Botschafter des Heils in Christo 1883
Die eherne Schlange
Die Begebenheit, auf welche wir die Aufmerksamkeit des Lesers in dieser kurzen Betrachtung richten möchten, ist bekannt, ebenso ihre Anwendung. Dennoch aber bleibt sie stets voll von Interesse, und es ist gut, „uns immer wieder an diese Dinge zu erinnern“, obwohl wir „sie wissen“ (vgl. 2. Pet 1,12). Die Bedeutung der ehernen Schlange hat der Herr selbst in seinen denkwürdigen Worten an Nikodemus erklärt, so dass für die Einbildung und Phantasie des Menschen nicht der geringste Spielraum bleibt. „Gleichwie Moses in der Wüste die Schlange erhöhte, also muss der Sohn des Menschen erhöht werden, auf dass jeglicher, der an Ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe“ (Joh 3,14–15). Hier haben wir also die göttliche Bürgschaft, dass wir dieses treffende Vorbild auf unseren gepriesenen Herrn und Heiland anwenden dürfen. Richten wir jetzt unsere Aufmerksamkeit für einen Augenblick auf die Begebenheit selbst, wie sie uns in 4. Mose 21 mitgeteilt wird.
„Und das Volk redete wider Gott und wider Mose: Warum habt ihr uns heraufgeführt aus Ägypten, dass wir sterben in der Wüste? Denn da ist kein Brot und kein Wasser, und es ekelt unserer Seele vor dieser losen Speise“ (V 5). Welch ein Bild von dem menschlichen Herzen, von dem deinen und meinen! „Sie redeten Wider Gott!“ Das ist es, was wir stets tun, wenn wir murren und uns über unsere Umstände beklagen. Es handelte sich in dem vorliegenden Fall nur um Brot und Wasser, um Speise und Trank. Israel bildete sich ein, Gott habe sie heraufgeführt aus Ägypten, um sie sterben zu lassen, während Er sie tatsächlich von den Ziegelöfen und Fronvögten Ägyptens erlöst hatte, damit sie Ihm ein Fest feierten in der Wüste.
So war also gerade das Gegenteil von dem, was sie sagten, der Fall. Und so ist es stets. Wenn wir auf unsere verzagten, ungläubigen Herzen lauschen, so werden sie uns sicher die gröbsten Lügen vorspiegeln, Lügen in Bezug auf Gott, auf seinen Charakter, seine Natur, seine Handlungen und seine Wege. Alle Klagen über unsere Umstände sind Lügen in Bezug auf Gott. Und woher kommen sie? Von dem Vater der Lügen, von der alten Schlange, dem Teufel, von demselben, der sich in den Garten Eden schlich und unsere ersten Eltern mit ihrer Lage unzufrieden machte, der in ihnen den Glauben erweckte, dass Gott nicht gütig sei, und dass sie nicht so wohl daran wären, wie sie es sein könnten und sein sollten. Das ist von jeher seine Tätigkeit gewesen und wird es stets bleiben, solange Gott ihm zu wirken erlaubt.
Wir sollten uns stets hieran erinnern. Lasst uns nicht vergessen, dass alles Murren und Klagen tatsächlich ein Reden wider Gott ist! Es ist die Stimme der Schlange, redend durch den Mund eines Menschen. Wenn wir nicht wachsam sind, so drückt Satan zunächst den Stachel der Unzufriedenheit in unser Herz, und nicht lange nachher dringen die Laute der Unzufriedenheit über unsere Lippen. Wir reden wider Gott. Beachten wir die ernsten Folgen, welche dieses Reden für das Volk Israel hatte: „Da sandte Jehova feurige Schlangen unter das Volk, die das Volk bissen, und es starb viel Volks aus Israel“ (V 6). Das war eine tiefernste, praktische Unterweisung für ihre Herzen. Sie hatten gelauscht auf die Stimme der Schlange, und so mussten sie auch den Biss der Schlange fühlen. Es ist eine ernste, verantwortliche Sache, über unsere Umstände zu murren. Tatsächlich erheben wir dadurch Anklage gegen Gott. Wir sagen dadurch einfach, dass wir uns in seinen Händen nicht glücklich fühlen, und wenn wir da nicht glücklich sind, wohin können wir anders gebracht werden, als in die Hände der Schlange? Es gibt hier keinen so genannten neutralen Boden. Wenn wir mit der Handlungsweise Gottes mit uns nicht zufrieden sind, so muss Er uns dahingehen, damit wir die Behandlung der Schlange kennen lernen. Möchten wir alle dieses ernstlich erwägen! Es verwundet tatsächlich das Herz Gottes und überliefert uns den Händen Satans, wenn wir in einem Geist murrender Unzufriedenheit einhergehen. Wir brauchen nicht zu sagen, dass es eine schreckliche Sünde ist und notwendig zu bitteren Folgen führen muss. Lasst uns daher sorgfältig gegen diese Sünde wachen! Möchten wir in einem glücklichen, zufriedenen und dankbaren Geist, mit einem wirklich unterwürfigen Herzen einhergehen! Möchten wir allem, was uns begegnet, mit einem: „Ja, Vater, denn also war es wohlgefällig vor dir!“ begegnen. Auf diese Weise wird die Schlange überwunden und Gott verherrlicht.
Doch kehren wir zu Israel zurück. „Da kam das Volk zu Mose, und sie sprachen: Wir haben gesündigt, dass wir wider Jehova und wider dich geredet haben; bete zu Jehova, dass Er die Schlangen von uns wegnehme. Und Mose bat für das Volk“ (V 7). Jetzt nahmen sie den ihnen gebührenden Platz ein – den Platz des Bekenntnisses und des Selbstgerichts. Das ist der allein passende Platz für einen Sünder, der einzig wahre Boden, auf dem er vor Gott steht. Sie hatten geredet wider Jehova; jetzt reden sie wider sich selbst. Dies ist richtig, stets und für alle richtig. „Ich sagte: Ich will Jehova bekennen meine Übertretungen, und du wirst mir vergeben die Ungerechtigkeit meiner Sünden“ (Ps 32,5). Welch eine köstliche, unumschränkte, ewig währende Gnade! Preis und Anbetung dem, der die Quelle, der Kanal und die Kraft dieser Gnade ist – Ihm, dem Vater, Sohn und Heiligen Geist!
„Und Jehova sprach zu Mose: Mache dir eine feurige Schlange und setze sie auf eine Stange; und es soll geschehen, wer gebissen ist und sie ansieht, der wird leben. Und Mose machte eine Schlange von Erz und setzte sie auf eine Stange; und es geschah, wenn jemanden eine Schlange biss, so schaute er zu der ehernen Schlange auf und lebte“ (V 8–9). Hier wird das göttliche Heilmittel eingeführt: „eine eherne Schlange“; gerade das Bild dessen, was das Unheil herbeigeführt hatte, wird unter der Hand Gottes zu dem Mittel der Befreiung. Die feurigen Schlangen wurden nicht entfernt; nein, sie durften nach wie vor ihr schreckliches Werk tun. Aber die Gnade ersah einen Weg der Rettung, und ein jeder gebissene Israelit, der zu der ehernen Schlange aufschaute, blieb am Leben und war nachher weit besser daran, als wenn er nie gebissen worden wäre.
Allerdings musste er die Bitterkeit der Sünde schmecken; aber er wurde auch befähigt, die Köstlichkeit der Gnade zu erfahren, welche Leben aus dem Tod hervorzubringen und einen vollkommenen Sieg über die ganze Macht der Schlange zu verleihen vermochte. Denn „gleich wie die Sünde geherrscht hat im Tod, also“ – gepriesen sei Gott in alle Ewigkeit dafür! – „herrscht auch die Gnade durch Gerechtigkeit zu ewigem Leben durch Jesus Christus, unseren Herrn“ (Röm 5,21). In einer Welt der Sünde, in einer Welt der Sünder, wo die Macht der Schlange überall sichtbar ist und wo der Tod herrscht, darf daher der arme, gebissene Sünder zu dem großen Gegenbild der ehernen Schlange aufschauen – zu jenem gesegneten Heiland, der für uns auf das Kreuz erhöht, für uns zum Fluch und zur Sünde gemacht und an unserer statt zerschlagen und gerichtet wurde – und durch einen Blick, durch einen einzigen Glaubensblick auf Ihn, ewiges Leben empfangen.
Ja, mein lieber Leser, das ist das kostbare Geheimnis des Lebens und der Errettung. Alles wird empfangen durch einen einfachen Blick auf den göttlichen Gegenstand. Sobald der gebissene Israelit zu der ehernen Schlange emporschaute, war er gerettet. Er sah und lebte. Er blickte nicht auf sich selbst, nicht auf seine Wunde, sondern auf das göttliche Heilmittel. Das war die große, wichtige Sache, welche er verstehen und erfassen musste. Es wäre völlig nutzlos gewesen, auf sich selbst zu blicken. Was hätte er gesehen? Nichts anders, als ein gebissenes, verwundetes, sterbendes Geschöpf. Er hätte versuchen können, seine Wunde zu heilen, um dann, wenn sich sein Zustand gebessert, auf die eherne Schlange zu blicken; er hätte verwundert fragen können, welchen Nutzen denn ein Blick auf die eherne Schlange haben könne. Aber was hätte ihm alles das geholfen? Es wäre alles vergeblich gewesen, ganz und gar vergeblich. Es gab nur einen Weg, auf welchem das Leben zu erlangen war; aber dieser Weg war göttlich vollkommen, es war ein Blick des Glaubens auf das von Gott vorgesehene Heilmittel. Bevor dieser Blick getan war, war nichts geschehen. War er getan, so fehlte nichts mehr. In demselben Augenblick, da der Israelit zu der Schlange aufblickte, lebte er, und er konnte, ohne einen Schatten von Furcht, die feurigen Schlangen um sich her kriechen sehen; er wusste jetzt, dass ihre Macht, ihn zu verderben, verschwunden war. Ein Glaubensblick ordnete die ganze Sache.
Doch ein jeder hatte diesen Blick zu tun, und zwar ein jeder für sich selbst. Keiner konnte für den Anderen glauben, keiner durch einen Stellvertreter auf die eherne Schlange blicken. Es war eine durchaus persönliche Sache. Ein jeder Gebissene durfte den Blick tun; die Tatsache, dass er gebissen war, gab ihm das Recht dazu. Aber er musste auch aufblicken, wenn er anders Leben haben wollte. Er war einzig und allein auf das Heilmittel Gottes angewiesen; nur der Glaube konnte ihn retten. Und so wie es damals mit dem sterbenden Israeliten in der Wüste stand, so steht es heute mit jedem sterbenden Sünder. Der Sohn des Menschen ist am Stamm des Kreuzes erhöht worden, Er ist das einzige Heilmittel, welches Gott für den Menschen vorgesehen hat. Eine jede Seele, welche ihr Bedürfnis fühlt, ist willkommen; sie darf kommen und im Glauben ihren Blick auf das Kreuz richten. „Wen da dürstet, komme, und wer da will, nehme das Wasser des Lebens umsonst“, so lautet die allumfassende Einladung Gottes. Keiner ist ausgeschlossen, alle sind eingeladen und willkommen. Aber ein jeder muss glauben, oder verloren gehen. Es gibt da keinen Mittelweg, keinen neutralen Boden. Blicke und lebe – blicke oder stirb! Ein Blick genügt. In demselben Augenblick, da eine Seele in einfältigem Glauben auf Jesus blickt, geht sie ans dem Tod zum Leben hinüber – sie empfängt ein ewiges, unvergängliches Leben. „Der Sohn des Menschen muss erhöht werden, ans dass jeglicher, der an Ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe.“
Welch eine glorreiche, himmlische Zeitung! Welch eine gesegnete, köstliche Botschaft! Möchten doch vieler Ohren geöffnet werden, um zu hören, vieler Herzen, um zu verstehen, vieler Augen, um diesen einen Glaubens – und Lebensblick zu tun! Doch wie steht es mit dir, mein lieber Leser? Hast du schon die Entdeckung gemacht, dass du ein armer, verwundeter, sterbender, verdammungswürdiger Sünder bist? Hat der Geist Gottes deine Augen geöffnet und dir deinen wahren Zustand gezeigt? Bist du zu einem Bewusstsein deiner Schuld und Gefahr erwacht? Wenn es so ist, warum willst du dann nicht jetzt – in diesem Augenblick – auf Jesus blicken? Vielleicht antwortest du: „Wie soll ich denn blicken? Ich weiß gar nicht, was ich unter diesem Blicken auf Jesus verstehen soll!“ Nun, so denke dir, du hättest am ersten des nächsten Monats eine hohe Rechnung zu bezahlen, aber deine Mittel seien so völlig erschöpft, dass du nicht einen Pfennig mehr dein eigen nennen könntest. In deiner höchsten Not aber käme ein reicher Freund zu dir und sagte: „Sei unbesorgt über deine Rechnung; blicke einfach auf mich und vertraue mir: Ich werde sie bezahlen.“ Sage mir: Würdest du das verstehen?
Ohne Zweifel! Nun siehe, dieses Bild ist eine schwache Erklärung von der Bedeutung eines Blickes auf Christus. Auf Jesus blicken heißt: Ihm vertrauen, in Ihm ruhen, glauben, dass Er deine Stelle vertreten und die Ansprüche Gottes im Blick auf dich vollkommen befriedigt, dass Er deine Sünden hinweggetan, deine Schuld bezahlt und dich in seiner eignen, unendlichen Annehmlichkeit Gott nahegebracht hat. Ewiges Leben, göttliche Gerechtigkeit und ewige Herrlichkeit – alles das liegt in einem Glaubensblick auf den Christus, der an das Holz genagelt wurde und jetzt mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt ist. Möchte der Heilige Geist auch dich befähigen, diesen einen Leben– und Friedengebenden Blick noch heute zu tun!
Ehe wir jedoch diesen Abschnitt schließen, möchten wir den Leser bitten, seine Aufmerksamkeit auf den 4. Vers in 2. Könige 18 zu richten. Er wird dort die Worte finden: „Er (Hiskia) schaffte die Höhen ab und zerbrach die Säulen und rottete die Aschera aus und Zertrümmerte die eherne Schlange, die Mose gemacht hatte; denn bis zu jenen Tagen hatten die Kinder Israel ihr geräuchert, und man nannte sie Nehustan“ (eherner Götze).
So finden wir also in 4. Mose 21 die eherne Schlange als das Heilmittel Gottes, um dem Bedürfnis des Menschen zu begegnen, und in 2. Könige 18 dieselbe Schlange als einen Götzen des menschlichen Herzens, um Gott auszuschließen. Erinnert uns das nicht lebhaft daran, welche Anwendung der Mensch auch von dem Kreuz Christi gemacht hat und noch heute macht? Indem er den vergisst, der an dem Kreuz hing, betet er das Holz an, an welches Er genagelt wurde!