Botschafter des Heils in Christo 1882
Maria am Grab
In Johannes 20 finden wir ein schönes, lebendiges Beispiel von wahrer, ungeheuchelter Liebe zu Christus. Maria Magdalena kam „früh, als es noch finster war“, zur Gruft; sie wartete nicht, bis die Sonne aufging, sondern ihre Liebe trieb sie, während noch die Schatten der Nacht über Jerusalem lagerten, nach dem einzigen Fleckchen auf der Erde, das noch Interesse für sie hatte.
Sie eilte zu dem Grab ihres Herrn. Was konnte die Welt ihrem Herzen noch bieten? Der Eine fehlte, dessen gesegnete Person es ganz ausfüllte. Was war die Erde für sie? Nichts als das Grab ihres geliebten Herrn. Diesen Charakter sollte sie auch heute noch für alle haben, die mit Jesu verbunden sind. Prüfen wir uns, ob sie wirklich nichts anders für uns ist, als das Grab Jesu.
Doch ach! Maria findet das Grab leer. Diese Entdeckung erfüllt sie mit dem tiefsten Schmerz. Jetzt ist ihr, wie sie glaubt, alles genommen. Selbst der Leichnam ist verschwunden. Trauernd steht sie an der Gruft und weint draußen. Petrus und Johannes kehren nach Haus zurück, nachdem sie das Grab untersucht und sich überzeugt haben, dass es wirklich leer ist. Aber nicht so Maria. Wie konnte sie Nutze finden, solange sie nicht wusste, wo ihr geliebter Herr war? Wie rührend ist ihre Antwort auf die Frage der Engel, warum sie weine! „Weil sie meinen Herrn weggenommen“, sagt sie, „und ich nicht weiß, wo sie Ihn hingelegt haben.“ Es war ihr Herr, ihr geliebter Jesus, den sie verloren hatte und nach dem ihr Herz sich sehnte. Sie geht nicht nach Haus. Da Jesus ihr fehlt, so hat sie keine Heimat mehr. Mit gebrochenem Herzen steht sie weinend da und starrt in die leere Gruft.
O welch eine Sprache redet dieses arme, in Tränen Zerfließende Weib zu unseren Herzen! Findet sich auch bei uns eine solch innige, persönliche Liebe zu dem Herrn, die durch nichts befriedigt werden kann, als durch seine gesegnete Person selbst? Wenn man uns fragte, was der allgemeine Charakterzug der gegenwärtigen Tage sei, was würden wir antworten müssen? Wollten wir die Wahrheit reden, so müssten wir sagen: „Gleichgültigkeit, ja Herzlosigkeit gegenüber der Person Christi.“ Wie betrübend, wie schmerzlich ist dies für ein jedes Herz, das Christus liebhat, und wie viel mehr noch für Ihn selbst, der sich um unsertwillen völlig vergaß und, um uns zu besitzen, „alles verkaufte, was Er hatte“, ja sein eigenes, teures Leben dahingab! Erlaube mir die Frage, geliebter Leser: Was ist Christus für dich? Ist Er dein ein und alles, dein köstlichstes Teil? Richtet sich nach Ihm dein ganzes Leben, dein ganzes Tun und Lassen? Begehrst du, wie Paulus, Ihn zu erkennen und in Ihm erfunden zu werden? Achtest du um seinetwillen alles für Verlust? Ach, wie klein ist die Zahl derer, die in Wahrheit Ihm treu ergeben sind! Es fehlt nicht an Erkenntnis über die göttlichen Ratschlüsse, über die Tragweite des Werkes Christi, über die Vollkommenheit unserer Errettung, über die Hoffnungen des Gläubigen. O nein, es herrscht in unseren Tagen durch die Gnade Gottes mehr Licht wie je über alle diese Wahrheiten. Und doch sind viele Herzen so trocken, so leer und so kalt. Und weshalb? Weil die Person Christi nicht den Wert für sie besitzt, den sie für jenes Weib hatte. Allerlei Dinge nehmen das Herz ein und lassen keinen Raum für Christus. Die Hoffnung, Ihn zu sehen, hat, obgleich sie bekannt wird, ihre lebendige Kraft und Frische verloren. Das Auge hat sich von Ihm abgewandt und sucht nach einem Ersatz in dieser Welt – einer Welt, die Ihn verworfen und gekreuzigt hat, die einem schrecklichen Gericht entgegengeht. Mehr wie je gelten die ernsten Mahnworte des Apostels: „Wache auf, der du schläfst, und stehe auf aus den Toten, und der Christus wird dir leuchten!“ und (Eph 5,14): „Richtet auf die erschlafften Hände und die gelähmten Knie und macht gerade Bahn für eure Füße, auf dass nicht das Lahme vom Weg abgewandt, sondern vielmehr geheilt werde!“ (Heb 12,13)
Doch kehren wir zu unserer Erzählung zurück. Während Maria noch mit den Engeln redet, tritt der Herr von hinten auf sie zu und fragt: „Weib, warum weinst du? Wen suchst du?“ Maria, in der Meinung, es sei der Gärtner, antwortet: „Herr, hast du Ihn weggetragen, so sage mir, wo du Ihn hingelegt hast, und ich werde Ihn wegholen“ (V 14–15). Beachten wir hier, wie die wahre Liebe die Gedanken anderer gänzlich nach ihren eignen abmisst. Maria sagt nicht, wer es sei, den sie sucht, sondern spricht einfach von „Ihm.“ Ihre Gedanken sind so einzig und allein mit Jesu beschäftigt, ihr Herz ist so ganz von Ihm erfüllt, dass sie voraussetzt, alle anderen müssten wissen, um wen es sich handle. Es kommt ihr gar nicht in den Sinn, dass Jesus für andere weniger Wichtigkeit haben könne, als für sie selbst. Ach, wie wenig finden wir von einer solchen Liebe in uns und um uns her!
Zugleich misst Maria auch ihre Kraft nach ihrer Liebe ab. „Ich werde Ihn wegholen“, sagt sie. Hätte sie einen Augenblick überlegt, so würde sie, als schwaches Weib, wohl gezögert haben, eine solche Aufgabe zu übernehmen. Aber die Liebe überlegt nicht lange; für sie gibt es keine Schwierigkeiten; ihre Kraft liegt in ihr selbst. Und jetzt ist der Augenblick für den Herrn gekommen, um sich seiner Jüngerin zu erkennen zu geben. Welch ein Augenblick für Ihn und für sie! Er „ruft sein eigenes Schaf mit Namen“, und sie „hört seine Stimme“ (Joh 10), „Jesus spricht zu ihr: Maria! Sie wendet sich um und spricht zu Ihm auf Hebräisch: Rabbuni! das heißt: Lehrer.“
Welche Gefühle mögen in diesem Augenblick das Herz des armen Weibes bewegt haben! Derselbe Herr, dessen tote Hülle sie mit Schmerzen gesucht hatte, stand jetzt lebend vor ihr. Er war auferstanden; der Tod hatte Ihn nicht behalten können. Sie hatte Ihn wieder, den ihre Seele liebte. Wie wichtig und bedeutungsvoll ist zugleich diese Szene für alle Zeiten! Die Geschichte des ersten Gartens mit einem gefallenen Menschenpaar, ausgetrieben durch die Hand eines heiligen Gottes, hat ihren. Abschluss an dem Kreuz Jesu gefunden, und hier in diesem zweiten Garten finden wir einen auferstandenen Menschen und ein erlöstes Weib, deren Liebe zu seiner Person der Herr so hochschätzt, dass Er sie beauftragt, seinen Jüngern die wunderbarste Botschaft zu überbringen, welche je über menschliche Lippen gekommen ist: „Gehe hin zu meinen Brüdern und sprich zu ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und zu eurem Vater, und zu meinem Gott und zu eurem Gott.“
Möge der Herr in den Herzen seines Volkes in diesen Tagen der Verwirrung und der geistlichen Dürre ein wahres Selbstgericht erwecken, damit sich eine völligere Hingabe an Ihn und ein größerer Eifer für seine Ehre und seine Interessen offenbare! O Jesu, dass Dein Name bliebe
Im Grunde tief gedrücket ein!
Möcht' deine süße Jesusliebe
In Herz und Sinn gepräget sein!
Im Wort, im Werk, in allem Wesen
Sei Jesus und sonst nichts zu lesen!