedürfnisse, bevor jener mächtige Wechsel eintrat. Ich mache wiederholt hierauf aufmerksam, da es zu einem klaren Verständnis des Gebets des Herrn vor allem nötig ist, die Stellung derer zu erkennen, welchen es ursprünglich gegeben wurde. Stets wird es missverstanden werden, wenn man den neuen Boden nicht in Betracht zieht, auf welchen der Gläubige durch die vollbrachte Erlösung gestellt ist.
Beachtenswert ist es auch, dass das Gebet der Ausdruck persönlicher Bedürfnisse ist. Ich meine nicht, dass die Jünger es nicht gemeinsam so gut wie einzeln gebraucht haben mögen, allein nirgendwo setzt es Christen voraus, die zu einem Leib gebildet sind. Ein Gebet für die Kirche oder Versammlung, als solche, ist es daher nicht; denn nie geht es über den Begriff einer Gemeinschaft von einzelnen Gläubigen hinaus, nirgendwo berücksichtigt es das einigende Band des Geistes, welcher zu einem Leib tauft. Dies wird noch deutlicher ans Licht treten, wenn wir, so kurz als möglich, einen Blick auf die einzelnen Teile werfen.
„Geheiligt werde dein Name“, ist die Grundlage von allem, das erste und stärkste Gefühl eines erneuerten Gemütes. Hervorfließend aus dem Bewusstsein der Heiligkeit, welche dem Namen des Vaters angemessen und für jede Seele, die mit Ihm zu tun hat, sowie für sein Haus auf ewig geziemend ist, schließt sich sogleich der Wunsch nach der Herrlichkeit daran, in welcher alles dem Herzen und Charakter des Vaters entsprechen wird.
„Dein Reich komme!“ Es ist hier nicht gerade das Reich Christi, sondern dasjenige des Vaters. Wir werden finden, wenn wir das Evangelium Matthäus sorgfältig lesen, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem Reich des Vaters und demjenigen des Sohnes des Menschen. Am Ende des gegenwärtigen Zeitalters wird der Herr die Welt als sein Reich übernehmen und es durch seine richterliche Macht, früher oder später, von allem Bösen reinigen (vgl. Kap 13,41–43). Das Reich des Vaters trägt mehr einen himmlischen Charakter; in denselben werden nur die Gerechten leuchten wie die Sonne.
Doch es genügt dem Herzen nicht, dass des Vaters Wille nur im Himmel geschehe. Deshalb lautet die dritte Bitte: „Dein Wille geschehe, wie im Himmel, also auch auf der Erde.“ Hiermit schlicht der erste Teil des Gebets. Es folgt dann das, was für die Jünger, als die Gegenstände des göttlichen Mitgefühls, inmitten eines Schauplatzes des Elends und der mannigfaltigsten Versuchungen, passend war. Zunächst wird ihr leibliches Bedürfnis bekannt, dann dasjenige der Seele. „Unser nötiges Brot gib uns heute, und vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unseren Schuldnern.“ Die erste Bitte bedarf keiner Erklärung, die Zweite stellt die Jünger auf den Boden des barmherzigen Geistes, welcher am Schluss des fünften Kapitels ihnen so nachdrücklich von dem Herrn vorgehalten worden war. Es sollte nicht länger heißen: „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, nicht länger sollte Böses mit Bösem vergolten werden, sondern es galt jetzt, nur Gutes und allezeit Gutes zu tun. Das vollkommene Muster für die Jünger war ihr himmlischer Vater, nicht nur Gott als Gott. In diesem letzteren Charakter hat Gott von Zeit zu Zeit sein Gericht über die Bösen ausgeübt und sie seinen starken Arm fühlen lassen, und Er wird dies am Ende in vollkommener, gerechter Weise tun. Als Vater im Himmel aber lässt Er seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte (Es handelt sich hier nicht um seine innigen und ewigen Beziehungen zu seinen Kindern; diese genießen seine Liebe in ihrer ganzen überströmenden Fülle). So belehrt denn der Herr auch seine Jünger dieselbe vergebende Liebe anderen gegenüber zu offenbaren, und zwar im Bewusstsein ihres eigenen Bedürfnisses derselben. Israel als Volk war verantwortlich gewesen, nach dem Gesetz zu wandeln, und der Charakter des Gesetzes war nicht Gnade und Barmherzigkeit, sondern es erforderte ein gerechtes Gericht über den Schuldigen. Aber jetzt sollte in den Jüngern ein anderer Grundsatz herrschen, nicht derjenige einer irdischen, vergeltenden Gerechtigkeit, sondern einer himmlischen Gnade, welche die Macht hat, den Sünder umzuwandeln und seine Schuld zu vergeben. Die gläubigen Juden wurden so aus ihrer alten Stellung herausgenommen und auf einen ganz neuen Boden versetzt, wo sie es mit einem Vater im Himmel zu tun hatten und verantwortlich waren, seinen Charakter hienieden wieder zu spiegeln.
Wieder tun wir wohl, uns daran zu erinnern, welche Personen es waren, die der Herr belehrte, so mit ihrem Vater zu reden. Es waren Jünger, welchen auf diese Weise die beständige Notwendigkeit der Abhängigkeit von dem Vater, sowie des Bekenntnisses ihrer Schuld gezeigt wurde. Nichtsdestoweniger wird der Vater gebeten, die Schuld seiner Kinder zu vergeben; es handelt sich hier nicht im Geringsten um einen armen Sünder, der über seine Sünden in Not ist und Christus nicht kennt. Die Schrift hat an vielen anderen Stellen Vorsorge für einen solchen getroffen, aber hier stehen ganz andere Personen in Frage. Macht Gott in irgendeiner Weise oder in irgendeinem Maß die Vergebung der Sünden eines Unbekehrten von der Vergebung, die dieser seinem Mitmenschen zu Teil werden lässt, abhängig? Ganz gewiss nicht. Das hieße in der Tat, an einen Menschen, der sich in dem niedrigsten Zustand befindet, die höchstmögliche Anforderung stellen; es hieße, dem Sünder ein neues und weit verhängnisvolleres Gesetz auflegen, als das vom Berg Sinai war. Mit einem Wort, es würde das Evangelium leugnen, jede Hoffnung des Sünders zerstören und die Errettung von Werken und nicht mehr von der Gnade abhängig machen.
Diese Bitte, welche von Unwissenden oft angeführt wird, um zu beweisen, dass die Menschen ohne Unterschied hier gemeint seien, zeigt also gerade, wie völlig unmöglich es ist, das Gebet des Herrn auf den Menschen von Natur anzuwenden. Es setzt eine lebendige Verbindung mit Gott durch den Glauben voraus. Diejenigen, zu welchen der Herr redete, kannten allerdings weder die Versöhnung, noch die neuen Rechte, welche die Erfüllung derselben herbeiführen sollte; aber sie besaßen einen lebendigen Glauben an den Herrn Jesus – es waren Personen, die sicher in den Himmel gegangen wären, wenn Gott sie damals abgerufen hätte. Sie standen insoweit auf demselben Boden, wie die alttestamentlichen Heiligen; sie wurden, wie jene, von Gott mit Nachsicht getragen, kraft eines noch nicht vollendeten, aber sicheren Werkes; sie waren in den Gedanken Gottes errettet, weil Er auf jenes Werk hinblickte. Die Jünger besaßen das Vorrecht, den Herrn in ihrer Mitte zu haben, aber von dem gesegneten, vollkommenen Heil, welches Er durch seinen Tod und seine Auferstehung herbeiführen wollte, hatten sie nur eine höchst schwache, dunkle Vorstellung. In dieser und für diesen Zustand der Dinge wurde das Gebet des Herrn gegeben.
Weiter werden die Jünger belehrt, den Vater zu bitten, sie nicht in Versuchung zu führen. Es ist offenbar, dass es sich hier nicht um Versuchungen in dem Sinn von sündigen Begierden handelt; denn Gott versucht niemanden zum Bösen. Vielmehr sind es Prüfungen und Sichtungen, durch welche Gott die Seinen nach seiner Weisheit gehen lässt. Eine Versuchung in diesem Sinn war es, wenn Petrus auf die Probe gestellt wurde, ob er, angesichts der Schmach und Schande, seinen Herrn und Meister verleugnen würde. Der Herr hatte ihn gewarnt, aber in seinem hoben Selbstvertrauen ließ der Apostel die Warnung unbeachtet, schlief, als er hatte wachen und beten sollen, und fiel infolge dessen wiederholt in der traurigsten Weise. Es war daher ganz richtig, wenn die Jünger, im Bewusstsein ihrer Kraftlosigkeit und ihrer Geneigtheit zu fallen, den Vater baten, sie nicht in solch versuchungsreiche Umstände zu führen. Die Folge einer solchen Versuchung ist, dass da, wo es ungerichtetes Böses im Herzen gibt, dasselbe zur eignen Demütigung zum Vorschein kommt. Das im Inneren verborgen wirkende Böse wird dadurch ans Licht gebracht. Der Herr Jesus ging durch jede Art von Versuchung hindurch, zuerst in der Wüste und dann, am Ende seines Weges, in Gethsemane, wo die Macht der Finsternis Ihn aufs Äußerste bedrängte. Allein Er hatte nichts in sich, auf welches Satan hätte einwirken können, wie Er auch sagte: „Der Fürst dieser Welt kommt und hat nichts in mir.“ In uns gibt es etwas, das durch die Versuchung zum Vorschein gebracht wird, und wenn wir uns dann nicht in aller Einfalt auf den Herrn stützen, so fallen wir in Sünde gegen Ihn. Deshalb wird auch sogleich die Bitte hinzugefügt: „Sondern errette uns von dem Bösen.“ Denn die Wirkung der Versuchung ist, wie gesagt, das Offenbarwerden des Bösen, wenn das Fleisch nicht gerichtet ist, und Satan, die Quelle und der erste Anreger des Bösen, gewinnt einen Vorteil über die Seele.
Auf die Lobpreisung am Ende des Gebets: „Denn dein ist das Reich usw.“ welche sich in vielen Übersetzungen findet, brauchen wir nicht näher einzugehen, da sie in den meisten älteren Handschriften fehlt und wahrscheinlich im Lauf des vierten Jahrhunderts von Abschreibern eingefügt worden ist (Schluss folgt).
Fußnoten
- 1 Wie unendlich höher ist die Segnung, welche wir in Epheser 1,3 und 2,6 finden! Dort wird der Christ, selbst während er noch in dieser Welt ist, betrachtet als versetzt in die himmlischen Örter, auf das innigste verbunden mit dem Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus. Es ist ein unermesslicher Schritt vorwärts.