Botschafter des Heils in Christo 1883
"Er wurde innerlich bewegt"
Wie köstlich ist es, in einer Welt des Elends und der Not einen zu besitzen, der alle Bedürfnisse kennt, sie gleichsam zu seinen eignen macht, und dessen erbarmende Liebe sich uns sichtbar und fühlbar offenbart! „Er wurde innerlich bewegt.“ Diese Gefühle waren nicht vorübergehender Natur; nicht nur damals fand das menschliche Elend eine Stätte in dem Herzen des Herrn. O nein; Er, welcher „derselbe ist gestern und heute und in Ewigkeit“, wird, obwohl Er jetzt auf dem Thron des Vaters in der Herrlichkeit sitzt, immer noch innerlich bewegt, wenn Er herab blickt auf all das Elend und die Not hienieden, wenn Er das Seufzen und Flehen vernimmt, das in immer dringenderen Lauten zum Thron der Gnade emporsteigt.
Wenn der Hirte Israels innerlich bewegt ward bei dem Anblick der Kinder Abrahams, die wie Schafe ohne Hirten in der Wüste umherirrten, wie tief muss dann seine Bewegung sein, wenn Er jetzt auf die von neuem weit zerstreuten Kinder Gottes blickt! Welch eine schreckliche Verwüstung haben die „verderblichen Wölfe“ in der „Herde Gottes“ angerichtet! Wie haben die Verkündiger „verkehrter Dinge“ die Jünger abgezogen „hinter sich her!“ (Apg 20,29–30) Welch eine Spaltung und welch ein Ärgernis haben diejenigen angerichtet, die „nicht unserem Herrn Jesus Christus, sondern ihrem eigenen Bauch dienen!“ Sicherlich muss dies alles das Herz dessen tief bewegen, welcher „die Versammlung geliebt und sich selbst für sie hingegeben hat“ (Eph 5,25).
Doch war dies das Einzige, dass Jehovas Volk „wie Schafe war, die keinen Hirten haben?“ Hatten sie nicht auch selbst gesündigt? Standen ihre Herzen in der rechten Gesinnung zu Ihm, dem guten Hirten? Hatten sie standhaft in „dem Bund“ beharrt? O, der Herr wusste nur zu wohl, dass dies durchaus nicht der Fall war. Er kannte die lange, traurige Geschichte dieses verkehrten, hartnäckigen Volkes von Anfang bis zu Ende. Wie oft hatte Er seine Hände vergeblich nach ihnen ausgestreckt, wie oft umsonst durch seine Propheten, durch Gnadenerweisungen und Gerichte zu ihnen geredet! Sie hatten sich geweigert, in seinen Geboten zu wandeln; sie hatten seinen Bund gebrochen und die großen Wunderwerke vergessen, die Er sie hatte schauen lassen. Und doch ward der Herr innerlich bewegt über sie! „Er war barmherzig und vergab ihre Ungerechtigkeiten“ (Ps 7999).
Wenden wir jetzt unseren Blick auf die Kirche des lebendigen Gottes, so müssen wir fragen: Hat sie auch nur durch falsche Lehrer und schlechte Führer gelitten? Hat sie eine bessere Geschichte hinter sich als das Volk Israel? Ist sie weniger verkehrt und halsstarrig gewesen? Hat sie sein Wort gehalten? Standen die Herzen derer, die Er mit seinem eignen kostbaren Blut erlöst hat, stets in der rechten Gesinnung zu Ihm? Ach, wiewohl weiß der Herr, dass die höheren Vorrechte und besseren Verheißungen, die ihnen zu Teil geworden sind, nur einen umso tieferen Fall, umso größere Sünde und verhältnismäßig eine umso schwächere Antwort auf seine Liebe hervorgebracht haben. Ja wahrlich, jedes gläubige Herz weiß dieses. Wie köstlich nun, in unseren Tagen sich zu dem wenden zu dürfen, dessen Mitgefühl nie aufhört, der die Seinen, die in der Welt sind, liebt bis ans Ende!
Tief bewegt von erbarmender und vergebender Liebe, „sing Er an, sie vieles zu lehren.“ Auch heute noch redet der Herr zu uns, und wenn Er auch im Himmel ist, so ist der Himmel doch offen für uns, und für den Glauben gibt es keine Entfernung. Fehler und Unwissenheit umgeben uns von allen Seiten. Um ein richtiges Gefühl über die ersteren zu haben und der letzteren zu Hilfe zu kommen, ist es unbedingt notwendig, wahre Gemeinschaft mit Ihm zu machen, der, erhaben über allem Bösen, alles sieht. Von Ihm allein können wir lernen, in allem eine Gelegenheit zur Ausübung der Liebe zu finden. Wünschen wir, in irgendwelchem Maß den Schafen. Christi in diesen letzten, bald zu Ende gehenden Tagen zu dienen, so bedürfen wir sehr, die Bedeutung jener Worte zu erwägen, die der Herr vor Alters an den Propheten Sacharja richtete: „So spricht Jehova der Heerscharen, sagend: Richtet ein wahrhaftiges Gericht und erweist Güte und Barmherzigkeiten einer dem Anderen!“ (Kap 7,9) Vor allem aber haben wir nötig, im Geist viel mit jenem treuen und „barmherzigen Hohepriester“ zu verkehren, der in allem versucht worden ist, gleich wie wir, ausgenommen die Sünde, und der Mitleid zu haben vermag mit dem Schwachen und Irrenden.