Botschafter des Heils in Christo 1882
"Und ihr, seid Menschen gleich, die auf ihren Herrn warten!"
Das, was die Gläubigen charakterisieren sollte, ist nicht ein bloßes Festhalten an der Lehre von der Ankunft des Herrn, sondern ein tägliches Warten auf Ihn. Ihre Seelen sollten sich in dem Zustand steter Erwartung befinden, der Erwartung, Ihn zu sehen, bei Ihm und Ihm gleich zu sein. Und zwar nicht deshalb, weil diese Welt, die ihnen feindlich entgegentritt, im Begriff steht, gerichtet zu werden. Wir haben Gnade empfangen und warten auf Ihn, der uns errettet hat, um dann völlig zu erkennen, was Er in seiner köstlichen Person für uns ist. Das Gericht ist nicht der Gegenstand unserer Hoffnung und unserer Freude, wie dereinst für die Heiligen, welche sich während der Zeit der großen Drangsal auf der Erde befinden werden; denn „jedes Einherfahren der bestimmten Rute, die Jehova auf ihn niederlassen wird, wird sein mit Pauken und Lauten“ (Jes 30,32). Unser Teil ist vielmehr, einfältig auf Ihn zu warten. Der ganze Wandel und Charakter eines Gläubigen hängt davon ab, ob er auf den Herrn wartet. Ein jeder sollte an uns erkennen können, dass wir nichts in dieser Welt zu tun haben, als hindurch zu gehen, dass wir kein Teil in ihr besitzen, und dass wir uns bekehrt haben „von den Götzenbildern zu Gott, zu dienen dem lebendigen und wahren Gott und seinen Sohn aus den Himmeln zu erwarten“ (1. Thes 1,9–10). Zu dieser Hoffnung waren die Thessalonicher bekehrt worden; da sie einer Welt angehörten, die Gottes Sohn verworfen hatte, so mussten sie sich von diesen Götzenbildern abwenden, um „dem lebendigen Gott zu dienen und seinen Sohn aus den Himmeln zu erwarten.“
Was ich allen meinen Lesern recht dringend ans Herz legen möchte, ist das persönliche Warten auf den Herrn, nicht das Kennen der Lehre von seiner Ankunft, sondern das wahre tägliche Warten auf Ihn. Worin auch der Wille des Herrn bestehen mag – ich werde sicher wünschen, dass Er mich bei seiner Ankunft denselben tuend finden möchte. Doch das ist nicht die wichtigste Frage; diese lautet vielmehr: Warte ich auf Ihn Tag für Tag? In 1. Thessalonicher 2 wird die Hoffnung auf die Ankunft Christus mit dem Dienst in Verbindung gebracht: „Denn wer ist unsere Hoffnung, oder Freude, oder Krone des Ruhms? Nicht auch ihr vor unserem Herrn Jesus bei Seiner Ankunft?“ In jenem Augenblick wird Paulus den Lohn seines Dienstes für die Heiligen empfangen. Dann im 3. Kapitel wird die Hoffnung mit unserem Wandel verbunden, als ein Beweggrund zur Heiligkeit: „Tadellos in Heiligkeit vor unserem Gott und Vater, bei der Ankunft unseres Herrn Jesus mit allen seinen Heiligen.“ Im 4. Kapitel endlich wird die Lehre der Hoffnung entfaltet und die Art und Weise, wie sie sich erfüllen wird, mitgeteilt: „Denn der Herr selbst wird mit gebietendem Zuruf, mit der Stimme des Erzengels und mit der Posaune Gottes herniederkommen vom Himmel, und die Toten in Christus werden zuerst auferstehen; danach werden wir, die Lebenden, die übrigbleiben, zugleich mit ihnen entrückt werden in Wolken dem Herrn entgegen in die Luft; und also werden wir allezeit bei dem Herrn sein.“ Wir sehen aus diesen Worten, wie gegenwärtig die Erwartung der Ankunft des Herrn in den Gläubigen war. Paulus sagt: „Wir, die Lebenden, die übrigbleiben.“ Warum „wir?“ Weil er die Ankunft damals erwartete. Es war das sein Charakter damals, derjenige eines Menschen, welcher auf seinen Herrn wartet. Und verliert er diesen Charakter, weil er gestorben ist, bevor der Herr kam? Nein, durchaus nicht. Obgleich Petrus eine Offenbarung empfangen hatte, dass er seine Hütte ablegen sollte, so wartete er doch täglich auf die Ankunft des Herrn. Dies war sein Charakter damals und wird es auch sein, wenn der Herr kommt; er wird nichts durch seinen Tod verlieren. „Und ihr, seid gleich den Menschen, die auf ihren Herrn warten!“
Die Apostel und die Gläubigen der damaligen Zeit warteten gleich Knechten, die an der Haustür stehen, damit sie, wenn ihr Herr klopft, sogleich bereit sind, ihm zu öffnen. Es ist dies natürlich ein Bild, aber es findet sich darin die gegenwärtige Kraft der Erwartung ausgedrückt. Wodurch ist der Verfall und das Verderben so rasch in die Kirche eingedrungen? Weil sie angefangen hat zu sagen: „Mein Herr verzieht zu kommen“; aber „glückselig jene Knechte, die der Herr, wenn Er kommt, wachend finden wird!“ „Es seien eure Lenden umgürtet und eure Lampen brennend.“ Bei der Tracht der damaligen Zeit war es nötig, um dienen zu können, die Gewänder aufzuschürzen und seine Lenden zu umgürten. So sollen auch wir unsere Gewänder nicht lose herabfallen oder, mit anderen Worten, unsere Gedanken, Gefühle und Zuneigungen nicht umherschweifen lassen, sondern stets zum Dienst bereit sein, mit wohl aufgeschürzten Kleidern und brennenden Lampen. Dies ist selbstverständlich kein Zustand der Ruhe; im Gegenteil ist es eine außerordentlich ermüdende Sache, eine lange finstere Nacht hindurch zu wachen. Aber in dem Geist unseres Dienstes müssen Herz, Zuneigungen, Gedanken, Gefühle und Wünsche stets Wohl umgürtet sein. Es erfordert eine wirkliche Anstrengung, um dem Fleisch nie zu erlauben, seinen eignen Weg zu gehen; es ist zu Zeiten eine große Erleichterung, dies, wenn auch nur für einen Augenblick, zu tun; allein wenn es geschieht, so werden wir sicher gleich den zehn Jungfrauen einschlafen. Denn so wie die Jungfrauen sich mit dem Öl in ihren Lampen zum Schlaf niederlegten, so können auch wir mit dem Heiligen Geist in unseren Herzen einschlummern. Doch glückselig alle Knechte, die der Herr wachend finden wird! Der Herr ruft uns gleichsam zu: Jetzt ist es an euch, umgürtet zu sein und in Liebe zu dienen und zu wachen; aber wenn ich wiederkomme, dann wird es an mir sein, mich zu umgürten und hinzuzutreten und euch zu bedienen (V 37). Ihr müsst inmitten des Bösen wohl umgürtet sein und wachen; aber wenn das Böse gerichtet und hinweggetan ist, dann mögt ihr ausruhen von eurer Arbeit. Einmal angekommen in dem Haus des Vaters, könnt ihr euch niederlegen und der Ruhe pflegen. An jenem gesegneten Orte der Reinheit und Heiligkeit könnt ihr eure Kleider herabwallen, eure Zuneigungen, Gedanken und Gefühle frei ausströmen lassen, ohne befürchten zu müssen, sie zu besudeln. J. N. D.