Botschafter des Heils in Christo 1883
Zu spät!
Zu spät! Wahrlich, ein kurzes, aber ein ernstes Wort! Ein Wort, das unabweisliche Folgen in sich birgt. Mit welcher Reue und mit welchem Kummer ruft mancher dieses Wort aus, ohne, im Stande zu sein, etwas an seiner furchtbaren Wirklichkeit zu ändern! Mag er auch noch so oft verzweifelnd wiederholen: „Hätte ich doch so und so gehandelt!“ mag er die Hände ringen und unter strömenden Tränen die verlorene Zeit, den versäumten rechten Augenblick zurückwünschen – es ist zu spät, unwiderruflich zu spät!
Ein jeder hat sicher in der einen oder anderen Weise, in höherem oder geringerem Maß, in wichtigeren oder unwichtigeren Dingen die Bedeutung dieser ernsten Worte erfahren. Wenn man die Welt durchreisen und der Ursache all des Elends, das in ihr herrscht, all der Tränen, die in ihr vergossen werden, nachforschen könnte, so würde man finden, dass das meiste Elend, die meisten Tränen sich auf Versäumnis der rechten Zeit, auf Gleichgültigkeit und Leichtsinn zurückführen lassen. Der Eine erfährt die traurigen Folgen einer verwahrlosten Erziehung, der Andere betrauert das Verwerfen eines guten Rates, der Dritte bejammert ein verlorenes Leben, der Vierte die Folgen seines Eigensinns, seines Jähzorns, seiner Torheit oder was es sonst sein mag. Hier möchte einer gern sein ganzes, sauer erworbenes Vermögen darum geben, wenn er eine übereilte Tat ungeschehen machen könnte, dort wäre ein anderer bereit, zehn Jahre seines Lebens einzubüßen, wenn ihm dadurch nur noch einmal angeboten würde, was er einst leichtsinnig verschmähte. Wenn es nur möglich wäre, die verlorene Zeit noch einmal zu leben, eine vorschnelle Tat ungeschehen, ein übereiltes Wort ungesprochen zu machen – wie mancher würde mit Freude und Dankbarkeit jede Gelegenheit dazu ergreifen, kostete es, was es wollte. Aber es ist unmöglich. Wie ein nagender Wurm, der jede Freude vergällt und das Leben unerträglich macht, lebt in dem einen Herzen der Gedanke an einen unbewachten Augenblick, in dem Anderen die Erinnerung an den ersten Schritt auf der abschüssigen Bahn der Sünde, in dem Dritten das Bild einer glücklichen Zeit, die durch eigenes Verschulden verloren wurde.
Doch so oft auch das „Zu spät!“ aus dem Mund eines Menschen ertönen und so oft es beweint oder beklagt werden mag, so kommt doch eine Zeit, wo es verstummt. Einmal schließt der Tod die klagenden Lippen, das unruhige, bekümmerte Herz hört auf zu schlagen, und alle Reue, alle Gewissensbisse haben für dieses Leben ein Ende. Aber dann kommt die Ewigkeit! Und so ernst ein „Zu spät!“ für dieses Leben sein mag, so ist es doch noch weit ernster, weit schrecklicher im Blick auf die endlosen Zeitalter der Ewigkeit. Wenn es möglich wäre, für einen Augenblick den Schleier zu lüften und einen Blick hinüber in das „Jenseits“ Zu werfen, welch ein Jammergeschrei, welche Klagen über ein verlorenes, so rasch dahin geflogenes Leben würde man hören! Tausende und Millionen sehnen sich dort nach der Zeit zurück, wo ihnen das Wort der Gnade verkündigt wurde, und erinnern sich, wie Gott ihnen nachgegangen ist und sie gewarnt hat, um sie vor dem ewigen Verderben zu bewahren. Der Eine sieht die Tränen seiner Mutter, ein anderer hört die bittende Stimme seines Vaters, einem dritten klingt der gute Rat seines Freundes vorwurfsvoll in den Ohren, wieder andere werden unaufhörlich verfolgt von den lieblichen Worten Jesu: „Kommt her zu mir, alle Mühselige und Beladene, und ich will euch Ruhe geben!“ Aber es sind jetzt Worte, die ihnen nicht Ruhe, sondern Unruhe bringen. Wie viele Seufzer auch ausgestoßen und wie viele Tränen geweint werden mögen, es ist alles „zu spät!“ Schreckliches Wort! Zu spät für ewig! Der Gedanke daran erfüllt das Herz mit Schreck und Entsetzen, und doch ist es die Wahrheit. Kein Widerrufen, keine Umkehr ist dann mehr möglich. Keine Minute der Vergangenheit kehrt wieder, kein Wort der Gnade wird mehr gehört, so sehnlich es auch begehrt werden mag. Es ist zu spät, für immer und ewig zu spät!
O ihr, die ihr noch ohne Jesus ans dieser Erde wandelt, für die es noch heißt: „Siehe, jetzt ist die Zeit der Annahme, siehe, jetzt ist der Tag des Heils“, möchtet ihr doch bedenken, wie schrecklich das „zu spät!“ in der Ewigkeit klingen wird! Ihr, für die Jesus noch bereit steht, um euch mit offenen Armen zu empfangen, an welche Er das freundliche, ermunternde Wort richtet: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinauswerfen“, bedenkt es doch, wie gern manche Seele, die bereits in die Ewigkeit hinübergegangen ist, an eurer Stelle sein würde, um dann die Zeit der Gnade besser zu benutzen, als sie es getan hat! Ihr, an welche so manches Mal die Bitte gelangt ist: „Wir bitten euch an Christi statt, als ob Gott durch uns ermahnte: Lasst euch versöhnen mit Gott!“ bedenkt es, dass diese Bitte in der Ewigkeit nicht mehr gehört werden wird! Ja, ihr alle, die ihr diese Zeilen lest und Jesus noch nicht kennt, die ihr Ihn noch nicht besitzt als euren Erlöser, in dessen Blut Vergebung ist für alle Sünden, lasst dieses Wort der Warnung in eure Herzen dringen, auf dass das „Zu spät!“ nie auf euch seine Anwendung finden möge!
Denkt nicht, dass dieses: „für ewig zu spät“, im Widerspruch stehe mit der Liebe und Gnade Gottes. Wohl ist die Liebe Gottes so groß, dass Er seinen eingeborenen Sohn für Sünder in den Tod gab, wohl ist seine Gnade so überströmend, dass sie für jeden Sünder, so viel Böses er auch getan haben möge, völlig hinreicht; aber diese Liebe und Gnade hören für den Sünder auf, sobald er diese Erde verlässt. Dann ist für ihn „die Zeit der Annehmung“ Zu Ende und „der Tag des Heils“ vorüber. Und ich möchte fragen: Ist dies nicht völlig genügend? Ist dem Menschen nicht Zeit genug gelassen, sich zu bekehren? Wendet Gott nicht alle Mühe auf, um den verlorenen Sünder mit seinem Zustand bekannt zu machen und ihm die Gnade vorzuhalten? Gibt es irgendein Hindernis, das dem Sünder im Weg stände, um errettet zu werden? Ist von Seiten Gottes nicht alles geschehen, um den Menschen vor einer ewigen Verdammnis zu bewahren? Hat Er nicht Jesus gegeben, den Sohn seiner Liebe, und ladet Er nicht den Sünder ein, umsonst zu nehmen, was Er für ihn bereitet hat? Was verlangst du noch mehr? Alle, die Jesus besitzen, preisen Gott für die Geduld, die Er ihnen bewiesen, und für die Langmut, mit welcher Er sie getragen hat, anstatt zu klagen, dass die Zeit, welche ihnen zur Bekehrung gegeben worden, zu kurz war. Nein, mein lieber Leser, die Hindernisse, welche man so oft anführen hört, werden in der Ewigkeit mit keiner Silbe erwähnt werden. Die erbärmliche Ausflucht, dass man sich doch selbst nicht bekehren könne, oder dass man nicht wisse, ob man auserwählt oder nicht auserwählt sei, wird dort gewiss von niemandem vorgebracht werden; denn alle ohne Ausnahme werden dort in dem durchdringenden Licht der Gegenwart Gottes stehen und sich selbst als die Ursache ihres Verderbens anklagen müssen. Jeder Mund wird verstopft werden, und auf tausend wird der Mensch nicht eins zu antworten wissen. Wie ernst ist dieses alles! Möchte doch ein jeder, der diese Zeilen liest, sich durch die Liebe Gottes ziehen lassen, solange die Zeit der Gnade noch währt, damit nicht auch in seinem Ohr dereinst das schreckliche „Zu spät!“ wiedertöne! Möchte er eilen zu Jesu, zu dem, der gekommen ist, „zu suchen und zu erretten, was verloren ist!“
„Heute, wenn ihr seine Stimme hört, verhärtet eure Herzen nicht!“ (Heb 3,7–8)
„Wie werden wir entfliehen, wenn wir eine so große Errettung vernachlässigen?“ (Heb 2,3)