Botschafter des Heils in Christo 1883
Wie sollen wir die Schrift lesen?
Es ist sehr schwierig, die richtige Weise vorzuschreiben, in welcher wir die Heilige Schrift lesen und studieren sollten. Die unendlichen Tiefen des Wortes Gottes erschließen sich, gleich den unerschöpflichen Hilfsquellen, die in Gott selbst sind, und den moralischen Herrlichkeiten der Person Christi, nur dem Glauben und dem Bedürfnis. Es sind nicht hohe Verstandeskräfte und besondere Veranlagungen des Geistes, die wir bedürfen; was uns Not tut, ist die ungekünstelte Einfalt eines Kindes. Derselbe Gott, der die Schriften eingab, muss auch unseren Verstand öffnen, um ihre köstlichen Belehrungen aufnehmen zu können. Und Er wird dies tun, wenn wir nur in wirklicher Aufrichtigkeit des Herzens auf Ihn warten.
Indessen dürfen wir nie die wichtige Tatsache aus dem Auge verlieren, dass unsere Erkenntnis nur in dem Maße wachsen wird, als wir das, was wir erkannt haben, in unserem praktischen Wandel verwirklichen. Es genügt nicht, sich niederzusetzen und wie ein „Bücherwurm“ die Bibel von Anfang bis zu Ende durchzustudieren. Wir können unseren Kopf mit einer Menge biblischer Wahrheiten anfüllen und die Lehren der Bibel und den Buchstaben der Schrift auswendig kennen, ohne dadurch die geringste geistliche Kraft zu empfangen. Wir müssen an das Wort Gottes herantreten, wie ein Durstiger zu der Quelle, ein Hungriger zu dem gedeckten Tisch und ein Seemann zu seiner Karte eilt. Wir müssen zu ihm gehen, weil wir es nicht entbehren können – nicht nur, um es zu studieren, sondern um uns von ihm zu nähren. Die Triebe der göttlichen Natur führen uns naturgemäß zu dem Wort Gottes, so wie das neugeborene Kind begierig ist nach der Milch, durch welche es wachsen muss. Der neue Mensch wächst nur dadurch, dass er sich von dem Wort nährt.
Wir sehen daraus, von welch praktischer Wichtigkeit die Frage ist, wie wir die Schrift lesen sollen. Sie steht in inniger Verbindung mit unserem ganzen moralischen und geistlichen Zustand, mit unserem täglichen Wandel und unseren Gewohnheiten und Wegen. Gott hat uns sein Wort gegeben, um durch dasselbe unseren Charakter zu bilden, unser Verhalten zu leiten und unser ganzes Tun und Lassen zu regieren. Wenn daher das Wort keinen bildenden Einfluss und keine leitende Macht auf uns ausübt, so ist es die größte Torheit, eine Menge von Schriftwahrheiten in unserem Verstand aufzuhäufen. Dies kann uns nur aufblähen und irreleiten. Es ist äußerst gefährlich, von Wahrheiten zu reden und sich des Besitzes derselben zu rühmen, ohne dass Herz und Gewissen davon berührt sind; es betrübt den Geist, macht das Herz gleichgültig, das Gewissen gefühllos und ist jedem wahrhaft frommen Gemüt anstößig. Nichts ist mehr dazu angetan, uns völlig den Händen des Feindes zu überliefern, als eine ausgedehnte Kopf Kenntnis der Wahrheit ohne ein zartes Gewissen und ein aufrichtiges Herz. Gerade dieses bloße Bekennen der Wahrheit, ohne dass dieselbe auf das Gewissen Einfluss ausübt und in dem praktischen Leben zu Tage tritt, ist eine der besonderen Gefahren unserer Zeit. Weit besser ist es, nur wenig, aber dieses wenige in Wirklichkeit und Aufrichtigkeit zu wissen, als eine Menge von Wahrheiten zu bekennen, die kraft– und wirkungslos in meinem Kopf ruhen und keinen bildenden Einfluss auf mein Leben ausüben. Viel lieber will ich aufrichtig in Römer 7 sein, als nur meiner Einbildung nach in Römer 8. In dem ersten Fall bin ich sicher, dass ich zurechtkommen werde, in dem letzteren aber weiß niemand, wo ich enden mag.
Was den Gebrauch menschlicher Schriften bei dem Studium des Wortes Gottes anbetrifft, so ist große Vorsicht nötig. Ohne Zweifel kann und will der Herr die Schriften seiner Diener zu unserer Unterweisung und Auferbauung benutzen, ebenso wie Er ihren mündlichen Dienst dazu gebraucht. Ja, in dem gegenwärtigen, zertrennten Zustand der Kirche ist es wunderbar, die reiche Gnade und zarte Sorge des Herrn zu bemerken, womit Er die Schriften seiner Knechte benutzt, um seine teuer Erkauften zu nähren und zu Pflegen. Aber dennoch ist für uns große Vorsicht nötig, damit wir nicht diese schätzenswerte Gabe des Herrn missbrauchen und dahin kommen, gleichsam mit geborgtem Kapital Handel zu treiben. Wenn wir wirklich abhängig sind von Gott, so wird Er uns stets das Richtige geben – das rechte Buch und die für uns passende Nahrung.
Aber vergessen wir nicht, dass menschliche Schriften, so gut und gesegnet sie sein mögen, dennoch immer menschliche Schriften bleiben, dass der Mensch, wenn auch der begabteste und aufrichtigste, in ihnen zu uns redet. Die Heilige Schrift dagegen ist die Stimme Gottes, und das geschriebene Wort gleichsam die Kopie des lebendigen Wortes, des Sohnes Gottes. Gott selbst redet zu uns, und der Heilige Geist führt uns in sein Wort ein und offenbart uns die unergründlichen Tiefen desselben. Die Schrift ist es, die uns zurechtweist und uns unterweist in der Gerechtigkeit, dass wir „vollkommen seien zu allem guten Werke völlig geschickt.“ Sie ist die „vernünftige, unverfälschte Milch“, durch welche wir wachsen zur Errettung. Lasst uns deshalb nach ihr begierig sein, wie neugeborene Kindlein! Lasst sie uns lesen mit immer neuem Hunger, mit einem aufrichtigen, unterwürfigen Herzen, mit aller Demut und Ehrerbietung! Lassen wir uns durch das Wort richten! Möge es in Wahrheit eine Leuchte für unsere Füße und ein Licht auf unserem Weg sein!