Der Unterschied zwischen dem Ratschluss Gottes und den Wegen seiner Regierung - oder Stellung und Verantwortlichkeit
Botschafter des Heils in Christo 1882
Der Unterschied zwischen dem Ratschluss Gottes und den Wegen seiner Regierung - oder Stellung und Verantwortlichkeit - Teil 3/5
Die Natur, und der Charakter des göttlichen Ratschlusses lassen uns verstehen, wie unabhängig derselbe in jeder Beziehung von der Wirksamkeit des Menschen ist. Denn wenn Gott keines „Mitberaters“ bedurfte, so bedarf Er auch sicherlich keines Mitwirkers. Der Ratschluss ist in seinem Ursprung wie in seiner Ausführung nur das Werk Gottes. Die Verantwortlichkeit des Menschen kommt dabei durchaus nicht in Betracht, und darum ist auch von der Wüste oder der Pilgerschaft in demselben keine Rede. Gott tritt hervor, um zu zeigen, was Er ist. Die Wüste hat dagegen ihren Platz in den Wegen Gottes und offenbart uns, was der Mensch ist. Dies sehen wir vorbildlich schon bei Israel. Gott sah das Volk in der Sklaverei Ägyptens und kam, um betreffs desselben seinen Ratschluss auszuführen, das heißt, um es zu retten und in ein gutes Land zu bringen. „Und Jehova sprach: Angesehen habe ich den Druck meines Volkes, das in Ägypten ist, und sein Geschrei wegen seiner Treiber habe ich gehört, denn ich kenne seine Schmerzen. Und ich bin herabgekommen, es zu retten aus der Hand der Ägypter und es hinauf zu führen aus diesem Land in ein gutes und geräumiges Land, in ein Land, von Milch und Honig fließend. ... Ich will euch heraufführen aus dem Druck Ägyptens ... in ein Land, von Milch und Honig fließend“ (2. Mo 3,7–8.17). „Ich bin Jehova, und will euch herausführen unter den Lasten der Ägypter hinweg, und will euch retten aus ihrem Dienst, und will euch erlösen. ... Und ich will euch bringen in das Land, worüber ich meine Hand aufgehoben, es zu geben dem Abraham, Isaak und Jakob, und ich will es euch zum Erbteil geben, ich, Jehova“ (2. Mo 6,6–3). In diesen Worten finden wir Erlösung und Herrlichkeit, aber nichts von der Wüste. Diese ist der Platz der Verantwortlichkeit und bildet weder einen Teil des Ratschlusses, noch ist sie nötig zur Ausführung desselben. Gott hätte sein Volk, nachdem es das rote Meer durchschritten, sofort nach Kanaan führen können. Denn nicht die Wüste machte das Volk fähig für den Besitz Kanaans, sondern einzig und allein die im Blut des Passahlammes und in dem Durchzug durch das rote Meer vorgebildete Erlösung. Und in der Tat sang Israel an den Ufern des roten Meeres den Triumphgesang der vollkommenen Befreiung, indem es im Geist in das ganze Ergebnis der vollbrachten Erlösung eintrat. „Du hast durch deine Güte geleitet das Volk, das dir erlöst, hast es geführt durch deine Stärke zu der Wohnung deiner Heiligkeit“ (2. Mo 15,13). Israel war am Ende der Wüste nicht fähiger für den Besitz Kanaans, als es im Anfang seiner Wanderung war, da es noch am Ufer des roten Meeres stand. Es war ein erlöstes Volk, ehe es noch im eigentlichen Sinne des Wortes die Wüste betrat. Wenn man sagt, dass die Erfahrungen der Wüste nötig seien, um uns für den Besitz der Herrlichkeit passend und fähig zu machen, so leugnet man damit die göttliche Vollkommenheit des Ratschlusses oder wenigstens der Erlösung. Man versteht nicht die Natur und den Charakter dieses Ratschlusses.
Wir lesen in Kolosser 1,12: „Danksagend dem Vater, der uns fähig gemacht zu dem Anteil des Erbes der Heiligen in dem Licht, der uns errettet hat aus der Gewalt der Finsternis und versetzt in das Reich des Sohnes seiner Liebe.“ Diese Stelle findet ihre Anwendung nicht nur auf einzelne, geistlich geförderte und erfahrene Gläubige, sondern auf alle ohne Ausnahme. Der jüngste und schwächste Gläubige ist ebenso fähig gemacht für die Herrlichkeit, als der älteste und erfahrenste Christ. Der Missetäter am Kreuz war, sobald er glaubte, ebenso passend, um in die Herrlichkeit einzugehen, wie der Apostel Paulus am Ende seiner langen, glorreichen Laufbahn, ja wie Christus selbst. Und in der Tat ging er noch an demselben Tage von dem Kreuz unmittelbar in das Paradies hinüber: „Wahrlich, ich sage dir: heute wirst du mit mir im Paradies sein.“ Er hatte nicht erst nötig, die Erfahrungen der Wüste zu machen.
Wir sprechen hier selbstverständlich nur von dem Ratschluss, als solchem, so wie Gott ihn in Christus gefasst und ausgeführt hat, nach welchem die Gläubigen bereits erlöst und zu Gott gebracht sind, und zwar in völliger Übereinstimmung mit Ihm. „Denn freilich hat Christus einmal für Sünden gelitten, der Gerechte für die Ungerechten, auf dass Er uns zu Gott führe“ (1. Pet 3,18). Wir waren tot in unseren Vergehungen und Sünden; „Gott aber, der reich ist an Barmherzigkeit, wegen seiner vielen Liebe, womit Er uns geliebt, als auch wir in den Vergehungen tot waren, hat uns mit dem Christus lebendig gemacht, durch (die Gnade seid ihr errettet) und hat uns mitauferweckt und mitsitzen lassen in den himmlischen Örtern in Christus Jesus“ (Eph 2). Wir sind so vollkommen errettet und befreit, dass wir, gleich Israel an den Ufern des roten Meeres, jetzt schon den Triumphgesang der Befreiung anstimmen können. Aber diese Errettung ist, wie schon wiederholt bemerkt, ausgeführt außer uns in Christus. Ohne Zweifel geschieht ein Werk in uns, wenn der Heilige Geist uns von unseren Sünden und unserem Zustand überzeugt und uns in die Erkenntnis Christi und seines für uns vollbrachten Werkes einführt. Allein wir sprechen jetzt nur von dem Werk, welches Gott nach seinem Vorsatz in Christus für alle Gläubige ohne Ausnahme vollbracht hat, und durch welches diese vollkommen errettet und befreit sind. Sie sitzen schon in Christus in den himmlischen Örtern und sind demgemäß vor Gott nach der Vollkommenheit und Kostbarkeit der Person Christi und dem ganzen Wert seines Opfers. Sie können als Menschen in Christus nie mehr verloren gehen, noch gibt es irgendwelche Verdammnis mehr für sie. Wir führen zur Bestätigung des Gesagten noch einige Stellen an: „Denn in Ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig; und ihr seid vollendet in Ihm, welcher ist das Haupt jedes Fürstentums und jeder Gewalt.“ „Denn durch ein Opfer hat Er auf immerdar vollkommen gemacht, die geheiligt werden.“ „Also ist jetzt keine Verdammnis für die, welche in Christus Jesus sind.“ „Hierin ist die Liebe mit uns vollendet worden, auf dass wir Freimütigkeit haben am Tag des Gerichts, dass, gleich wie Er ist, auch wir sind in dieser Welt.“ „Meine Schafe hören meine Stimme ... und ich gebe ihnen ewiges Leben, und sie gehen nicht verloren ewiglich, und niemand wird sie aus meiner Hand rauben. Mein Vater, der sie mir gegeben hat, ist größer denn alles, und niemand kann sie aus der Hand meines Vaters rauben“ (Kol 2,9–15; Heb 10,14; Röm 8,1; 1. Joh 4,17; Joh 10,27–29). Diese und noch viele andere Stellen bezeugen klar und deutlich, dass die vollkommene Errettung und Stellung des Gläubigen eine vor Gott bestehende Tatsache ist. Er ist so vollkommen gemacht, wie das Werk Christi ihn vollkommen machen kann, und selbstverständlich kann dem, was vollkommen und vollendet ist, nichts mehr hinzugefügt werden. Welches Gericht oder welche Verdammnis könnte es noch geben für den, welcher laut des Wortes Gottes so gerecht und vollkommen ist, wie der Richter selbst? Kann es für Christus eine Verdammnis geben? Oder gibt es etwas auszusetzen an der Gerechtigkeit Gottes? Und dieser Gerechtigkeit sind wir teilhaftig geworden. „Ihn, der Sünde nicht kannte, hat Er für uns zur Sünde gemacht, auf dass wir würden Gottes Gerechtigkeit in Ihm“ (2. Kor 5,21). Unstreitig muss eine Stellung, welche das ewig vollgültige Werk Christi zur Grundlage hat, dieselbe Dauer und Gültigkeit haben, wie dieses Werk selbst.
Zwar befinden wir uns noch hienieden in einem sterblichen Leib, aber der Heilige Geist, der in Folge des vollbrachten Werkes und der Verherrlichung Christi herabgesandt ist, hat Wohnung in uns gemacht; und seine Gegenwart in uns ist die Bestätigung der für uns vollbrachten Erlösung, der Tilgung unserer Sünden, sowie unserer Annahme in Christus vor Gott. In Folge dessen wird auch unser sterblicher Leib lebendig gemacht werden. „Wenn aber der Geist dessen, der Jesus aus den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, so wird Er, der Christus aus den Toten auferweckt hat, auch eure sterblichen Leiber lebendig machen wegen seines in euch wohnenden Geistes“ (Röm 8,11). Dies wird geschehen bei der Ankunft des Herrn, und zwar in einem Nu, in einem Augenblick „Siehe ich sage euch ein Geheimnis: Wir werden zwar nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden, in einem Nu, in einem Augenblick“ (1. Kor 15,51–58). „Denn der Herr selbst wird mit gebietendem Zuruf, mit der Stimme des Erzengels und mit der Posaune Gottes herniederkommen vom Himmel, und die Toten in Christus werden zuerst auferstehen usw“ (1. Thes 4,16–17). „Denn unser Wandel ist in den Himmeln, von woher wir auch den Herrn Jesus Christus als Heiland erwarten, der unseren Leib der Niedrigkeit umgestalten wird zur Gleichförmigkeit des Leibes seiner Herrlichkeit“ (Phil 3,20–21). Der Ratschluss Gottes wird also bei der Ankunft des Herrn auch bezüglich unseres Leibes erfüllt werden, indem wir alsdann dem Leib nach in die Stellung versetzt werden, welche wir jetzt schon dem Geist nach in Christus haben; und diese Ankunft haben wir jeden Tag zu erwarten.
Aber, könnte man fragen, wozu denn die Wüste, wenn sie weder einen Teil des Ratschlusses bildet, noch nötig zur Ausführung desselben ist? Die Beantwortung dieser Frage führt uns zur Betrachtung der Wege Gottes mit den Seinen. Wenn Gott in seinem Ratschluss zeigte was Er für uns ist, so bietet die Wüste uns Gelegenheit, zu zeigen, was wir für Ihn sind. Sie ist der Platz der Verantwortlichkeit, die Seite des Menschen, wenn wir so sagen dürfen, wo das „Wenn“ anfängt, welchem wir so häufig in dem Wort begegnen, und wodurch so viele Christen beunruhigt werden, weil sie wegen Mangels an Verständnis des Ratschlusses Gottes nicht befreit sind. Sie unterscheiden nicht zwischen dem Ratschluss und der Regierung Gottes, zwischen der Stellung und der Verantwortlichkeit des Gläubigen; sie sind betreffs ihrer Errettung in Zweifel und Ungewissheit und daher unfähig, in Übereinstimmung mit Gott zu wandeln. Andererseits ist es möglich, dass man alle diese Wahrheiten versteht und zu unterscheiden weiß und dennoch, aus Mangel an Treue und Wachsamkeit, nicht in Übereinstimmung mit Gott wandelt.
Wie der Ratschluss Gottes, so tragen auch die Wege seiner Regierung den Stempel der göttlichen Vollkommenheit, Weisheit und Macht. „Gott – sein Weg ist vollkommen“ (Ps 18,30). So dunkel, unbegreiflich und unausforschlich sie auch oft für uns sein mögen, so haben sie doch in Betreff der Gläubigen 1 dieselbe Liebe zur Grundlage, wie der Nachschlich Gottes, wie sie denn auch schließlich zur Erfüllung desselben führen. Mögen sie deshalb auch noch so ernst sein, ja oft sogar den Charakter des Gerichts tragen, so ist doch bei der Wahl derselben die Liebe die alleinige Triebfeder. Derselbe Gott, der uns nach seinem Vorsatz zuvor gekannt und zuvor bestimmt hat, dem Bild seines Sohnes gleichförmig zu sein, ist es auch, der in der nämlichen Liebe in seinen Wegen mit uns handelt. Selbst wenn Er richtet, bleibt Er immer der Gott, den wir als. Vater anrufen. Unsere Stellung in Christus wird dadurch nicht im Entferntesten berührt. So wenig wie durch seinen Ratschluss die Wege seiner Regierung entkräftet werden, ebenso wenig heben diese jenen auf. Beide stehen in vollkommener Harmonie mit einander, obgleich sie dem Grundsatz ihrer Ausführung nach völlig verschieden sind.
Wir haben gesehen, wie Gott in der Ausführung seines Ratschlusses in unumschränkter Gnade für uns und unabhängig von unserem Zustand handelt. Er hat uns vollkommen errettet in Christus – alles ist sein Werk, und unsere Verantwortlichkeit kommt dabei nicht in Betracht. Handelt es sich aber um die Wege seiner Regierung, so hängt alles von der Verantwortlichkeit des Menschen ab. Gott handelt dann als der, „welcher einem jeden vergelten wird nach seinen Werken: denen, die mit Ausharren in gutem Werk Herrlichkeit und Ehre und Unverweslichkeit suchen, ewiges Leben; denen aber, die streitsüchtig und der Wahrheit ungehorsam sind, der Ungerechtigkeit aber gehorsam, Zorn und Grimm. Trübsal und Angst über jegliche Seele eines Menschen, der das Böse wirkt. ... Herrlichkeit aber und Ehre und Frieden jeglichem, der das Gute wirkt“ (Röm 1,7–10). In wie weit der Mensch fähig ist, das Gute zu tun, kommt hier nicht in Betracht; er ist verantwortlich, es zu tun – tut er es nicht, so wird Zorn und Grimm, Trübsal und Angst über ihn kommen. Das Wort: „Was irgend der Mensch sät, das wird er auch ernten“, behält als ein allgemeiner Grundsatz stets seine Gültigkeit, und soweit es seine Regierung betrifft, weicht Gott nicht davon ab, wie unumschränkt auch seine Gnade sein mag, die Er auf der anderen Seite an einem elenden, verlorenen Sünder offenbart. Im Blick auf die christliche Verantwortlichkeit heißt es: „Wenn jemand nicht in mir bleibt, der wird hinausgeworfen wie die Rebe und verdorrt, und man sammelt sie und wirft sie ins Feuer, und sie verbrennen“ (Joh 15,6). „Denn wenn ihr nach dem Fleisch lebet, so werdet ihr sterben“ (Röm 8,13). „Und euch ... hat Er aber nun versöhnt ... um euch heilig und unsträflich vor sich hinzustellen, wenn ihr anders im Glauben gegründet und festbleibt“ (Kol 1,22–23). „Das Wort ist treu; denn wenn wir mitgestorben sind, so werden wir auch mitleben; wenn wir ausharren, so werden wir auch mitherrschen; wenn wir verleugnen, so wird auch Er uns verleugnen; wenn wir untreu sind – Er bleibt treu, denn Er kann sich selbst nicht verleugnen“ (2. Tim 2,11–13).
Gott kann diese Verantwortlichkeit nicht aufheben, weder in Bezug auf den Menschen im Allgemeinen, noch auch in Bezug auf den Gläubigen. Er richtet in seiner Regierung „ohne Ansehen der Person nach eines jeden Werk“ (1. Pet 1,17). So unumschränkt Er ist in der Ausübung der Gnade, wenn es sich um seinen Ratschluss handelt, so wenig kann Er seine Gerechtigkeit und Heiligkeit in den Wegen seiner Regierung aufgeben. Er kann nie die Sünde dulden, oder Er müsste aufhören, Gott zu sein. Aber nein: „Er kann sich selbst nicht verleugnen.“ „Gerechtigkeit und Gericht sind seines Thrones Grundfeste“ (Ps 97,2). Selbst die Ausübung der Gnade kann nur stattfinden auf Grund seiner Gerechtigkeit, auf Grund des Todes Christi, des Ausdrucks der Gerechtigkeit und Heiligkeit Gottes der Sünde gegenüber.
Viele Gläubige befinden sich nun in Zweifel und Ungewissheit betreffs ihrer Errettung. Dies hat zunächst seinen Grund darin, dass sie von den Stellen, welche auf die Verantwortlichkeit Bezug haben, eine falsche Anwendung machen. Sie behaupten auf Grund derselben, ein Christ könne noch wie die Rebe „hinausgeworfen“ und „verleugnet“ werden. Aber sie unterscheiden nicht zwischen Stellung und Verantwortlichkeit. Wie groß auch die letztere sein mag, so wird doch die erstere dadurch nicht im Geringsten in Frage gestellt. Der Gläubige ist ein für alle Mal, gleich Israel am roten Meere, erlöst, errettet und mit Gott in Übereinstimmung gebracht. Israel war und blieb das erlöste Volk Gottes selbst dann noch, als es in trauriger Weise in der Wüste gefehlt und seiner Verantwortlichkeit nicht entsprochen hatte. „Nicht ein Mensch ist Gott, dass Er lüge, noch ein Menschensohn, dass Ihn etwas gereue. Sollte Er sprechen und nicht tun, und sollte Er reden und es nicht bestätigen? Siehe, zu segnen habe ich empfangen; und Er hat gesegnet, und ich kann es nicht wenden. Er schaut nichts Böses in Jakob und steht kein Unrecht in Israel“ (4. Mo 23). Das war das Zeugnis Gottes über Israel, und zwar in einem Augenblick, als es nicht, wie am roten Meer, den Triumphgesang der Befreiung anstimmte, sondern als es klagend und murrend die Wüste durchzog. Der Geist Gottes sagt nicht ohne Absicht: „Und Bileam richtete sein Angesicht nach der Wüste ..“ (4. Mo 24). Und es ist beachtenswert, dass dieses Zeugnis aus dem Mund des untreuen Propheten Bileam kam, der so gern das Volk verflucht hätte, um sich die Gunst Balaks zu erkaufen. Wohl züchtigte Gott das Volk wegen seiner Widerspenstigkeit in ernster Weise; aber wenn der Feind es verfluchen wollte, dann war es Gott, welcher rechtfertigte (Röm 8,33). Und selbst in der gegenwärtigen Zeit, wo Israel als Volk in Folge der Verwerfung seines Messias unter dem Gericht Gottes ist, hört es nicht auf, das geliebte und auserwählte Volk Gottes zu sein, und wird aus diesem Grund wiederhergestellt werden. „Gott hat sein Volk nicht verstoßen, das Er zuvor gekannt hat. ... Denn die Gnadengaben und die Berufung Gottes sind unbereubar“ (Röm 11,2.29). Ebenso lässt die Frage der Verantwortlichkeit des Gläubigen seine Stellung nach dem Ratschluss Gottes völlig unberührt.
Was aber ist denn der Zweck der Wüste? Wir finden die Antwort in 5. Mose 8,2: „Und du sollst gedenken des ganzen Weges, den dich Jehova, dein Gott, geleitet hat diese vierzig Jahre in der Wüste, um dich zu demütigen, um dich zu versuchen, um zu erkennen, was in deinem Herzen ist, ob du seine Gebote beobachten wirst oder nicht.“ Die Erlösung des Volkes Gottes war so vollkommen, dass seiner Einführung in Kanaan ebenso wenig im Weg stand, wie der Einführung des Räubers am Kreuz in das Paradies. Dennoch gefiel es Gott, das Volk vierzig Jahre durch die Wüste zu führen, um es zu versuchen, damit kundwürde, was in ihren Herzen war. Und das Resultat davon lässt uns die Weisheit und den Zweck der Wege Gottes verstehen, während es zugleich zur ernsten Belehrung und Warnung für uns dient. Es zeigt uns, warum das „Wenn“, oder mit anderen Worten, die Verantwortlichkeit eingeführt ist. Nicht etwa, um den Ratschluss Gottes oder unsere Errettung als unsicher hinzustellen, sondern vielmehr um uns auf die Gefahr des Selbstbetrugs betreffs der Errettung aufmerksam zu machen. Im 10. Kapitel des ersten Korintherbriefes finden wir dies sehr deutlich ausgedrückt. Es heißt dort: „Denn ich will nicht, dass ihr unkundig seid, Brüder, dass unsere Väter alle unter der Wolke waren und alle durch das Meer hindurchgegangen sind, und alle auf Moses getauft wurden in der Wolke und in dem Meer, und alle dieselbe geistliche Speise aßen, und alle denselben geistlichen Trank tranken. ... An den meisten derselben aber hatte Gott kein Wohlgefallen, denn sie sind in der Wüste hingestreckt worden.“ Sollen diese Worte unsere Errettung nach dem Ratschluss Gottes in Frage stellen? Gewiss nicht. Sie wollen entschieden nicht sagen, dass man, einmal gerettet, wieder verloren gehen könne, sondern sind vielmehr ein Beweis, dass man äußerlich mit dem erlösten Volk Gottes in Verbindung und seiner geistlichen Segnungen mitteilhaftig sein kann, ohne wirklich gerettet zu sein. „Nicht aber, als ob das Wort Gottes sein Ziel verfehlt hätte; denn nicht alle, die aus Israel sind, die sind Israel, auch nicht, weil sie Abrahams Samen sind, sind alle Kinder; sondern ‚in Isaak wird dir ein Same genannt werden.‘ Das ist: Nicht die Kinder des Fleisches, diese sind Kinder Gottes, sondern die Kinder der Verheißung werden als Samen gerechnet“ (Röm 9,6–8). Die Wüste offenbarte, dass nicht alle Israeliten, die Ägypten verlassen hatten, wirklich Kinder der Verheißung waren; und dasselbe, was hier von Israel gesagt ist, gilt auch von der Christenheit. Denn „alle diese Dinge widerfuhren jenen als Vorbilder und sind geschrieben worden zur Ermahnung für uns, auf welche das Ende der Zeitalter gekommen ist. Darum, wer zu stehen sich dünkt, sehe zu, dass er nicht falle“ (1. Kor 10,11–12). Die Ermahnung bezweckt also, dass niemand sich selbst täusche, sondern volle Gewissheit über seine Errettung erlange. Ach, wie viele leben auch heute in dieser schrecklichen Selbsttäuschung dahin! Sie glauben, genug getan zu haben, wenn sie sich von den rauschenden Vergnügungen der Welt und von groben Sünden getrennt halten, mit den wahren Christen verkehren und mit ihnen zum Tisch des Herrn gehen. Aber sie betrügen sich selbst auf die verhängnisvollste Weise. Gleich der großen bekennenden Masse, die sorglos und gleichgültig auf dem breiten Wege des Verderbens einhergeht, ohne sich um Gott und Gottes Wort zu bekümmern, sind auch sie bloß äußerlich dem Namen nach mit Christus als dem Weinstock in Verbindung, ohne das Leben aus Gott empfangen zu haben. Nichtsdestoweniger sind sie nach der Regierung Gottes verantwortlich für die Stellung, welche sie einzunehmen bekennen, und werden, insofern sie dieselbe nicht verwirklichen, „hinausgeworfen werben wie die Rebe.“ Ohne Zweifel kann niemand als Christ wandeln, es sei denn, dass er den Geist aus Gott empfangen habe, trotzdem aber ist ein jeder, der Christ zu sein bekennt, verantwortlich, auch als solcher zu wandeln. „Wer da sagt, dass er in Ihm bleibe, der ist schuldig, selbst auch so zu wandeln, wie Er gewandelt hat“ (1. Joh 2,6). (Fortsetzung folgt)
Fußnoten
- 1 In Betreff der Welt enden die Wege Gottes im Gericht, in der ewigen Verdammnis.
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