Botschafter des Heils in Christo 1881
Die zwei Scherflein
„Und Jesus saß dem Schatzkasten gegenüber und sah, wie die Volksmenge Münze in den Schatzkasten warst und viele Reiche warfen viel hinein. Und eine arme Witwe kam und warf zwei Scherflein hinein, das ist ein halber Kreuzer“ (Mk 12,41–42). Wie wenig wussten jene Leute davon, welche Augen auf ihnen ruhten, als sie ihre Opfergaben in den Schatzkasten warfen! Wie wenig dachten sie daran, dass sie von dem Einen beobachtet wurden, dessen Auge bis in die innersten Tiefen ihrer Herzen eindringen und dort die Beweggründe lesen konnte, welche sie bei ihrem Tun leiteten. Da kommt auf der einen Seite der stolze Pharisäer, prahlerisch seinen Reichtum und seine Frömmigkeit zur Schau tragend. Es ist eine bedeutende Summe, die er, allen sichtbar, in den Tempeltasten einlegt, und auf seinem Gesicht liest man deutlich die Frage: „Hast du auch gesehen, was ich getan habe? Hast du bemerkt, wie groß die Summe war?“ Da kommt von der anderen Seite der kalte herzlose Formenmensch. Nach seiner Gewohnheit greift er in die Tasche, zieht den für diesen Zweck ein für alle Mal bestimmten Betrag heraus, legt ihn in den Kasten und geht dann gleichgültig seines Weges weiter. Jesus sieht sie alle und – beurteilt sie alle.
Es ist gut, daran zu denken, dass Jesus uns sieht bei jeder Gelegenheit, wo wir aufgefordert werden, zu seiner Sache etwas beizutragen. Er sitzt dem Schatzkasten gegenüber, und sein heiliges, durchdringendes Auge ruht nicht auf der Börse, sondern auf dem Herzen. Er wägt nicht den Betrag ab, sondern den Beweggrund. Wenn das Herz in der richtigen Stellung ist, so wird auch der Betrag seinem Urteil entsprechend ein richtiger sein. Wo das Herz in Wahrheit für seine Person schlägt, da wird auch die Hand offen sein für seine Sache. Alle, welche wirklich Christus liebhaben, werden es als ihr hohes und glückseliges Vorrecht betrachten, sich selbst zu verleugnen, um zu seiner Sache etwas beitragen zu können. Es ist ohne Zweifel wunderbar, dass Er sich herablässt, uns um unsere Beiträge und Beihilfe zu bitten. Aber Er tut es, und es sollte unsere hohe und unaussprechliche Freude sein, seiner Bitte zu entsprechen, je nachdem Gott uns dazu in den Stand gesetzt hat. Vergessen wir nicht, dass Er einen fröhlichen Geber liebt; denn Er selbst ist – gepriesen sei sein herrlicher Name! – ein solch fröhlicher Geber.
Unter der Schar, die sich an den Schatzkasten herandrängte, – um ihre Gaben hineinzuwerfen, befand sich jedoch eine Person, welche die Aufmerksamkeit des Herrn in ganz, besonderer Weise auf sich zog. „Und eine arme Witwe kam und warf zwei Scherflein hinein, das ist ein halber Kreuzer.“ Das war in der Tat, an und für sich betrachtet, eine höchst kleine Summe. Aber denken wir an die Geberin. Sie war eine „Witwe“, und zwar eine „arme Witwe“, ein hilfloses, in dieser Welt alleinstehendes Geschöpf. Eine Witwe erweckt in uns stets den Gedanken an eine Person, die aller irdischen Hilfsmittel und aller menschlichen Stützen beraubt ist. „Die aber wirklich Witwe und vereinsamt ist, hofft auf Gott und verharrt in dem Flehen und in den Gebeten Nacht und Tag.“ Allerdings gibt es viele so genannte Witwen, die diesen Charakter durchaus nicht zur Schau tragen. Sie stehen ganz außer dem Bereich wahrer Witwenschaft. Der Heilige Geist entwirft in 1. Timotheus 5,11–13 ein treffendes Bild von dieser Art Witwen.
Doch die arme Witwe an dem Schatzkasten gehörte zu der Klasse der wahren Witwen. Sie war eine Witwe nach den Gedanken Christi. „Und Er rief seine Jünger herbei und sprach zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch: diese arme Witwe hat mehr hineingeworfen, denn alle, die in den Schatzkasten eingeworfen haben. Denn alle haben von ihrem Überfluss hineingeworfen, diese aber Hai von ihrem Mangel, alles, was sie hatte, hineingeworfen, ihren ganzen Lebensunterhalt“ (V 43–44).
Ohne Zweifel würden, wenn es damals, wie heute, Zeitungen und Tageblätter gegeben hätte, die fürstlichen Gaben der Reichen in den Spalten derselben einen bevorzugten Platz gefunden haben, während die arme Witwe und ihre Opfergabe mit verächtlichem Stillschweigen übergangen worden wären. Doch die Gedanken unseres anbetungswürdigen Herrn waren andere. Die zwei Scherflein der armen Witwe wogen auf seiner Waagschale weit schwerer, als alle die übrigen Gaben zusammengenommen. Es ist eine verhältnismäßig leichte Sache, von einem großen Vermögen Hunderte und Tausende zu geben; aber es ist nicht so leicht, eine einzige Bequemlichkeit um des Herrn willen aufzugeben. Und diese arme – Witwe gab nicht eine Bequemlichkeit auf, sie weihte dem Herrn nicht eine Sache, die sie leicht entbehren konnte, nein, sie gab für das Haus des Herrn ihren ganzen Lebensunterhalt. Das war es, was sie mit dem Herrn selbst in so nahe Geistesverwandtschaft brachte. Er konnte sagen: „Der Eifer um dein Haus hat mich verzehrt“; und sie konnte sagen: „Der Eifer um dein Haus hat meinen ganzen Lebensunterhalt verzehrt.“ Auf diese Weise kam sie dem Herrn sehr nahe. Welch ein Vorrecht!
Und beachten wir wohl, in welcher Form die arme Witwe ihren Lebensunterhalt besaß. Der Heilige Geist sagt ausdrücklich: Sie „warf zwei Scherflein hinein, das ist ein halber Kreuzer“ (wörtlich: ein Quadrans, der vierte Teil von einem römischen Aß) Weshalb das? Warum teilt Er uns nicht einfach mit, dass sie „einen halben Kreuzer“ einwarf? Weil dann der rührendste Zug in dieser Geschichte verloren gegangen wäre. Gerade jene Worte machen die Handlung der Witwe zu einer so überaus schönen. Hätte, sie ihren Lebensunterhalt in einem Stück besessen, so würde sie entweder alles oder gar nichts haben geben müssen. Da er aber in zwei Scherflein bestand, so war die Möglichkeit vorhanden, die Hälfte für ihren Unterhalt zurück zu behalten. Und sicher würden es die meisten von uns für einen Beweis von außerordentlicher Hingebung halten, wenn jemand für die Sache des Herrn die Hälfte von alle dem, was er in dieser Welt besäße, hingeben würde. Aber diese arme Witwe hatte ein ganzes, ungeteiltes Herz für Gott. Sie hielt gar nichts für sich zurück. Sie verlor sich selbst und ihre Interessen völlig aus dem Auge und gab ihren ganzen Lebensunterhalt für das her, was nach ihren Gedanken die Sache ihres Gottes bildete. Möchte der Herr auch in unseren Herzen etwas von diesem Geist wachrufen!