Botschafter des Heils in Christo 1883
Der Tod
Es gibt zwei Gesichtspunkte, von welchen aus man den Tod betrachten kann. Von Seiten der Natur betrachtet, ist der Tod höchst schrecklich; er ist der letzte Feind des Menschen, sein furchtbarster Gegner. Alles, was ich als Mensch besitze, wird der Tod mir nehmen. Reichtümer, Ehren, Würden, Vergnügungen, kurz alles, was das menschliche Herz schätzt, was das Glück des Menschen dieser Welt ausmacht und das Leben verschönert – alles muss ich dahinten lassen, wenn der Tod seine kalte Hand auf mich legt. Besäße ich auch zehnmal so viel, als Salomo in den Tagen seiner höchsten Herrlichkeit sein eigen nannte, ja, könnte ich über die Schätze des Weltalls gebieten – nichts vermöchte mich zu retten vor dem grausamen König der Schrecken, nichts auch nur für eine Minute Aufschub von ihm zu erwirken. Wenn der Tod kommt, so muss ich scheiden. Ich mag weinen und klagen, stehen und seufzen, ich mag die geschicktesten Ärzte zu Rate ziehen, die kostbarsten Arzneien einnehmen und meine treuesten Freunde an mein Lager rufen – alles, alles ist vergebens. Ich muss hinweg von allen meinen Freuden, von allen meinen Vergnügungen und Liebhabereien, hinweg von Freunden und Bekannten. Und wohin? Das ist die ernste, überaus wichtige Frage, welche früher oder später ihre Beantwortung finden muss. Es nützt nichts, diese Frage von sich abzuweisen und sie im Geräusch des täglichen Lebens zu vergessen zu suchen. Sie tritt einmal an einen jeden heran und muss dann beantwortet werden. Ja, wohin führt der Tod den natürlichen Menschen? Zum Gericht und zu einer finsteren, nie endenden Ewigkeit 1 Welch ein überwältigender Gedanke!
Doch es gibt, wie gesagt, noch eine andere Seite, von welcher aus man diese Frage betrachten kann. Hast du jemals 1. Korinther 3,22 gelesen? Dort werden die wunderbaren Reichtümer, welche der Gläubige in Christus besitzt, aufgezählt. „Alles ist euer“, sagt der Apostel, und unter diesem „allen“ nennt er auch „den Tod.“ Welch ein merkwürdiges Besitztum: „der Tod!“ „Der Tod ist euer.“ Wie ist das möglich? Wie konnte es geschehen, dass der meist gefürchtete Feind des Menschen – sein bitterster Gegner, vor dem er mit Angst zurückschreckt – ein Teil seines Eigentums wurde? Das Kreuz Christi liefert die Antwort. Christus starb für unsere Sünden, „nach den Schriften“, Er, der Gerechte, für die Ungerechten. So hat Er dem Tod seinen Stachel genommen – denn der Stachel des Todes ist die Sünde – und seinen Charakter für den Gläubigen vollkommen verändert. Er hat ihn aus einem schrecklichen Feinde zu einem Freund gemacht. Christus ist in den finsteren Strom des Todes hinabgestiegen, hat seine Fluten ausgetrocknet und ihn für die seinigen zu einem Pfad gemacht, der sie hinüberleitet in ihr herrliches Erbe, aus einer Welt der Sünde in das Reich des Lichts und der Liebe.
So ist der Tod unser. Welch ein wunderbarer Wechsel! Vom Standpunkt der Natur ans betrachtet, gehört der Mensch dem Tod, vom Standpunkt des Glaubens, der Tod dem Menschen. In der alten Schöpfung gibt es gar nichts, was der Tod uns nicht nimmt. In der neuen Schöpfung dagegen ist nichts, was der Tod uns nicht gibt. Alle unsere Segnungen und Vorrechte, ja alles, was wir als Christen besitzen, verdanken wir dem Tod. Wir haben Leben durch den Tod, Vergebung der Sünden durch den Tod, ewige Gerechtigkeit durch den Tod, ewige Herrlichkeit durch den Tod – und zwar durch den kostbaren Tod Jesu Christi.
Welch eine glorreiche Tatsache: der Tod ist unser! Sollten wir ihn noch länger fürchten? Sicherlich nicht. Sein Charakter ist so völlig für uns verändert, dass er, wenn er an uns herantritt, nur kommt, um uns den besten Dienst zu erweisen, nämlich unsere Verbindung mit alledem, was sterblich ist, zu lösen, das Band zu durchschneiden, welches uns an einen Schauplatz der Trauer und des Elends knüpft, uns zu befreien von einer Welt der Sünde und der Bosheit und uns in die köstliche Ruhe, die unaussprechlichen Segnungen der Herrlichkeit und in die ungestörte Gemeinschaft unseres Herrn und Heilands einzuführen.
Woher kommt es nun, dass die Christen sich dennoch oft so sehr vor dem Tod fürchten? Weil sie ihn von dem Standpunkt der Natur und nicht von dem des Glaubens aus betrachten. Weil sie zu viel in der Sphäre der Natur und zu wenig in jener Sphäre leben, in welche der Tod Christi sie eingeführt hat. Würden wir mehr in der Kraft des himmlischen Lebens und weniger „als Menschen“ wandeln, würden wir unsere Herzen weniger an die Dinge um uns her hängen, sondern mehr suchen, was „droben“ ist, so würden unsere Gedanken und Gefühle hinsichtlich des Todes auch ganz andere sein. Wir würden mit dem Apostel sagen können: „Ich habe Lust, abzuscheiden und bei Christus zu sein, denn es ist weit besser.“ Der Herr gebe uns Gnade, dass wir mehr über den Dingen leben, die uns umgeben, zum Preis dessen, der uns in seine lebendige Gemeinschaft berufen hat!