Botschafter des Heils in Christo 1883
"Ich liebe"
„Ich liebe.“ Mit diesem kurzen, aber inhaltsreichen Satz beginnt einer jener Psalmen, welche die Gefühle des treuen gläubigen Überrestes Israels nach seiner Befreiung aus der Macht seiner Feinde und aus dem Ofen der Trübsale zum Ausdruck bringen. Der ganze Psalm redet von der Gnade und Treue Jehovas im Erretten. Der Gläubige, der in den Drangsalen gewesen ist und da die Hilfe des Herrn auf sein Schreien erfahren hat, erfreut sich darin, aufzuzählen, was Jehova an ihm getan hat, und voll Lob und Dank anzuerkennen, was Er ist. Doch sehr bemerkenswert und überaus köstlich ist die Art und Weise, wie der Gläubige beginnt. Sein Herz treibt ihn, der Liebe und den Zuneigungen Ausdruck zu geben, welche ihn erfüllen. Er nennt den Gegenstand seiner Liebe nicht, ebenso wenig wie Maria am Grab, wenn sie dem Herrn antwortet: „Herr, wenn du Ihn weggetragen, so sage mir, wo du Ihn hingelegt hast, und ich werde Ihn wegholen“ (Joh 20,15). Es ist ganz selbstverständlich, wer der Gegenstand dieser Liebe ist. Wer könnte es anders sein, als der „Ausgezeichnete vor Zehntausenden“, an welchem „alles sehr köstlich“ ist?
Welch ein glückseliger Augenblick ist es, wenn zum ersten Male die wahre, göttliche Liebe ins Herz einzieht, wenn der Glaube an Jesus, den Heiland des Sünders, diese erste, lieblich duftende Blüte treibt! Seine Person und sein Werk füllen die Seele ganz und gar aus und lassen keinen Raum mehr für andere Dinge. Liebe charakterisiert den aus Gott Geborenen. Wo keine Liebe ist, da ist auch kein Leben aus Gott. In einem natürlichen Menschen kann es wohl natürliche Liebe geben, aber wahre Liebe, Liebe zu Gott, Liebe zu den Brüdern, ja Liebe zu dem, was in sich selbst vielleicht gar nicht liebenswürdig ist, kennt er nicht. „Denn die Liebe ist aus Gott; und ein jeglicher, der liebt, ist aus Gott geboren und kennt Gott“ (1. Joh 4,7). Wie kann der natürliche Mensch einen Gott lieben, den er nicht kennt? Erst wenn er erfahren hat, wer Gott ist, wenn er durch den Glauben einen Blick getan hat in die unergründlichen Tiefen seiner Liebe und Gnade, mit einem Wort, wenn er aus Gott geboren ist – erst dann liebt er „Den, der geboren hat“, und „den, der aus Ihm geboren ist.“ Seine ganze Natur ist verändert; was er früher hasste, liebt er jetzt; die Gegenwart Gottes, die er früher fürchtete und mied, ist jetzt sein liebster Aufenthaltsort geworden; diejenigen, welche er einst verspottete und deren Gesellschaft er floh, sucht er jetzt auf, freut sich mit ihnen und trauert mit ihnen. Kurz, „er liebt.“ Er hat Liebe erfahren und wünscht Liebe zu üben.
Nichts Köstlicheres gibt es für Gott, als wahre Liebe – das, was sein eigenes Wesen ausmacht – in denen tätig zu sehen, die Er für sich erkauft hat durch das Blut seines Eingeborenen. Er ist Liebe, und je mehr wir Liebe offenbaren, desto mehr kommt sein Bild, seine Natur in uns zum Vorschein. Nichts hat solchen Wert in den Augen Gottes, wie die Liebe. Glaube, Hoffnung, Ausharren, Fleiß, Erkenntnis in den Wegen Gottes, Tugend, Gottseligkeit – so schön und begehrenswert diese Dinge an und für sich sind, so reichen sie doch nicht zu der Liebe hinan. Sie ist das Höchste und Größte; Glaube und Hoffnung hören auf, die Liebe aber bleibt ewig. Darum ist auch da, wo die Liebe nicht mehr in ihrer ersten Frische vorhanden ist, das Köstlichste für das Herz des Herrn – das, was allem anderen erst seine Weihe gibt und einen duftenden Wohlgeruch verleiht – verschwunden. „Ich kenne deine Werke und deine Arbeit und dein Ausharren, und dass du die Bösen nicht ertragen kannst ... aber ich habe wider dich, dass du deine erste Liebe verlassen hast“, so klagt der Herr in dem Sendschreiben an die Versammlung zu Ephesus. Mit welcher Macht redet dieses zu unseren Herzen gerade in der jetzigen Zeit, wo inmitten vieler Arbeit und ausgedehnter Tätigkeit oft so wenig wahre Liebe und infolge dessen so wenig Duldsamkeit und Tragsamkeit und so wenig Eifer für die Ehre des Herrn gefunden wird! Was war es, das Petrus befähigte, nachdem er wiederhergestellt war, die Herde Christi zu weiden? Seine Liebe zu Christus. Darin war die Liebe zu den Schafen eingeschlossen. Er besaß das, was ihn allein befähigen konnte, seinen Auftrag Gott wohlgefällig auszuführen.
Welch ein inniges Verbundensein mit Jehova und welch ein Verständnis seiner Gedanken verrät es daher, wenn der Psalmist zuerst seiner Liebe Ausdruck gibt! Und warum liebt er? Weil er in den Tagen der größten Drangsal und der tiefsten Not die Hilfe des Herrn erfahren hat. Der Herr hat sein Schreien gehört und sein Ohr nicht vor der Stimme seines Flehens verschlossen. Das Gebot, Jehova zu lieben, erweckt, so oft es auch wiederholt werden mag, keine Liebe zu Ihm in der Seele; aber die Offenbarung seiner Gnade und Liebe erweckt Gegenliebe und ruft Zuneigungen hervor, die nie vorher gekannt wurden. Als ihn die Wehen des Todes umfingen und die Bedrängnisse Scheols fanden, da rief er an den Namen Jehovas: „O Jehova, errette meine Seele!“ (V 4) Und was war die Folge? Er kann jetzt sagen: „Gnädig ist Jehova und gerecht, und unser Gott ist barmherzig“ (V 5). Die Barmherzigkeit Jehovas sah ihn in seinem Elend, und nach seiner Gnade und Gerechtigkeit hat Er ihn errettet. Deshalb will er Ihn „anrufen in allen seinen Tagen.“ Er hat den Wert, die Macht und die Güte Gottes kennen gelernt, er hat erfahren, welch eine mächtige Stütze der Herr in der größten Drangsal ist und wie Er zu erretten vermag. Deshalb will er Ihn anrufen, solange er lebt.
Und erfährt nicht der Sünder genau dasselbe, wenn er zu einem Bewusstsein seines Zustandes vor Gott erwacht? Was steht er? Ein Leben voll Sünde und Ungerechtigkeit, einen Pfad, bedeckt mit unzähligen Übertretungen der Gebote Gottes, und dem gegenüber einen heiligen und gerechten Gott, einen Gott, der zu rein von Augen ist, um das Böse zu sehen, der Licht ist und gar keine Finsternis in Ihm, der keinen Flecken von Sünde in seiner reinen und heiligen Gegenwart dulden kann. Angst und Schrecken erfüllen seine Seele, Tod und Gericht stehen drohend vor ihm, und aus tiefster Not schreit er zu Gott: „O Gott, erbarme dich meiner! O Gott, errette meine Seele!“ Und dann erfährt er, dass Gott nicht nur Licht, sondern auch Liebe ist, dass Er nicht will den Tod des Sünders, sondern dass er sich bekehre und lebe, ja dass Freude ist im Himmel, Freude vor den Engeln Gottes, Freude in dem Herzen Gottes selbst, wenn ein Sünder, ein armes, elendes, verdammungswürdiges Geschöpf. Buhe tut. Welch eine Entdeckung! Überwältigt von einer solchen Liebe sinkt er nieder und betet an. Die Barmherzigkeit Gottes sah ihn in seinem traurigen, verdorbenen Zustand, die Liebe bereitete einen Weg, auf dem er errettet werden konnte, und ging ihm nach auf seinen eigenen bösen Pfaden, die Gnade vergab alle seine Vergehungen, und die Gerechtigkeit rechtfertigte ihn. „Gott aber, weil Er reich ist an Barmherzigkeit, wegen seiner vielen Liebe, womit Er uns geliebt, als wir in den Vergehungen tot waren, hat uns mit dem Christus lebendig gemacht, durch (Gnade seid ihr errettet) und hat uns mitauferweckt und mitsitzen lassen in den himmlischen Örtern in Christus Jesus, auf dass Er erwiese in den kommenden Zeitaltern den überschwänglichen Reichtum seiner Gnade in Güte gegen uns in Christus Jesus“ (Eph 2,4–7). Der begnadigte, errettete Sünder ist so vollkommen sichergestellt, die Gerechtigkeit Gottes so völlig befriedigt, ja alles, was in Gott ist, so vollkommen verherrlicht, dass er sich nicht nur der Gnade und Barmherzigkeit, sondern auch der Gerechtigkeit Gottes rühmen kann. Kraft des auf Golgatha geflossenen Blutes Jesu ist Gott gerecht, wenn Er den rechtfertigt, der des Glaubens an Jesus ist (vgl. Röm 3,21–26).
Eine unbeschreibliche, erquickende Ruhe erfüllt das Herz, sobald es diese Wahrheiten erkennt und von der schweren Last, die es bedrückte, befreit worden ist. Doch nur der „Einfältige“ lernt diese Ruhe kennen, nur der, welcher sich rückhaltlos dem Zeugnis Gottes über seinen Zustand unterwirft und mit kindlicher Einfalt annimmt, was Gott ihm in seiner Gnade darbietet. „Wenn ihr nicht werdet wie die Kindlein, so werdet ihr nicht in das Reich der Himmel eingehen“ (Mt 18,3). Der auf seine Vernunft und die Kräfte seines Geistes vertrauende und seinem eigenen Willen folgende Mensch kommt nicht zu Jesu und lernt deshalb nie die Ruhe kennen, die der Herr dem mühseligen, beladenen Menschenherzen umsonst anbietet und umsonst gibt. Ruhelos denkt und sinnt, forscht und grübelt er; nie aber findet er wahre Befriedigung, nie kann er sagen: Jetzt bin ich völlig zufrieden, völlig glücklich. Eine Enttäuschung folgt der Anderen. In dieser Welt gibt es keine Ruhe, gibt es nichts, was das Herz in Wirklichkeit befriedigen könnte. Nur in Jesu und in dem Glauben an Ihn ist Ruhe und in seiner Erkenntnis wahre Befriedigung zu finden.
Und so wie nur der Einfältige zu Jesu kommt, so ist es auch der Einfältige, der von Jehova auf dem rechten Wege und inmitten der Gefahren und Schwierigkeiten bewahrt wird. Denn der Einfältige, der in seinen Augen nichts ist und wohl weiß, dass es ihm an Kraft und Weisheit mangelt, blickt zu Gott empor und lässt sich von Ihm leiten. Wie schön ist eine solche Gesinnung, aber ach! wie wenig wird sie bei uns gefunden, wie schwer wird es uns oft, an ihr fest zu halten! Der Einfältige vertraut nicht auf seinen eigenen Verstand, sondern ist demütig, und Jehova bewahrt ihn. Gott ist treu, Er kann sich selber nicht verleugnen. Er ist gnädig, barmherzig und gerecht. Welch eine Zuflucht, in Gott selbst Schutz und Sicherheit zu finden! Diese Erfahrung hat auch der Überrest gemacht; er war erniedrigt, aber der Herr hat ihn errettet, denn „Jehova bewahrt die Einfältigen“ (V 6). Während er in der Bedrängnis, dem Tod nahe war, setzte er sein Vertrauen auf Jehova, und er wurde nicht zu Schanden. Jehova hat wohlgetan an ihm, und er kann zu seiner Seele sagen: „Kehre wieder, meine Seele, zu deiner Ruhe!“ (V 7) O, wie wird das kleine, schwergeprüfte Häuflein des treuen Überrestes die köstliche Ruhe des tausendjährigen Reiches genießen! Es wird wandeln vor Jehova im Land der Lebendigen (V 9). Derselbe Herr, den sie einst verworfen haben, und der lange Zeit hindurch sein Angesicht vor ihnen verbarg, um sie zu prüfen und zu läutern, um ihre „Schlacken aufs lauterste zu fegen und wegzunehmen all ihr Zinn“ (Jes 1,25), wird von neuem sein Antlitz freundlich über ihnen leuchten lassen. Er wird ihnen „Ruhe geben von ihrer Mühsal und von ihrer Unruhe und dem harten Dienst, darin man sie hat dienen lassen“; „sie werden auf den Wegen weiden, und auf allen Höhen wird ihre Weide sein. Sie werden nicht hungern und nicht dürsten, und die Hitze und die Sonne wird sie nicht stechen; denn ihr Erbarmer wird sie führen und wird sie leiten an die Wasserquellen“ (Jes 14,3; 49,9–10). Ja, wie herrlich wird diese Ruhe für sie sein, nach all den dunklen, schweren Tagen, wie selig und erquickend nach all ihrer Plage und Mühsal!
Und wie lieblich tönt dieses Wörtchen „Ruhe“ auch in unsere Ohren! Es ist wahr, wir sind, was unsere Seelen betrifft, zur Ruhe gebracht. Wir können mit dem Psalmisten sagen: „Du hast meine Seele errettet vom Tod, meine Augen von Tränen, meinen Fuß vom Straucheln“ (V 8). Der Tod ist nicht mehr ein Schrecken für uns, er ist „unser“, und der Zweite Tod hat keine Gewalt mehr über uns; wir haben nicht länger Ursache, zu trauern und zu klagen, sondern uns „allezeit zu freuen in dem Herrn“, und wir sind von der Macht Satans und der Herrschaft der Sünde befreit, so dass wir wandeln können zur Ehre des Herrn und durch seine Macht davor bewahrt werden, zu straucheln. Aber dennoch befinden wir uns, solange wir hienieden pilgern, in der Wüste, sind den Schwierigkeiten und Gefahren des Weges und den Versuchungen dieser Welt ausgesetzt und haben allezeit zu wachen und zu kämpfen. Wir sind noch nicht in unsere ewige Ruhe eingegangen, sondern werden ermahnt, allen Fleiß anzuwenden, um in dieselbe einzugehen (Heb 4,11). Aber sie kommt! Bald sind wir am Ziel unseres Weges angelangt, bald ist der letzte Kampf gestritten und der letzte Seufzer ausgestoßen. Wir sind auf dem Weg zu unserer himmlischen Heimat, zu unserer ewigen, seligen Ruhe. „Also bleibt noch eine Sabbatruhe dem Volk Gottes.“ O wie herrlich ist dieses! Wie erhebt es uns über die nichtigen Dinge dieser Welt und lässt uns alles so eitel, so schal und verwerflich erscheinen! Ja, geliebte Brüder, wir werden wandeln, nicht „nur im Land der Lebendigen“, sondern „im Haus des Vaters“ immer und ewiglich, vereinigt mit unserem geliebten Herrn, mit Ihm alle seine Herrlichkeit teilend und allezeit Ihn anbetend und bewundernd. O, möchte diese glückselige Hoffnung lebendiger in unseren Herzen sein! Der Herr wolle uns fähiger machen, unseren Blick von allem, was uns hienieden umgibt, abzuwenden und nach Oben zu richten, dahin, wo der Christus ist!
Doch kehren wir zu unserem Psalm zurück. „Ich glaubte, darum redete ich; ich bin sehr gedrückt gewesen. Ich sprach in meiner Bestürzung: Alle Menschen sind Lügner!“ (V 10–11) Die Seele des frommen Juden war tief bekümmert in ihrer Not, aber sie vertraute auf Gott. Der Glaube war in ihr tätig und befähigte sie, sich über die Umstände zu erheben. Sie suchte nicht so sehr Trost und Hilfe, als Gott selbst. Dies ist sehr beachtenswert. Der Herr selbst stand vor ihr. Alle Menschen erwiesen sich als unzuverlässig, der Herr allem blieb. Ähnliches erfuhr auch Paulus auf seinem schwierigen, leidensvollen Pfad. Auch er war zu Zeiten völlig verlassen, doch der Herr stand ihm bei. Obwohl allenthalben bedrängt, war er doch nicht verengt, keinen Ausweg sehend, doch nicht ohne Ausweg, verfolgt, doch nicht verlassen, niedergeworfen, doch nicht umkommend. Der Glaube war in ihm tätig, und so konnte er inmitten der schwierigsten Umstände sagen: „Da wir aber denselben Geist des Glaubens haben, (nach dem, was geschrieben steht: ‚Ich habe geglaubt, darum habe ich geredet‘;) so glauben auch wir, darum reden wir auch“ (2. Kor 4,13). Mögen die Drangsale noch so groß sein und die Schwierigkeiten sich noch so hoch auftürmen, der Glaube rechnet auf Gott und weiß, dass Er nicht verfehlen wird, zur rechten Zeit einen Ausweg zu schaffen. Darum redet er frei und offen darüber. In vollkommener Weise erfuhr der Herr selbst die Unzuverlässigkeit der Menschen, als Er hienieden war. Obwohl. Er in seiner Gnade den Jüngern sagen konnte: „Ihr seid es, die mit mir ausgeharrt haben in meinen Versuchungen“, so kam doch die Stunde, wo Er sagen und fühlen musste: „Ihr werdet euch alle an mir ärgern in dieser Nacht und mich allein lassen.“
Vielleicht findet der Herr es für gut, auch uns nach unserem geringen Maße in Umstände zu führen, wo wir entdecken, dass auf den Menschen kein Verlass ist, um uns dahin zu bringen, auf Ihn allein unser Vertrauen zu setzen und in Ihm allein unsere Zuflucht zu suchen. Und wenn die Prüfung dies in uns bewirkt, welch ein reicher Gewinn! Wie sehr sind wir geneigt, uns auf menschliche Stützen zu lehnen und zu irdischen, menschlichen Hilfsquellen unsere Zuflucht zu nehmen! Wie schwach ist unser Glaube, wie gering unser Vertrauen auf den lebendigen Gott, der unser Vater geworden ist und gleichsam seine Ehre zum Pfände unserer Bewahrung und Erhaltung eingesetzt hat! Er wird uns in keiner Not verlassen. „Er, der doch seines eigenen Sohnes nicht verschont, sondern Ihn für uns alle hingegeben hat, wie wird Er uns mit Ihm nicht auch alles schenken?“ Was könnte uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn? Nichts im Himmel und auf Erden, keine Macht der Menschen oder der Teufel.
Angesichts der großen Errettung, die der Gläubige erfahren hat, kommt er jetzt zu der Frage: „Was soll ich Jehova wiedergeben für alle seine Wohltaten an mir?“ (V 12) Wahrlich, eine berechtigte, natürliche Frage, die in jedem Herzen, das die Liebe Gottes kennen gelernt hat und seiner Errettung teilhaftig geworden ist, aufsteigen wird! Doch was kann der Gläubige tun für den, dem der Erdkreis und seine ganze Fülle gehört, der die Himmel gemacht hat und der der Hilfe von selten seiner Geschöpfe nimmer bedarf? Was kann er dem Gott bringen, für den „der Libanon nicht hinreicht zum Brennen und sein Getier nicht hinreicht zum Brandopfer“, der da sagen kann: „Silber und Gold ist mein?“ Wie kann er dem Gott des Himmels und der Erde seine Wohltaten vergelten? Was kann er Ihm Wohlgefälliges bringen? Der Psalmist gibt selbst Antwort auf diese Fragen, die einzige, die überhaupt gegeben werden kann. Er sagt: „Den Becher der Errettungen will ich nehmen und anrufen den Namen Jehovas. Ich will Jehova bezahlen meine Gelübde, ja in der Gegenwart seines ganzen Volkes“ (V 13–14). Er kann zu der Herrlichkeit Gottes nichts hinzufügen, aber er kann das nehmen, was er von Gott empfangen hat, und es anbetend Ihm darbringen. Er kann Gott preisen und von seiner Güte singen. Und er will dieses tun in Gegenwart des ganzen Volkes. Alle sollen hören, welch große Dinge der Herr an ihm getan hat. Er war gebunden und geknechtet, aber der Herr hat ihn befreit und seine Bande gelöst (V 16). Als ein Befreiter und Erretteter kann er Gott jetzt anbeten; erfleht nicht mehr um Errettung und macht Jehova Gelübde – er ist errettet, und als solcher erfüllt er seine Gelübde und betet an. Welch eine schöne Stellung!
Und diese Stellung gehört heute schon dem Christen. Er ist errettet, aus der Macht Satans befreit und aus dem gegenwärtigen, bösen Zeitlauf herausgenommen. Er ist auferweckt mit Christus und in Ihm versetzt in die himmlischen Örter, er ist eine neue Schöpfung, er ist versöhnt, gerechtfertigt, und alle seine Bande sind gelöst. Und als solcher ist er fähig gemacht, als ein heiliger Priester vor Gott hinzutreten, „um darzubringen geistliche Schlachtopfer, Gott wohlannehmlich durch Jesus Christus“ (1. Pet 2,5). Es ist sein glückseliges Vorrecht, mit allen Heiligen, inmitten der Versammlung, dem Ehre und Anbetung zu bringen, „der uns liebt und uns von unseren Sünden gewaschen hat in seinem Blut und uns gemacht hat zu einem Königtum, zu Priestern seinem Gott und Vater“ (Off 1,5–6). Er hat Freimütigkeit zum Eintritt in das Heiligtum droben durch das Blut Jesu, und ist berufen, hinzuzutreten „mit wahrhaftigem Herzen, in voller Gewissheit des Glaubens, die Herzen besprengt und also gereinigt vom bösen Gewissen und den Leib gewaschen mit reinem Wasser“ (Heb 10,22).
Ist es nun eine Anerkennung der großen Dinge, die Gott an uns getan hat, oder ist es eine Entehrung seines großen und herrlichen Namens, wenn Christen aus irgendwelchem Grund sich weigern, diese Stellung anzuerkennen und diesen Platz einzunehmen? Ist es Glaube oder Unglaube, wenn sie, trotzdem das Wort Gottes so klar und unzweideutig über diese Dinge redet, sagen: Diese Stellung ist höchst gefährlich, ich wage nicht, sie einzunehmen? Es sieht aus wie Demut, aber es ist nichts als Unglaube und Eigenwille. Der Glaube nimmt Gott einfach bei seinem Wort und glaubt dem, was Er sagt, ohne zu zweifeln und zu überlegen. Er blickt nicht auf sich, noch misst er die Gabe, die ihm angeboten wird, nach seiner Würdigkeit ab, sondern Er blickt auf Gott und misst die Gabe an der Größe, Macht und Liebe Gottes und an der Würdigkeit Jesu Christi, seines Eingeborenen. Würde uns Gott nach unserer Würdigkeit geben, was würden wir empfangen? Darum lasst uns in voller Gewissheit des Glaubens nehmen, was Gott uns gibt, und je mehr wir von der Köstlichkeit und Unermesslichkeit seiner Gabe verstehen, umso mehr Ihn preisen.
„Dir will ich opfern Opfer des Dankes und anrufen den Namen Jehovas. Ich will Jehova bezahlen meine Gelübde, ja, in der Gegenwart seines ganzen Volkes, in den Vorhöfen des Hauses Jehovas, in deiner Mitte, Jerusalem“ (V 17–19). Der Tempel, das Haus Jehovas, mag heute zerstört darrriederliegen, aber die Zeit kommt, wo er in neuer, herrlicher Pracht, nach der Beschreibung des Propheten Hesekiel, wiederaufgebaut werden wird. Der Glaube weiß, dass alles, was Jehova gesagt hat, erfüllt werden wird. „So spricht Jehova der Heerscharen, sagend: Siehe, ein Mann, sein Name ist Spross, und Er wird aufsprossen aus seinem Ort und den Tempel Jehovas bauen. Und Er wird den Tempel Jehovas bauen, und Er wird Herrlichkeit tragen und wird sitzen und herrschen auf seinem Thron“ (Sach 6,12–13). Der Herr selbst, „der Spross“, wird den Tempel wiederaufbauen und „Jerusalem Frohlocken und seinem Volk Freude“ schaffen (Jes 65,19). „Jehova baut Jerusalem, die Vertriebenen Israels sammelt er“ (Ps 147,2). Die Stimme des Jubels und des Frohlockens wird wieder gehört werden in den Straßen Jerusalems und in den Vorhöfen des wieder erbauten Tempels Jehovas. „Denn in Freuden werdet ihr ausziehen und in Frieden geleitet werden. Die Berge und die Hügel werden vor euch ausbrechen in Jubel, und alle Bäume des Feldes werden mit den Händen klatschen“ (Jes 55,12). „Das ganze Land wird sich umwandeln wie die Ebene ... und sie werden darin wohnen, und es wird kein Bann mehr sein, und Jerusalem wird sicher wohnen“ (Sach 13,11). „Und der Name der Stadt soll von selbigem Tag an sein: Jehova daselbst“ (Hes 48,35).
Wir haben schon gesagt, welch ein Teil des Christen wartet. So herrlich die Segnungen Israels auch sein mögen, seine Erwartungen sind noch höher, umso viel höher, als der Himmel über der Erde ist. Seine Hoffnung geht ins Vaterhaus hinauf. Da wird er weilen und wohnen, da wird er ein– und ausgehen mit den zahllosen Scharen der Erlösten, da wird er das Lamm schauen und mit lautem Jubel verkündigen, was es an ihm getan hat. In Ewigkeit wird die Versammlung oder die Kirche Gottes ihren besonderen Platz haben. Wenn diese Schöpfung vergangen und ein neuer Himmel und eine neue Erde geschaffen sein werden, dann kommt sie hernieder aus dem Himmel von Gott, wie eine für ihren Mann geschmückte Braut, die Herrlichkeit Gottes habend. Sie ist „die Hütte Gottes bei den Menschen“, und „Gott wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und Gott selbst wird bei ihnen sein, ihr Gott. Und Er wird jegliche Träne abwischen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Trauer, noch Geschrei, noch Pein wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen“ (Off 21,3–4). Dann ist die Zeit gekommen, wo der Sohn dem Vater alles übergeben und Gott „alles in allem“ sein wird. Der unveränderliche Zustand ewiger Segnung, ewiger Ruhe und ewiger Glückseligkeit ist dann gekommen. Alles ist neu gemacht, und Gott ruht mit Wonne in seiner neuen Schöpfung, und zwar für ewig.
Der Psalm schließt mit den Worten: „Lobt Jehova!“ Wenn die Freude des Herzens eine gewisse Höhe erreicht hat, so strömt sie über. Das Herz kann sie nicht allein mehr fassen, es muss anderen sein Glück mitteilen und sie auffordern, sich mit ihm zu freuen und mit ihm zu loben und anzubeten. Ja, „es ist gut, Psalmen zu singen von unserem Gott, denn es ist lieblich; es geziemt sich das Lob.“
O, möchten auch wir jeden Tag neue Ursache finden, unseren Gott zu preisen und anzubeten! Seine Größe ist unausforschlich, sein Reichtum unergründlich, seine Wege unaufspürbar, seine Liebe unendlich und seine Gnade unermesslich. Möchten auch wir uns gegenseitig ermuntern, den Namen unseres Gottes zu erhöhen, Ihm zu dienen und Ihm unser ganzes Leben zu weihen!