Botschafter des Heils in Christo 1883
Die vernünftige und unverfälschte Milch
Diese Stelle wird oft missverstanden. Will sie sagen, dass wir stets Kindlein in Christus bleiben und immer wieder zu den ersten Elementen der Ernährung zurückkehren sollen? Ohne Zweifel wird sie von vielen so ausgelegt. Allein eine kurze aufmerksame Betrachtung wird genügen, um uns zu überzeugen, dass dies nicht der wahre Sinn des Verses sein kann.
Wir alle wissen, dass es in unserem Leben als Christen einen Abschnitt gibt, in welchem wir notwendiger– und richtiger Weise „Kindlein“ sind. An solche richtet sich der Apostel Johannes, wenn er schreibt: „Ich schreibe euch, Kindlein, weil ihr den Vater erkannt habt“ (1. Joh 2,13). Doch sollen wir in diesem Zustand der Kindheit beharren? Die Korinther werden getadelt, weil sie es taten, und zwar war ihre Fleischlichkeit der Grund, weshalb sie keine Fortschritte machten: „Und ich, Brüder, konnte nicht zu euch reden als zu Geistlichen, sondern als zu Fleischlichen, als zu Unmündigen in Christus“ (1. Kor 3,1). Und der Apostel fügt in vorwurfsvollen! Tone hinzu: „Ich habe euch Milch gegeben, nicht Speise; denn ihr vermochtet es noch nicht, aber ihr vermögt es auch jetzt noch nicht.“ Auch die Hebräer wurden von dem Apostel getadelt, dass sie „der Milch bedurften, und nicht der festen Speise; denn da ihr der Zeit nach Lehrer sein solltet, bedürft ihr wiederum, dass man euch lehre welches die Elemente des Anfangs der Aussprüche Gottes sind“ (Heb 5,12). Die letzten Worte machen es ganz klar, was wir unter der „Milch“ in diesen beiden Stellen zu verstehen haben.
In 1. Petrus 2 aber ist der Gedankengang ein ganz anderer. Hier bezeichnet Petrus das Wort Gottes, und zwar das ganze Wort, mit dem Ausdruck „vernünftige, unverfälschte Milch“, und nach diesem Wort sollen wir begierig sein, nicht einfach wie Kinder, sondern wie neugeborene Kinder. Was ist die Milch für ein neugeborenes Kind? Sein Leben selbst; denn ohne Milch muss es unfehlbar zu Grund gehen. Dasselbe aber ist das Wort Gottes für uns, und als solches sollten wir es schätzen und nach ihm begierig sein, wie ein Säugling nach der Muttermilch begierig ist. Das ganze Wort hat Gott uns gegeben, und wir würden die Gabe sowohl, wie den Geber verunehren, wenn wir nur gewisse Teile für uns auswählen und das Übrige als zur Nahrung unpassend verwerfen wollten. Das ganze Wort ist für uns nützlich zur Nahrung. Wir bedürfen sowohl des Alten, als auch des Neuen Testaments, sowohl des Evangeliums, als auch der späteren hohen Offenbarungen Gottes über die Kirche. Die Wege und Handlungen Gottes mit seinem irdischen Volk sind nicht weniger nützlich für uns, als seine Wege und Handlungen mit uns, der himmlischen Braut des Lammes.
Und nun fragen wir uns: Nimmt wirklich das Wort Gottes in unseren Gedanken und in unseren Herzen den Platz ein, der ihm gebührt und den es nach dem Willen Gottes haben sollte? Begehren wir täglich, von dieser unverfälschten, kostbaren Milch zu trinken? oder ist es Satan gelungen, uns in Bezug ans diesen Schatz, den wir durch die Gnade Gottes besitzen, gleichgültig zu machen? Sind wir träge geworden im Lesen und Erforschen der Schriften? O, geliebte Brüder, lasst uns bedenken, was der Apostel seiner Ermahnung noch hinzufügt! Er sagt: „Seid begierig ... auf dass ihr dadurch wachst zur Errettung.“ Es kann unmöglich von einem gesunden Wachstum die Rede sein, wenn wir versäumen, uns von dem Wort Gottes zu nähren. So wie ein Kind zu Grund gehen muss, wenn ihm die Milch entzogen wird, so muss auch das geistliche Leben in uns verkümmern, wenn wir ihm die Speise entziehen, die zu seiner Erhaltung und Stärkung notwendig ist. Anstatt zu wachsen, nimmt es ab und wird von Tag zu Tage schwächer und schwächer. Warum sehen wir heute so viele Kinder Gottes in einem ähnlichen schwachen Zustand wie die Korinther? Weil sie, anstatt das geistliche Leben, das in ihnen ist, zu nähren, dem fleischlichen und natürlichen Nahrung zuführen. In dem Maß aber, wie dieses wächst, muss jenes abnehmen. Und haben wir uns nicht alle tief zu demütigen über den traurigen, niedrigen Zustand, der im Allgemeinen unter uns herrscht? Wo ist Hilfe zu finden? Nur in einem aufrichtigen Bekenntnis und Selbstgericht und in einer Rückkehr mit ganzem Herzensentschluss zu dem, was wir verlassen haben. Der Herr gebe es uns allen in seiner reichen Gnade!