Betrachtungen über den Römerbrief
Botschafter des Heils in Christo 1883
Betrachtungen über den Römerbrief - Teil 6/8
Kapitel 8
Diese Befreiung steht in der engsten Verbindung mit der Erlösung, nicht sowohl hinsichtlich der Vergebung, als vielmehr hinsichtlich unseres Gestorbenseins mit Christus. Wir haben schon gesehen, dass es zwei Hauptpunkte in dieser Erlösung gibt, nämlich die Vergebung der Sünden oder die Rechtfertigung, und die Befreiung: Freiheit vor Gott, und Freiheit vom Joch der Sünde im Fleisch. Wenn wir aber mit Christus gestorben sind, so sind wir der Sünde gestorben und sind nicht mehr im Fleisch vor Gott. Das fleischliche Leben ist nicht mehr unsere Stellung, weil Christus, nachdem Er gestorben, unser Leben geworden ist. Die Sünde im Fleisch ist verurteilt, verdammt – nicht vergeben – und zwar im Tod Christi auf dem Kreuz. Die Kraft des Lebens Christi ist in mir, ist mein Leben. Doch nicht allein das. Die Sünde im Fleisch, die meine Qual war, ist schon verurteilt, aber in einem anderen, so dass es für mich wegen des Fleisches keine Verdammnis mehr gibt. Da wo diese Verdammnis, das Gericht des Fleisches, ausgeübt worden ist, ist der Tod eingetreten, und diejenigen, die in Christus Jesus sind, sind mit Ihm gestorben, so dass es für sie keine Verdammnis mehr gibt. Was an Ihm geschehen ist, ist an uns geschehen: Er ist der Sünde gestorben, und die Verdammnis ist vorbei. Das ist unser Zustand, betreffs der Sünde im Fleisch. So klar wie im ersten Teile des Briefes von dem Wegtun der Sünden gesprochen wird, ebenso klar wird hier das Wegtun der Sünde im Fleisch und der Verdammnis vorgestellt; ja, für den Glauben ist das Fleisch selbst beseitigt, da wir gestorben sind.
Dieser Zustand wird in den drei ersten Versen des achten Kapitels beschrieben. Der Christ befindet sich in einer ganz neuen Stellung: er ist in Christus. Nicht allein hat sich die Gnade Gottes darin offenbart, dass die Sünden des alten Menschen vergeben sind, sondern auch seine Stellung ist eine ganz neue geworden: wir sind erlöst. Es heißt nicht: „Also ist jetzt keine Verdammnis mehr für die, welchen die Sünden vergeben sind“, sondern: „für die, welche in Christus Jesus sind.“ Diese Stellung ist das Resultat des Werkes Christi, der Erlösung. Der Christ ist mit Christus aus der Stellung des Fleisches befreit, weil er mitgestorben ist und teil hat an dem Leben des auferstandenen und verherrlichten Christus. So steht er vor Gott nicht mehr als ein Kind Adams, verantwortlich im Fleisch, sondern als einer, der diese Stellung wirklich verlassen hat durch den Tod, und der lebendig ist in Christus. Das Fleisch wird betrachtet als tot, als verdammt, als nicht mehr vorhanden, sondern als verschwunden im Tod Christi. Der Christ ist lebendig in Christus, er ist nicht mehr im Fleisch (vgl. Gal 2,19–20).
Der Ausdruck: „das Gesetz des Geistes des Lebens in Christus Jesus usw.“ im zweiten Verse unseres Kapitels mag manchem Leser auffallend erscheinen. Es soll dadurch, wie ich glaube, angedeutet werden, dass der Geist des Lebens in Christus Jesus beständig und ununterbrochen nach ein und demselben Grundsatz wirkt, damit das Fleisch tot sei in dem Gläubigen, indem es in einem anderen verurteilt wurde. Durch das Leben Christi und den Heiligen Geist ist der Gläubige in Christus. Wie könnte es da noch Verdammnis geben? Gott hat sich schon mit der Sünde im Fleisch am Kreuz beschäftigt und ist jetzt, wenn man so sagen darf, fertig damit. Das neue Leben und der Heilige Geist geben dem lebendig gemachten Gläubigen seinen Platz in Christus; er ist erlöst und vor Gott lebendig in Christus. Es handelt sich hier nicht, wie schon gesagt, um die Vergebung der Sünden des alten Menschen, sondern um eine neue, lebendige Stellung in Christus. Das ist es, was in den drei ersten Versen des achten Kapitels dargestellt wird.
Nachdem im siebenten Kapitel die Erfahrung der ersten Stellung, sowie die Befreiung durch die Erlösung in Christus und die Fortdauer der zwei Naturen, als wirkliche Tatsache, beschrieben worden, wird in den drei ersten Versen des achten Kapitels die neue Stellung in Christus, im Gegensatz zu der Stellung im Fleisch oder der Stellung im ersten Adam, dargestellt. Im ersten Verse – keine Verdammnis; im zweiten – die Kraft des Lebens; im dritten – die Verurteilung der Sünde im Fleisch in Christus auf dem Kreuz. Was den zweiten Vers charakterisiert, ist das Leben in Christus nach der Kraft des Heiligen Geistes, und zwar als ein unaufhörlich wirkender Grundsatz. Den Dritten kennzeichnet die Verurteilung der Sünde im Fleisch im Sündopfer Christi. Die Sünde ist zwar noch da, und wenn wir nicht treu sind, wenn wir nicht praktisch das Sterben des Herrn Jesus umhertragen, so ist sie wirksam in uns; wir verlieren die Gemeinschaft mit Gott und entehren den Herrn durch unseren Wandel, indem wir nicht nach dem Geist des Lebens wandeln, würdig des Herrn. Aber wir stehen nicht mehr unter dem Gesetz der Sünde, sondern, mit Christus gestorben und eines neuen Lebens in Ihm und des Heiligen Geistes teilhaftig geworden, sind wir von diesem Gesetz befreit; wir befinden uns in einer neuen Stellung, sind in dem zweiten Adam vor Gott, und unser naturgemäßer Wandel ist nach dem Geist – nicht nach dem Fleisch. So wird das Gesetz Gottes und sein Recht in uns erfüllt. Darüber hinaus geht die Lehre hier nicht, weil man das Gesetz wollte. Das Gesetz aber ist nicht der Maßstab des christlichen Wandels; es wird nur gesagt, dass der, welcher nachdem Geist wandelt, es erfüllt. Als ich im Fleisch war, konnte ich es nicht erfüllen, weil das Fleisch sich dem Gesetz nicht unterwirft, es auch nicht vermag, sondern nur seinem eignen Willen folgt. Der Geist aber wird uns sicher nicht in das leiten, was gegen das Gesetz Gottes ist. Das Gesetz wird praktisch erfüllt, indem wir nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Leitung des Geistes stehen. Wir stehen unter dem Einfluss des Geistes, und es handelt sich nicht um ein Gesetz außer uns, sondern um eine Natur in uns, die den für sie passenden Gegenstand besitzt. Die, welche nach dem Geist leben, dem neuen Menschen gemäß, begehren die Dinge, die des Geistes sind; die aber, welche nach dem Fleisch sind, sinnen auf die Gegenstände der fleischlichen Gelüste. Es handelt sich nicht um ein auferlegtes Gesetz, sondern um eine neue Gesinnung, die Gesinnung einer Natur, welche vom Geist geboren ist und das sucht, was geistlich ist – eine heilige Freiheit, indem der Mensch, als gestorben mit Christus, vom Joch der Sünde befreit ist, eine aus Gott geborene heilige Natur besitzt, heilige Gegenstände vor Augen hat und eine Wohnung des Heiligen Geistes ist, der im Herzen heilige Gedanken hervorbringt und die Dinge offenbart, welche droben sind. Die Gesinnung des Fleisches ist der Tod der Seele, hat keine Frucht und trennt die Seele von Gott, sowohl jetzt, als in der Ewigkeit. Die Gesinnung des Geistes aber ist Leben, eine Quelle in uns, die in das ewige Leben quillt und die Seele mit Frieden erfüllt. Die Gesinnung des Fleisches lehnt sich gegen die Autorität Gottes auf. Weil sie die Tätigkeit des natürlichen Menschen ausmacht, so hat sie es mit dem Gesetz zu tun, welches der Ausdruck dieser Autorität Gottes über den Menschen und die Richtschnur seiner Verantwortlichkeit als Geschöpf Gottes ist. Aber sie unterwirft sich dem Gesetz nicht und vermag es auch nicht, weil der eigene Wille seinen eigenen Weg gehen will; auch liebt sie durchaus nicht das, was Gott wohl gefällt. So können also die, welche im Fleisch sind, welche sich vor Gott in der Stellung des ersten Adam befinden und nach dem Leben des ersten Adam wandeln, Gott nicht gefallen.
In Vers 9 begegnen wir einem sehr wichtigen Grundsatz. Wann kann jemand sagen: ich bin nicht im Fleisch? Antwort: wenn der Heilige Geist in ihm wohnt. Es kann jemand bekehrt sein, sich aber noch in dem im siebenten Kapitel beschriebenen Zustand befinden, wie z. B. der verlorene Sohn, bevor er seinem Vater begegnet war. Er war bekehrt und auf dem rechten Wege; doch wollte er nur ein Tagelöhner seines Vaters werden. Sobald er aber mit dem Vater zusammengetroffen war, hören wir nichts mehr davon, sondern nur von dem, was sein Vater war und was derselbe für ihn tat. Die Befreiung findet statt durch das persönliche Bewusstsein dessen, was der Vater ist, gekannt in Christus Jesus, durch das Bewusstsein der Erlösung. Und dieses Bewusstsein findet sich um in einer Seele, in welcher der Heilige Geist wohnt. Ein bekehrter Mensch ist als solcher erst dann in der christlichen Stellung, wenn er gesalbt worden ist. Gewissen und Herz waren bei dem verlorenen Sohn, als er sich auf dem Weg zum Vaterhaus befand, durch die Gnade erreicht und richtig geleitet; aber er war noch nicht mit dem vornehmsten Kleid bekleidet und kannte auch das Vaterherz noch nicht. Er trat erst dann in die christliche Stellung ein, als er den Vater erreicht hatte, und von diesem Augenblick an hören wir nichts mehr von ihm, sondern nur von dem Vater. Vorher war sein Zustand nicht passend für das Haus.
In Vers 10 sehen wir die andere Seite des christlichen Verhältnisses. Im Anfang des Kapitels heißt es: „welche in Christus Jesus sind“, und hier: „wenn Christus in euch ist.“ Der Christ ist also einerseits „in Christus“, und andererseits ist „Christus in ihm.“ In Christus sind wir nach seiner Vollkommenheit vor Gott; Christus in uns ist der Grund und Maßstab unserer Verantwortlichkeit, wobei Er aber die Quelle unserer Kraft ist, und zwar nach dem, was im Anfang des Kapitels gesagt worden ist. Ein Christ ist ein Mensch, der nicht allein neu geboren ist – was durchaus notwendig ist – sondern in welchem auch der Heilige Geist wohnt. Dieser lenkt den Blick des Gläubigen auf das Werk Christi und lehrt ihn den Wert desselben würdigen; Er gibt ihm das Bewusstsein, dass er in Christus ist und Christus in ihm (Joh 14), und erfüllt sein Herz mit der Hoffnung der Herrlichkeit, mit der Gewissheit, dass er gleich Christus und bei Christus sein wird für immer und ewig. Wenn der Bekehrte weiß, dass seine Sünden vergeben sind, wenn er „Abba, Vater!“ rufen kann, wenn er das Bewusstsein hat, dass es für ihn keine Verdammnis mehr gibt, so ist er befreit; er steht in der Freiheit vor Gott und ist befreit von dem Gesetz der Sünde und des Todes. Aber er ist erst dann ein vollendeter Christ, vollkommen, wenn er durch den Heiligen Geist versteht, dass er die Stellung Christi einnimmt, dass Gott in derselben Weise sein Vater und sein Gott ist, wie Er der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus ist – wenn er versteht, dass er ans der Stellung Adams in die Stellung Christi hinübergegangen, dass er mit Christus gestorben ist und also selbst nicht mehr lebt, sondern Christus in ihm (Gal 2,20).
Diese Freiheit wird im Römerbrief ganz klar vorgestellt und entwickelt, doch nur insofern, als der Gläubige darin betrachtet wird, als mit Christus gestorben und Christus als sein Leben besitzend, wodurch er befreit morden ist von dem Gesetz der Sünde sowohl, als auch von dem mosaischen Gesetz, weil dieses über einen Menschen herrscht, solange er lebt, und nicht weitergehen kann. Der Brief behandelt jedoch nicht die Ratschlüsse Gottes und die Herrlichkeit unserer neuen Stellung. Wohl geben die Verse 29 und 30 des achten Kapitels einen Anknüpfungspunkt für diese Lehre; im Allgemeinen aber behandelt der Brief die Verantwortlichkeit des Menschen, sowie das, was Gott getan hat, um uns von unserer Schuld zu reinigen und zu rechtfertigen, und er lehrt zugleich, wie wir durch unser Gestorbensein mit Christus vom Gesetz der Sünde und des Todes befreit sind. Jene beiden Verse eröffnen einen etwas weiteren Blick, doch wird die neue Stellung nicht näher entwickelt. Der Brief geht nicht über die Wahrheit hinaus, dass wir durch Christus lebendig gemacht sind; er redet nicht von unserer Auferweckung mit Ihm. Diese – den Ausgangspunkt unserer neuen Stellung – müssen wir im Kolosserbrief suchen. Der Epheserbrief entwickelt diese Lehre dann noch weiter, jedoch von einem anderen Gesichtspunkt ans. Dort hören wir nicht, dass ein Kind Adams sterben und auferstehen muss, und dass der Gläubige gestorben ist, obwohl er als auferstanden mit Christus dargestellt wird. Der unbekehrte Mensch wird vielmehr in dem Epheserbrief betrachtet als tot in den Sünden, und alles ist eine neue Schöpfung. Wir finden darin alle die Ratschlüsse Gottes, sowohl in Bezug auf die mit Christus auferstandenen Gläubigen, als auch in Bezug auf Christus selbst, auf die Kinder Gottes und unsere Einheit mit Christus, als sein Leib.
Es wird gut sein, zu bemerken, dass, wie in den ersten drei Versen des achten Kapitels die Grundsätze der Befreiung dargestellt sind, so in den acht folgenden Versen der praktische Charakter und das Resultat der Befreiung beschrieben wird. Der Heilige Geist ist wirksam in dem neuen Leben, anstatt eines außerhalb stehenden Gesetzes, dem selbst das Fleisch einen unüberwindlichen Widerstand entgegensetzte. Der Geist versieht das neue Leben mit, himmlischen Gegenständen, in welchen dasselbe seine Freude und Ernährung findet. „Die Gesinnung des Geistes ist Leben und Frieden.“ Dies alles ist abhängig von dem Wohnen des Heiligen Geistes in uns. „Wenn jemand den Geist Christi nicht hat, der ist nicht sein.“ Wir haben schon gesagt, dass der Zustand eines solchen demjenigen des verlorenen Sohnes gleich sei, bevor derselbe seinen Vater gefunden hatte. Wenn dagegen der Geist des Christus in dem Bekehrten wohnt, so ist der Leib für ihn tot, der Sünde wegen, der Geist aber Leben, der Gerechtigkeit wegen. Wenn der Leib lebt kraft seines eignen Lebens, so bringt er nichts als Sünde hervor; der geistliche Mensch hält ihn nach Kapitel 6 für tot.
Der Geist ist von dem neuen Leben nicht zu trennen. Er ist die Quelle des Lebens und charakterisiert dasselbe. Welt nun der Geist dessen, der Jesus auferweckt hat, in uns wohnt, so wird Der, welcher Christus aus den Toten auferweckt hat, auch unsere sterblichen Leiber auferwecken wegen seines in uns wohnenden Geistes. Das ist das gesegnete Ende des Lebens des Geistes in Christus Jesus, oder vielmehr der Anfang desselben in seiner wahren Vollkommenheit. Der Geist ist Gottes Geist. Gott hat Jesus, die menschliche Person, auferweckt; Jesus ist sein persönlicher Name. Er lag aber nicht für sich unter den Toten; Christus ist sein Name, als für andere gekommen. Wenn deshalb der Geist Gottes in uns wohnt, so wird Der, welcher Ihn, den Erstgeborenen, auferweckt hat, auch die erlösten Schafe auferwecken.
Dem Heiligen Geist werden hier drei charakteristische Namen beigelegt: Geist Gottes im Gegensatz zum Fleisch (V 9); Geist Christi, als die Bildungskraft des neuen Menschen, und Geist dessen, der Christus aus den Toten auferweckt hat, weil Er das Unterpfand der Auferstehung in uns ist.
Der herrliche Zweck der befreienden Gnade ist erreicht. Die Umstände, welche uns umgeben, bleiben freilich dieselben, und unsere Stellung vor Gott in Verbindung mit diesen Umständen wird in den folgenden Versen des achten Kapitels dargestellt (Fortsetzung folgt).
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