Botschafter des Heils in Christo 1882
Was ist die Vergebung im Evangelium?
Es gibt wohl kaum einen Punkt, über welchen unter den meisten derer, die sich Christen nennen, weniger Verständnis herrscht, als über die Vergebung der Sünden. Insbesondere sind es zwei Klassen von Personen, die sich über diesen Gegenstand täuschen. Die Einen meinen, Gott sei so gütig, dass Er am Ende über alles das, was sie getan haben, hinweggehen werde. Nach ihren Gedanken ist die Güte Gottes so groß, dass sie Ihn gleichgültig gegen die Sünde macht und Ihn alles vergeben lässt. Sie vergessen, dass Gott gerecht und heilig ist, und dass Er von den Menschen Rechenschaft fordern wird über alle ihre Worte und Werke, wie dies die folgenden Schriftstellen klar bezeugen: „Ich sage euch aber, dass von jedem unnützen Wort, das irgend die Menschen reden werden, sie von demselben Rechenschaft geben werden am Tag des Gerichts“ (Mt 12,36). „An dem Tag, da Gott das Verborgene der Menschen richten wird durch Jesus Christus“ (Röm 2,16). „Denn in diesem seid ihr unterwiesen und wisst, dass kein Hurer oder Unreiner oder Habsüchtiger (der ein Götzendiener ist), Erbteil hat an dem Reich Christi und Gottes. Niemand verführe euch mit eitlen Worten; denn dieser Dinge wegen kommt der Zorn Gottes über die Söhne des Ungehorsams“ (Eph 5,5–6). „Siehe, der Herr ist gekommen inmitten seiner heiligen Tausende, Gericht auszuüben wider alle und völlig zu überführen alle ihre Gottlosen von all ihren Werken der Gottlosigkeit, die sie gottlos verübt haben, und von all den harten Worten, welche gottlose Sünder Wider Ihn geredet haben“ (Jud 14–15). „Und die Toten wurden gerichtet aus dem, was in den Büchern geschrieben war, nach ihren Werken“ (Off 20,12–13).
Dagegen gibt es andere, und zwar aufrichtige Seelen, die in Unruhe sind, weil sie fühlen, dass ihre Sünden sie vor Gott verdammen. Sie erkennen sich in seinem Licht als gottlose Geschöpfe und denken deshalb, Gott sei zu gerecht, als dass Er solchen, wie sie sind, vergeben könne. Diesen Seelen kommt Gott entgegen; Er lässt sie nicht in diesem Zustand. Er lässt ihnen durch das Evangelium verkündigen, dass Er nicht allein gerecht, sondern auch die Liebe ist, und dass Er in Christus, seinem Sohn, dem Sünder vergibt. Aber gerade für diese Seelen ist es wichtig, zu verstehen, was die Vergebung Gottes ist.
Gott vergibt ohne Zweifel, weil Er gütig ist. Aber seine Güte und Liebe konnten nicht eher ungehindert ausströmen, bis seine Gerechtigkeit hinsichtlich der Sünde durch das Versöhnungswerk Christi völlig befriedigt war. Nachdem dies geschehen, ist Gott gerecht, wenn Er den rechtfertigt, der des Glaubens an Jesus ist (Röm 3,26), weil die furchtbare Schuld, welche dieser Gott gegenüber hatte, durch den Tod des Heilands bezahlt worden ist. So hat also der Gläubige nicht allein die Vergebung, sondern auch die Rechtfertigung. Gerade weil Gott gerecht ist, vergibt Er dem, welcher an Jesus glaubt, alle seine Sünden. Es ist sehr wichtig, zu verstehen, dass die Vergebung Gottes, wie das Evangelium sie lehrt, der Ausfluss seiner Gerechtigkeit ist, und nicht jener vermeintlichen Güte, die sich um das Böse nicht kümmert.
Es war die Güte und Liebe Gottes, welche den Heiland gab; und dieser hat auf dem Kreuz alles erduldet, was unsere Sünden verdient hatten: „Er ist um unserer Übertretungen willen verwundet, um unserer Ungerechtigkeiten willen ist Er Zerschlagen; die Strafe unseres Friedens war auf Ihm, und durch seine Striemen sind wir geheilt“ (Jes 53,5). „Welcher selbst unsere Sünde an seinem Leib auf das Holz getragen hat“ (1. Pet 2,24). „Ihn, der Sünde nicht kannte, hat Er für uns zur Sünde gemacht“ (2. Kor 5,21). „Er ist einmal geopfert, um vieler Sünden zu tragen“ (Heb 9,28). „Und ihrer Sünden und ihrer Gesetzlosigkeiten werde ich nie mehr gedenken“ (Heb 10,17).
Wie handelt nun Gott gegen mich, wenn ich an den glaube, der alles für mich getan hat? Er rechtfertigt mich, Er vergibt mir alles. Und warum? Weil Christus alle Schuld bezahlt hat. Es ist also zwischen Gott und Christus eine Sache der Gerechtigkeit, mir zu vergeben und mich zu rechtfertigen. Dagegen zwischen Christus und mir – wie auch zwischen Gott und mir – ist es eine Sache der Gnade. Christus hat alles bezahlt, als ich zahlungsunfähig und ruiniert war. Darum ist Gott gerecht, wenn Er mich rechtfertigt, weil ich an den glaube, der alles für mich bezahlt hat.
Ich führe ein einfaches Beispiel an, um diese Wahrheit anschaulicher zu machen. Nehmen wir an, ich schuldete einem Mann tausend Mark, wäre aber völlig ruiniert und könnte ihm keinen Pfennig geben. Mein Gläubiger will aber bezahlt sein, andernfalls ist er entschlossen, mich ins Gefängnis werfen zu lassen, bis meine Schuld getilgt ist. Ich bin in Verzweiflung. Kein Entrinnen ist mehr möglich. Da hört ein reicher Mann von meiner traurigen Lage und, von Mitleid bewegt, geht er zu meinem Gläubiger und bezahlt ihm meine ganze Schuld. Nachdem er Quittung empfangen, kommt er zu mir und überreicht mir dieselbe mit den Worten: „Das Mitleid für dich hat mich getrieben, alles für dich zu bezahlen; hier ist die Quittung!“ Und nun frage ich: „War es von Seiten meines Gläubigers, nachdem er die Summe empfangen hatte, ein Akt der Gnade oder der Gerechtigkeit, dass er meinem Wohltäter Quittung erteilte?“ Ohne Zweifel ein Akt der Gerechtigkeit. Aber wenn nun mein Wohltäter zu mir kommt und mir die Quittung übergibt, ist das mir gegenüber von seiner Seite ein Akt der Gerechtigkeit oder der Gnade? Es ist ein Akt reiner Gnade; denn er schuldete mir nichts und ist freiwillig in meine Verbindlichkeit und an meine Stelle getreten. Mein Gläubiger aber handelt nur nach Gerechtigkeit, indem er mich meiner Verpflichtungen für entbunden erklärt, so dass ich vor ihm als früherer Schuldner gerechtfertigt stehe. Auf einem solchen Grund, geliebter Leser, habe ich jetzt Frieden mit Gott! Und mehr noch: das Evangelium sagt mir, dass gerade mein Gläubiger – Gott – es ist, der mir den Wohltäter – Christus – verschafft hat. Und der Letztere hat seine eigene Person als Zahlung gegeben, um meine Schuld zu tilgen.
Ich kann in aller Ehrerbietung sagen, dass Gott Christus gegenüber schuldig ist, mich zu rechtfertigen, wenn ich an Jesus glaube. Zwischen Gott und Christus ist es also eine Sache der Gerechtigkeit, zwischen Christus und mir eine Sache der Gnade. Aber auch zwischen Gott und mir ist es Gnade und Liebe; denn Er hat mir diesen Heiland gegeben.
Alles, was Gott tut, muss notwendigerweise der Gerechtigkeit entsprechen, sonst würde Er sich selbst verleugnen. Wenn Gott den rechtfertigt, der an Jesus glaubt, so muss Er darin nicht nur einen Akt der Gnade, sondern auch der Gerechtigkeit vollziehen können; ebenso wie es ein Akt der Gerechtigkeit sein wird, wenn Er an jenem schrecklichen Tage, wo die Bücher aufgetan und diejenigen, die vor dem Thron erscheinen, gerichtet werden nach ihren Werken – alle diejenigen in den Feuersee werfen wird, die mit ihrer Sündenschuld auf ihrer eignen Rechnung erfunden werden (Off 20,11–15).
Gott handelt meinem Nächsten gegenüber nicht ungerecht, wenn Er mir vergibt und mich rechtfertigt, weil ich an Jesus glaube; und ebenso wenig handelt Er ungerecht gegen sich selbst. Wenn Gott am Ende mit Stillschweigen über das Böse, das ich begangen habe, hinweggehen und mich mittels jener vermeintlichen Güte in den Himmel einführen würde, während Er zugleich meinen Nächsten nach seinen Werken richtete und ihn der Hölle übergäbe – würde Er dann gerecht sein? Gewiss nicht! Und doch denkt man sich so im Allgemeinen das Seligwerden. Wenn Gott auf diese Weise vergeben wollte, so wäre kein Heiland nötig. Aber gerade die Tatsache, dass Er einen Heiland gegeben hat, der sein Leben gab als Lösegeld für viele, beweist, dass Gott nicht nach der Weise, wie es sich die Menschen denken, vergeben kann.
Wieder andere denken, dass, weil Christus gekommen sei, um für Sünder zu sterben, diese nun auch errettet seien, ob sie sich um Ihn bekümmern oder nicht. Ein solches Evangelium kennt aber das Wort Gottes nicht. Das wahre Evangelium wendet sich, wie wir sogleich sehen werden, nicht einmal mit den Worten an einen Ungläubigen: Christus hat alle deine Sünden getragen, du hast nur zu glauben, und alles ist in Ordnung. Wohl ist es wahr, dass Gott einem jeden vergibt, der in Wahrheit an Jesus glaubt, weil Er wirklich alles bezahlt hat. Aber hat Er alles bezahlt für diejenigen, welche nicht glauben, wenn sie in ihrem Unglauben sterben? Sicherlich nicht; sie werden am Ende sich mit ihren Sünden der Gerechtigkeit Gottes gegenüber befinden. Wenn Christus ihre Schuld bezahlt hätte, so würde Gott ungerecht sein, wenn Er sie nach ihren Werken richtete.
Was sagt denn nun das wahre Evangelium? – Es sagt, dass jetzt die Gerechtigkeit Gottes (die, welche rechtfertigt) offenbart ist: „Gottes Gerechtigkeit aber durch Glauben an Jesus Christus gegen alle und auf alle, die da glauben“ (Röm 3,22).. „Gegen alle“ bezeichnet die Gnadenabsicht Gottes für alle; da ist niemand ausgeschlossen. „Auf alle, die da glauben“, bezeichnet die Zueignung durch den Glauben. „Also hat Gott die Welt geliebt, dass Er seinen eingeborenen Sohn gegeben hat, (nicht, damit die Welt nicht verloren gehe, sondern) auf dass jeder, der an Ihn glaubt, nicht verloren gehe“ (Joh 3,16). In dieser Stelle sehen wir aufs deutlichste die Gnadenabsicht Gottes in Bezug auf einen jeden – jeder darf kommen, keiner ist ausgeschlossen; zugleich aber wird auch der Notwendigkeit des Glaubens – „jeder, der an Ihn glaubt“ – der bestimmteste Ausdruck gegeben. Jesus kam in die Welt, um Sünder zu erretten; aber als Er zu diesem Zweck hienieden war, musste Er zu den meisten von ihnen sagen: „Ihr wollt nicht zu mir kommen, auf dass ihr das Leben habt.“ In 1. Timotheus 1 und 2 lesen wir, dass der Heiland Gott will, dass alle Menschen errettet werden, und dass Jesus sich selbst gegeben hat zum Lösegeld für alle. Aber nicht alle wollen sich erretten lassen, sondern sie hassen diesen Jesus, welcher sich zum Lösegeld für alle dahingab. Die Schrift ist voll von Beweisen dieser Art. Es sei mir erlaubt, zur näheren Erläuterung des Gesagten nochmals ein Gleichnis anzuführen:
Alle Einwohner eines Dorfes sind ruiniert und stehen auf dem Punkt, von Haus und Hof verjagt zu werden. Doch ein reicher, menschenfreundlicher Mann hat Erbarmen mit ihnen und beschließt, sie zu retten. Er hinterlegt deshalb bei dem Richter eine Summe, groß genug, um die Schuld jedes Einzelnen zu decken, und sagt: „Hier ist die nötige Summe zur Befreiung aller dieser armen Leute; jeder, der kommt und seinen Namen in diese Liste einschreibt, soll so viel erhalten, wie er nötig hat.“ – Aber ach! Die meisten jener Leute sind, obwohl arm und völlig ruiniert, dennoch zu stolz, sich durch das Einschreiben ihrer Namen als ruiniert zu bekennen. So verlieren sie denn die für alle hinterlegte Summe, und ihre Schuld bleibt auf ihnen lasten.
Ähnlich verhält es sich mit dem Evangelium. Es ruft allen Menschen ohne Ausnahme zu: Kommt! Gott ist durch das Sühnopfer Christus hinsichtlich der Sünde vollkommen verherrlicht, und niemand, der zu Ihm kommt, wird zurückgewiesen. Deshalb kommt! Einige achten auf diesen Ruf; sie kommen, gerührt durch diese erbarmungsreiche Liebe, und glauben wirklich an Christus, den Heiland. Zu diesen sagt das Evangelium dann weiter: Wisst, dass Christus vom Himmel herniedergekommen ist, um alle eure Sünden hinwegzunehmen. Er ist euer Stellvertreter geworden auf dem Kreuz, Er hat alles für euch bezahlt, und Gott ist gerecht, indem Er euch rechtfertigt, weil ihr an Jesus glaubt. Wisst, dass der ganze Wert des Wertes Christi jetzt das Eigentum eures Glaubens wird. Ihr seid abgewaschen von allen euren Sünden und passend gemacht für den Himmel!
Beachten wir wohl, welch einen bestimmten Unterschied das Wort macht zwischen Stellvertretung und Sühnung. Die Sühnung oder das Sühnopfer ist für alle Menschen vorhanden, aber die Stellvertretung ist nur für die Gläubigen. Es ist sehr wichtig, dies zu unterscheiden.
Es könnte dem Gesagten noch vieles hinzugefügt werden für die Gläubigen, bezüglich der Ratschlüsse Gottes über sie in Christus, sowie ihrer neuen Stellung in Ihm vor Gott; doch ist das hier nicht unser Gegenstand. Möchten sie immer mehr erkennen und sich darüber freuen, dass sie vor Gott, hinsichtlich der Vergebung ihrer Sünden und ihrer Rechtfertigung, auf dem Boden stehen, der mit den Worten bezeichnet ist: „Gott ist gerecht und rechtfertigt den, der des Glaubens an Jesus ist“ (Röm 3,26). Und ein jeder Leser dieser Zeilen, der noch nicht an Jesus, den Heiland der Sünder, glaubt oder denkt, keinen Heiland nötig zu haben, möchte er sich doch daran erinnern, dass, „wer dem Sohn nicht glaubt, das Leben nicht sehen wird, sondern der Zorn Gottes bleibt auf ihm“ (Joh 3,36). Vor dem großen, weißen Throne des Gerichts wirst du (Off 20,11–15), wer du auch seist, deine Sünden auf deiner Rechnung finden, wenn du das Heil, welches dir in Christus angeboten wird, zurückweisest. Heute noch ruft Gott dir zu: „Komm, glaube, und du wirst errettet werden.“ Dann aber wird Er dir sagen müssen: „Gehe hin in das ewige Feuer!“ Und an diesem schrecklichen Orte wirst du die ewige Strafe für deine Sünden empfangen, weil du die Errettung nicht annehmen wolltest, die Gott dir so frei und bedingungslos angeboten hat. Darum komm noch heute zu Christus, als deinem Heiland, damit du nicht vor Ihm, als deinem Richter, erscheinen musst!