Botschafter des Heils in Christo 1881
Gesetz und Gnade
Wir finden in dem Alten Testament, dass zu zwei verschiedenen Zeiten dem Menschen, auf Befehl Gottes, steinerne Tafeln übergeben wurden (2. Mo 32 und 34). Die ersten Tafeln gelangten jedoch, wie wir wissen, gar nicht an das Volk Israel, da Mose sie am Fuß des Berges Sinai, erzürnt über die Gottlosigkeit des Volkes, zerschmetterte. Auch hören wir nicht, dass bei dieser ersten Gelegenheit das Antlitz Moses von der Herrlichkeit Gottes strahlte. Das Gesetz an und für sich machte nie das Antlitz eines Menschen strahlend; es kennzeichnet sich vielmehr durch Finsternis und Sturm, durch Donner und Blitz und durch die Stimme Gottes, welche mit dem Schuldigen redet – eine Stimme, die noch weit schrecklicher ist, als alle die anderen Erscheinungen (vgl. Heb 12,18–21). So war es bei der ersten Gelegenheit, als Gott das Gesetz erließ und die Tafeln, noch ehe sie den Menschen erreichten, zerbrochen wurden.
Doch wie ganz anders gestaltete sich die Gabe der zweiten Tafeln! Mose, der Gesetzgeber, wurde in die Gegenwart Gottes gerufen, welchem es gefiel, dieses Mal eine Vermengung von Gesetz und Gnade zu geben. Ein Bund wurde jetzt gemacht, der ausdrücklich diesen zusammengesetzten Charakter trug. Es war nicht Gesetz allein und auch nicht Gnade allein, sondern eine Vermischung von Gnade und Gesetz. Und in der Tat würde es für Gott völlig unmöglich gewesen sein, mit Israel noch länger in Verbindung zu bleiben und es in das verheißene Land zu bringen, wenn nicht diese Vermischung des Gesetzes mit Gnade und Barmherzigkeit stattgefunden hätte. Dementsprechend wurde bei dieser Gelegenheit wohl dem Menschen das Gesetz gegeben, aber es wurde nicht mit all seinen Schrecken vor das menschliche Auge gestellt, sondern in die Bundeslade eingeschlossen.
Es gibt nun viele, selbst treue Kinder Gottes, welche glauben, dass Gott in der gegenwärtigen Zeit genauso mit uns handle, d. h., dass Gesetz und Gnade mit einander vermischt seien. Man sagt, das Gesetz bringe uns in Schuld, die Gnade aber verhindere die Ausübung des Gesetzes, indem sie den Schuldigen gemäß der Worte, welche wir im Anfang des 34. Kapitels lesen, in Schutz nehme. Jehova offenbart sich hier in dem Charakter eines Gesetzgebers, obwohl Er zugleich seiner Langmut und Barmherzigkeit Ausdruck gibt. Wir lesen: „Jehova, Jehova, Gott, barmherzig und gnädig, langsam zum Zorn und von großer Gnade und Wahrheit, der Tausenden Gnade bewahrt, der die Ungerechtigkeit, Übertretung und Sünde vergibt, aber“ – beachten wir diese Hinzufügung – „keineswegs für schuldlos hält den Schuldigen, die Ungerechtigkeit der Väter heimsuchend an den Kindern und Kindeskindern, am dritten und vierten Geschlecht.“ Solange dieser Grundsatz die Richtschnur der Handlungsweise Gottes bildete, hatte der Mittler, so oft er hervortrat, um zu dem Volk zu reden, eine Decke über sein Antlitz zu legen. Ging er in die Gegenwart Jehovas zurück, so wurde die Decke weggenommen; denn in der Gegenwart der Herrlichkeit gibt es keine Decke. Solange aber der Mensch mit dem Gesetz zu tun hatte, mühte Mose, obwohl Gnade und Barmherzigkeit mit demselben vermischt waren, die Decke gebrauchen.
Unsere Stellung aber – und das ist es, worauf ich den Leser aufmerksam machen möchte – steht zu beidem in direktem Gegensatz. Sie hat es weder zu tun mit dem Gesetz allein, noch mit dem Gesetz, vermischt mit Gnade; wir stehen in der Gegenwart der Gnade und Herrlichkeit, ohne das Gesetz. Und dies ist es, was der Apostel in 2. Korinther 3 uns zeigt. Er bezieht sich an dieser Stelle nicht auf die erste Darreichung der Gesetzestafeln, sondern ausschließlich auf den auf Gesetz und Gnade gegründeten Bund von 2. Mose 34, und er lässt uns sehen, dass der Dienst an jenem Tag ein Dienst des Todes und der Verdammnis war (V 7.9). Die Beweisführung ist folgende: Wenn ich es mit dem Gesetz zu tun habe, als demjenigen, welches mich regiert und unter welchem ich stehe, so werde ich, je mehr Barmherzigkeit offenbart wird, desto mehr schuldig sein, und Gott wird keineswegs den Schuldigen für schuldlos halten.
Dieser alles verurteilende Charakter des Gesetzes kam jedoch, solange Gott vor der Menschwerdung Christi sich mit dem Menschen beschäftigte, nicht völlig zum Vorschein. Erst als Christus erschien, hielt Er seine Grundsätze mit der äußersten Genauigkeit und mit aller Autorität aufrecht. Der Grund war folgender: Jetzt war einer da, der alle Schwierigkeiten beseitigen, jedem Bedürfnis begegnen und von allem Elend und aller Gefahr befreien konnte. Der Sohn Gottes war jetzt der Sohn des Menschen geworden, und der Sohn des Menschen war bereit, auf dem Kreuz zu leiden.
Daher steht unsere Stellung in bestimmtem und deutlichem Gegensatz zu dem Früheren. Der Apostel sagt: „Wenn aber der Dienst des Todes in Buchstaben, in Steine eingegraben, in Herrlichkeit ward, so dass die Kinder Israel das Angesicht Moses nicht unverrückt ansehen konnten wegen der Herrlichkeit seines Angesichts, die hinweggetan wird; wie wird nicht vielmehr der Dienst des Geistes in Herrlichkeit sein? Denn wenn der Dienst der Verdammnis Herrlichkeit ist, so ist vielmehr der Dienst der Gerechtigkeit überströmend in Herrlichkeit.“ Wir sind nicht in die Stellung der Kinder Israel versetzt, sondern der Apostel ist bemüht, uns zu zeigen, dass unsere Stellung derjenigen des Moses gleicht, welcher zu Gott herzunahte und in seiner Gegenwart die Decke wegnahm. Das ist das Kennzeichen unserer jetzigen Stellung. Mit einem Wort, es ist nicht mehr der Mensch mit einer Decke auf seinem Angesicht, während die Kinder Israel wegen des unerträglichen Glanzes desselben erschreckt sind, sondern der Mensch, mit aufgedecktem Angesicht in der Gegenwart Gottes stehend und seine Herrlichkeit anschauend.
Das ist unsere Stellung in der gegenwärtigen Zeit, die Stellung aller Christen, obwohl viele sie nicht kennen mögen. Dies tritt am deutlichsten in dem letzten Vers unseres Kapitels ans Licht. Der Apostel sagt dort: „Wir alle aber, mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anschauend, werden verwandelt nach demselben Bilde von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, als durch den Herrn, den Geist.“ „Wir alle“ steht im Gegensatz zu dem einen Menschen, Mose. Die Stellung des Christen wird durch Mose in der Gegenwart Gottes, nicht aber durch die Kinder Israel, in Gegenwart eines bedeckten Mose, vorgebildet. „Wir alle“, denn Gott macht in dieser Hinsicht nicht den geringsten Unterschied; der schwächste Christ hat vor Gott genau dieselbe Stellung, wie der stärkste. Solange es sich allein um unsere Stellung handelt, um die Wirkung oder das Resultat dessen, was der Herr Jesus erfüllt und uns in seiner Gnade gegeben hat, so gibt es keinen Unterschied irgendwelcher Art. Sobald aber die geistliche Kraft in Frage kommt, ist ein Unterschied da, und ein Raum für die größte Mannigfaltigkeit gegeben; gerade so wie es in dem ersten Adam, im Blick auf die allgemeine Tatsache, dass alle gesündigt haben, keinen Unterschied gibt, während bezüglich der Grenze, bis zu welcher der Mensch in der Sünde vorangeschritten ist, allerlei Abstufungen zu bemerken sind.
Genauso ist es mit dem zweiten Menschen, dem letzten Adam. Er hat alle, die Ihm jetzt angehören, auf diesen gemeinsamen Platz der Segnung gestellt. Wir alle schauen mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn. Das war es, was Mose schaute, und zwar immer nur für Augenblicke, während es unsere beständige Stellung ist. Ein Christ ist, solange er hienieden weilt und soweit das Werk Christi in Betracht kommt, berechtigt, Gott zu nahen, zu der Herrlichkeit emporzuschauen und selbst dort zu sein. Die Decke ist verschwunden, Christus ist aufgedeckt. Einst war eine Decke da, aber sie ist zerrissen. Es ist keine mehr vorhanden, weder auf dem Herzen des Gläubigen, noch auf dem Angesicht Jesu, noch endlich auf dem unsrigen. „Wir alle aber, mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anschauend, werden verwandelt nach demselben Bilde, von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, als durch den Herrn, den Geist.“
Was der Heilige Geist jetzt vor unsere Augen stellt, ist nicht bloß ein Heiland, der herniedergekommen ist in unser Elend, um unsere Ungerechtigkeiten und Sünden zu tragen, sondern Er zeigt uns, dass derselbe Heiland, nachdem das Werk der Gnade vollbracht war, als der Zeuge der Vollkommenheit desselben hinaufgestiegen ist in die Gegenwart Gottes; und Er ladet uns ein, unser Auge auf Ihn dort zu richten, der entsprechend der Vortrefflichkeit der Erlösung verherrlicht ist. Dies macht seine Gnade, die Er in seiner Herniederkunft gegen uns offenbart hat, nicht weniger köstlich, noch lässt es die Erlösung in einem geringeren Werte erscheinen. Gerade das Gegenteil ist der Fall. Zugleich drückt es allen unseren Wegen einen himmlischen Charakter auf. Und dies, und nichts weniger als das, ist unser Platz. „Wie der Himmlische, so sind auch die Himmlischen“; und „wie wir das Bild dessen von Staub getragen haben, so werden wir auch das Bild des Himmlischen tragen.“ Jetzt ist dies nur teilweise der Fall, und Zwar nach dem Maß, wie wir das eigene Ich richten; einst wird es in Vollkommenheit sein.
Was die praktische Wirkung dieser Stellung, das Zurückstrahlen der himmlischen Kraft von uns, hindert, ist die ungerichtete Tätigkeit unserer Natur. Wann handeln wir verkehrt? Wann bilden wir uns falsche Urteile und werden sorglos und weltlich? In demselben Mähe, wie wir aufhören, Christus anzuschauen, wie Er jetzt in der Herrlichkeit ist. Steht Christus stets vor unserer Seele, so werden wir vor allem Bösen bewahrt bleiben. Nichts verleiht eine solche Kraft, um die Verführungen der Welt und alles das, was anziehend und religiös in der Welt zu sein scheint, zu überwinden, als ein verherrlichter Christus. Ein Christus in der Herrlichkeit löscht das Licht der besten weltlichen Religion aus und lässt es neben seinem überwältigenden Glänze bleich und dunkel erscheinen. Wir werden aufgefordert, ja wir sind als Christen berufen, Ihn fortwährend in dieser Herrlichkeit anzuschauen. Der Herr gebe uns die Gnade, dass wir so wandeln! Die Frucht eines solchen Wandels wird nicht ausbleiben; wir werden „verwandelt werden nach demselben Bilde von Herrlichkeit zu Herrlichkeit.“
Zum Schluss noch ein kurzes Wort. Nichts ist gefährlicher, als mit der Wahrheit zu spielen; nichts verderblicher, als die herrlichsten Wahrheiten im Mund zu führen und in Bezug auf die Dinge des täglichen Lebens sorglos zu sein. Möchten wir dies nie vergessen! Es gibt nichts Traurigeres, als einen Christen über Auferstehung und Herrlichkeit, über Leben und alle die reichen Segnungen der christlichen Stellung sprechen zu hören und ihn zugleich seine gewöhnlichsten Pflichten vernachlässigen zu sehen. Möchte dies für uns alle ein Gegenstand ernster Selbstprüfung werden! Es ist dies eine der schlimmsten Schlingen Satans, besonders gefährlich für solche, die an eine Atmosphäre der Wahrheit gewöhnt sind und in einem Kreis leben, in welchem das Wort Gottes gleichsam die tägliche Hausspeise bildet. Aber es ist nur dann eine gefährliche Schlinge, wenn das Herz und das Auge sich von Christus abwenden. Nur da, wo Einfalt, verbunden mit einem aufrichtigen Selbstgericht, vorhanden ist, wird Kraft sein, um unserer hoben Berufung gemäß zu wandeln.