Betrachtungen über den Propheten Daniel
Botschafter des Heils in Christo 1881

Betrachtungen über den Propheten Daniel - Teil 15/16

Kapitel 11,36–45

Wir sind somit am Ende unseres Kapitels angelangt. Bevor wir jedoch zur Betrachtung des nächsten übergehen, wird es für den Leser von Interesse sein, noch einige Stellen aus anderen Teilen der Heiligen Schrift, die sich mit denselben Personen und Vorgängen beschäftigen, wie der Schluss des vorliegenden Kapitels, zu untersuchen. Wir müssen uns dabei natürlich auf die hauptsächlichsten beschränken. So heißt es z. B. am Schluss von Sacharja 11: „Denn siehe, ich werde einen Hirten im Land erwecken, der das Verkommene nicht besucht, das Junge nicht aufsucht und das Zerbrochene nicht heilt und das Gesunde nicht erhält und das Fleisch des Fetten isst und ihre Klauen zerreißt“ (V 16). Ich bin überzeugt, dass wir unter diesem bösen, falschen Hirten „den König“ oder den Antichristen zu verstehen haben, den Gott am Ende der Tage „im Land“, d. h. in Palästina, erwecken wird. Er bildet einen schrecklichen Gegensatz zu Christus, dem guten Hirten. Anstatt die Schafe aus– und einzuführen, sie zu weiden und auf Schritt und Tritt zu bewahren, vernachlässigt und verdirbt er sie. Er schont der Herde Gottes nicht, sondern „isst das Fleisch des Fetten und Zerreißt ihre Klauen.“ Doch „wehe dem nichtswürdigen Hirten, der die Herde verlässt!“ Der Zorn Gottes wird über ihn kommen. „Das Schwert über seinen Arm und sein rechtes Auge! Sein Arm wird ganz verdorren, sein rechtes Auge ganz erlöschen.“ Zu derselben Zeit, wenn dieser Hirte sein böses Werk in Jerusalem und dem Land der Zierde vollbringt, wird sich auch die Prophezeiung über Israel erfüllen, die uns im 12. Kapitel des Propheten Sacharja mitgeteilt wird: „Siehe, ich werde Jerusalem zu einem Taumelkelch machen allen Völkern ringsum, und auch wider Juda wird die Belagerung von Jerusalem sein“ (V 2). Alle Völker ringsum, von Nord und Süd, werden sich um Jerusalem versammeln und es belagern. Obwohl mit etwas anderen Worten ausgedrückt, weil hier Jerusalem und Israel den Hauptgegenstand der Prophezeiung bilden, finden wir doch dieselben Ereignisse wieder wie in den letzten Versen von Daniel 11. Es ist die Zeit des Endes. Israel befindet sich unter der schrecklichen Herrschaft des Antichristen, und von außen erscheinen mächtige Feinde, um es zu ängstigen und zu unterdrücken. Doch seine Läuterungsperiode ist bald vorüber. Allein „es wird geschehen an selbigem Tag, da werde ich Jerusalem zu einem Laststein machen allen Völkern; alle, die sich damit beladen, werden gewiss zerschnitten werden, und alle Nationen der Erde werden sich Wider sie sammeln“ (V 3). An jenem Tag wird sich der Herr selbst mit seinem Volk wieder vereinigen, und alle seine Feinde werden zu Schanden werden. Er wird sich wieder zu Juda bekennen und den wenigen Getreuen Gnade und Barmherzigkeit beweisen. „An selbigem Tag, spricht Jehova, werde ich alle Rosse mit Scheu und ihre Netter mit Wahnsinn schlagen, aber über das Haus Juda werde ich meine Augen öffnen“ (V 4).

Ehe jedoch die Befreiung des Volkes durch die mächtige Erscheinung des Herrn zur Tatsache wird, fällt Jerusalem einer nochmaligen Zerstörung durch die Nationen anheim. Dies wird uns im 14. Kapitel des Propheten Sacharja mitgeteilt: „Und ich werde alle die Nationen sammeln wider Jerusalem zum Streit, und die Stadt wird eingenommen, und die Häuser werden geplündert und die Weiber geschändet werden, und die Hälfte der Stadt wird ausziehen in Gefangenschaft, aber das übrige Volk wird nicht aus der Stadt ausgerottet werden“ (V 2). Dass wir es hier nicht mit der Einnahme Jerusalems durch Nebukadnezar oder durch die Römer zu tun haben, wie man vielleicht denken könnte, geht sowohl aus dem Wortlaut der Stelle, als auch aus dem Zusammenhang, in welchem sie zu dem übrigen Kapitel steht, hervor. In beiden Fällen wurden alle Einwohner der Stadt, die nicht dem Schwert der Sieger zum Opfer fielen, in die Gefangenschaft geführt. Hier aber hören wir, dass nur „die Hälfte der Stadt ausziehen wird in Gefangenschaft“, während die Übrigen verschont bleiben. Es handelt sich hier deshalb gar nicht um die Belagerung Jerusalems durch die Chaldäer oder Römer, sondern um die Einnahme der heiligen Stadt durch die um sie versammelten Nationen in den letzten Tagen. Jeder Zweifel hierüber wird schwinden, wenn wir im weiteren Verlauf des Kapitels lesen: „Und Jehova wird ausziehen und wider selbige Nation streiten, wie an dem Tag, da Er gestritten hat am, Tage des Streits. Und seine Füße werden an selbigem Tag stehen auf dem Ölberg, der vor Jerusalem gegen Osten ist, und der Ölberg wird gespalten werden in seiner Mitte gegen Osten und gegen Westen, in ein sehr großes Tal, und die Hälfte des Berges wird nach Norden und seine andere Hälfte nach Süden weichen“ (V 3–4). Wer könnte behaupten, dass dies jemals geschehen sei? Haben die Füße des Herrn, als eines Streiters und Eroberers, jemals auf dem Ölberg gestanden? Sicherlich nicht. Der Herr ist seit den Tagen des Propheten bis auf den heutigen Augenblick in diesem Charakter nie in Jerusalem erschienen. Zudem redet diese Stelle von dem Ende der Zeiten der Nationen und von dem Hinwegtun ihrer Herrschaft. Bis heute hat diese Herrschaft noch fortgedauert, bis heute ist Jerusalem noch im Besitz der Ungläubigen und das Volk der Juden ein Gegenstand des Spottes und der Verachtung. Sobald aber jener Tag anbrechen wird, von welchem in der Prophezeiung die Rede ist, wird Jehova für sein Volk gegen jene Nation streiten; seine Füße werden auf dem Ölberg stehen, und dieser wird sich in zwei Teile spalten und ein großes Tal bilden, durch welches die verfolgten Juden vor der Wut ihrer Bedränger fliehen können. „Und ihr werdet durch das Tal meiner Berge fliehen – denn das Tal der Berge wird bis Azal reichen und ihr werdet fliehen ... Und es wird kommen Jehova, mein Gott, und alle Heiligen mit dir“ (V 5). Wie es mir scheint, bezieht sich der 2. Vers unseres Kapitels auf das erste Eindringen der Könige des Südens und des Nordens in Palästina, wovon Daniel im 40. und 41. Verse des 11. Kapitels spricht. Der König des Nordens, als der mächtigere, treibt seinen Gegner nach Ägypten zurück, unterwirft ganz Palästina, erobert Jerusalem und führt die Hälfte der Bewohner in die Gefangenschaft. Den Überrest bewahrt der Herr für sich auf, um ihn zu läutern und zu prüfen. „Und es wird geschehen im ganzen Land, spricht Jehova, zwei Teile darin werden ausgerottet werden und sterben, aber das dritte Teil wird übrigbleiben. Und ich werde dies dritte Teil ins Feuer bringen und werde sie läutern, wie man Silber läutert, und werde sie prüfen, wie man Gold prüft. Es wird meinen Namen anrufen, und ich werde es erhören; ich werde sagen: Es ist mein Volk; und es wird sagen: Jehova ist mein Gott“ (V 8–9).

Von Ägypten zurückgekehrt, zieht der König des Nordens, wie wir oben sahen, von neuem gegen Jerusalem herauf. „Die Zelte seines Palastes wird er aufschlagen zwischen den Meeren und dem Berg der heiligen Zierde“; aber dann wird Jehova selbst wider ihn ausziehen und mit ihm und seinen Heeren streiten und sie vernichten. Diese letzten Ereignisse sind es, die uns in Sacharja 14,3–4 vor Augen geführt werden.

In Jesaja 28 und 29 finden wir ebenfalls viele Anknüpfungspunkte an den Gegenstand unserer Betrachtung, und zugleich eine genaue Bestätigung des schon Gesagten. Ich übergehe hier jedoch das 28. Kapitel, da der Inhalt desselben dem Leser noch gegenwärtig sein wird. Bei dem 29. Kapitel möchte ich indessen noch einen Augenblick verweilen. Dasselbe beginnt mit den Worten: „Wehe Ariel, Ariel, Stadt des Lagers Davids! ... Und ich will Ariel bedrängen, und es wird Trauer und Traurigkeit sein, und sie wird mir sein wie Ariel. Und rings um dich her werbe ich ein Lager aufschlagen und dich einengen mit Heeresaufstellung und eine Verschanzung wider dich aufrichten“ (V 1–3). Hier haben wir dieselbe Belagerung Jerusalems, von der in Sacharja die Rede ist. „Und du wirst erniedrigt sein, wirst aus der Erde reden, und deine Sprache wird unten aus dem Staub kommen, und deine Stimme wird sein wie eines Zauberers aus der Erde, und deine Sprache wird aus dem Staub zirpen“ (V 4). Welch ein Bild der tiefsten Bedrängnis des Volkes, wenn die Stadt der Wut des Eroberers preisgegeben sein wird! Aus dem Staub wird ihre Sprache Zirpen. Doch es ist nur für eine Zeit, um ihre Herzen zu demütigen und sie zu läutern und zu prüfen. Sobald der Herr seinen Zweck bei ihnen erreicht hat, erscheint Er auf dem Schauplatz zu ihrer Rettung. Die nächsten Verse schildern in erhabener Sprache diese herrliche Dazwischenkunft Jehovas. „Und wie seiner Staub wird sein die Menge deiner Fremden, und wie vorüberziehende Spreu die Menge der Gewaltigen, und plötzlich, in einem Augenblick wird es geschehen. Du wirst von Jehova der Heerscharen heimgesucht werden mit Donner und Erdbeben und großem Getöse, mit Wirbelwind und Ungewitter und verzehrendem Feuer. Und wie der Traum eines Nachtgesichts wird sein die Menge aller Nationen, die da streiten Wider Ariel, und alle, die da Krieg führen Wider sie und ihre Festung und sie bedrängen“ (V 5–7). Der Herr, Jehova selbst, wird streiten wider die Nationen, die Jerusalem belagern, und sie machen wie Spreu vor dem Wind. Es ist die Schlussszene der Herrschaft der Nationen. Nachdem sie Gott Jahrtausende hindurch in bewunderungswürdiger Langmut und Geduld getragen hat, wird Er jene Gelegenheit der Belagerung Jerusalems benutzen, um mit ihnen abzurechnen und sie zu richten. Wir dürfen dieses Gericht jedoch nicht mit dem letzten Endgericht vor dem großen weißen Thron verwechseln (Off 20,11–15). Dort wird es sich handeln um alle die Toten, deren Namen nicht geschrieben sind in dem Buch des Lebens, während hier Völker und Könige Gegenstände des Gerichts sind. Kapitel 12

Das letzte Kapitel unseres prophetischen Buches beschäftigt sich, wie schon wiederholt bemerkt, mit den Einzelheiten der Handlungen Gottes mit seinem Volk am Ende der Tage. Die Geschichte der Nationen ist beendet. Die Könige des Nordens und des Südens sind gerichtet. „Der König“, jener böse, eigenwillige Beherrscher und „nichtswürdige Hirte“ der Juden in den letzten Tagen, ist in den See geworfen, der mit Feuer und Schwefel brennt. Eine wichtige Frage bleibt noch zu erledigen: Was wird der Zustand Israels zu jener Zeit sein, und was wird aus dem treuen Überrest werden? Auf diese Frage gibt uns der Gott aller Gnade in dem vorliegenden Kapitel Antwort. 1

„Und zu selbiger Zeit wird Michael aufstehen, der große Fürst, der für die Kinder deines Volkes steht“ (V 1). Wir begegnen hier wieder demselben Ausdruck, wie im 9. Kapitel: „Dein Volk.“ Ich brauche nicht zu wiederholen, dass es sich um das Volk Israel handelt – um jenes Volk, welches die ganze Liebe und Zuneigung des Propheten besaß. „Und zu selbiger Zeit wird Michael aufstehen.“ Es ist die Zeit, in welcher die letzten Ereignisse des vorigen Kapitels spielten, die Zeit des Endes. Nachdem der König des Nordens zu seinem Ende gekommen ist, ohne einen Helfer zu haben, tritt ein Wechsel in der Geschichte Israels ein. Michael, der große Fürst, der für die Kinder des Volkes Israel steht, erhebt sich, um die großen Ratschlüsse Gottes in Bezug auf die Befreiung Israels zu vollenden. Er steht auf zu Gunsten der unglücklichen Nation, um ihre Feinde niederzuwerfen und sie in die verheißenen endlichen Segnungen einzuführen. Allein bevor dies letztere völlig geschehen kann, muss die Not und Bedrängnis des Volkes den höchsten Gipfelpunkt erreichen.

„Und es wird sein eine Zeit der Drangsal, die nicht gewesen, seit eine Nation gewesen bis zu selbiger Zeit. Und in selbiger Zeit wird dein Volk errettet werden, ein jeglicher, der im Buch geschrieben gefunden wird“ (V 1). Diese Worte Zeigen wieder deutlich, von welcher Zeit die Rede ist. Es handelt sich weder um die Zeit der babylonischen Gefangenschaft, noch um die Eroberung Jerusalems durch die Römer. Ein einziger Blick auf den gegenwärtigen Zustand Jerusalems und des jüdischen Volkes muss uns belehren, dass die Prophezeiung noch nicht ihre Erfüllung gefunden haben kann. Ist Israel errettet und befreit? Im Gegenteil. Es irrt nach wie vor unstet auf der Erde umher, zerstreut unter allen Völkern und Sprachen, verachtet und geringgeschätzt bei allen Nationen.

Der Prophet Jeremia spricht von dieser selbigen Zeit der Drangsal und endlichen Befreiung Israels. Er sagt im 30. Kapitel: „Und dies sind die Worte, die Jehova geredet von Israel und Juda. Denn so spricht Jehova: Die Stimme des Schreckens hören wir, da ist Furcht und kein Friede. Fragt doch und seht, ob ein Mannsbild gebiert? Warum sehe ich eines jeglichen Mannes Hände auf seinen Lenden gleich einer Gebärerin, und jegliches Angesicht in Blässe verwandelt? Wehe! denn groß ist dieser Tag, dass seines Gleichen nicht gewesen; und es ist eine Zeit der Bedrängnis für Jakob; dennoch wird er daraus errettet werden. Denn es wird geschehen an selbigem Tag, spricht Jehova der Heerscharen, dass ich sein Joch von deinem Hals zerbrechen werde usw“ (V 4–10). Die Sprache des Propheten ist so klar und deutlich, dass sie keiner weiteren Erklärung bedarf. In dem Propheten Jesaja gibt es ebenfalls Zahlreiche Stellen, die von jener Zeit der Drangsal des Volkes und seiner endlichen Befreiung reden, allein der Raum dieser Blätter gestattet nicht, näher darauf einzugehen (Ich mache nur aufmerksam auf die Kapitel 1; 2;10; 17;22; 24–35; 49–66).

Aber nicht nur bietet das Alte Testament solche Stellen; auch das Neue enthält Aussprüche, die ein helles Licht über den vorliegenden Gegenstand verbreiten, und zwar Aussprüche aus dem Mund des Sohnes Gottes selbst. Die Jünger, verwundert über die Worte des Herrn im Blick auf den prächtigen herodianischen Tempel: „Wahrlich, ich sage euch: es wird hier nicht ein Stein auf dem Anderen gelassen werden, der nicht abgebrochen wird“ – fragen Ihn, wann diese schreckliche Katastrophe eintreten würde. „Sage uns, wann wird dies geschehen, und welches ist das Zeichen deiner Ankunft und der Vollendung des Zeitalters?“ (Mt 24,1–3) Beachten wir den Wortlaut dieser Frage. Es handelt sich hier nicht um den endgültigen Untergang der Erde und um die bevorstehende Umwälzung des ganzen Wellensystems, sondern um die Vollendung des Zeitalters, d. h. um die Beendigung der jetzigen Ordnung der Dinge, oder der augenblicklichen Verwaltung Gottes bezüglich der Erde. Der Herr antwortet ihnen, indem Er sie warnt, sich von niemandem verführen zu lassen, da viele unter seinem Namen kommen und sagen würden: „Ich bin der Christus.“ Er sagt ihnen, dass sich nach wie vor Nation Wider Nation und Königreich wider Königreich erheben, und dass Hungersnot, Seuchen und Erdbeben sein würden an verschiedenen Orten. Alles das aber sei noch nicht die Vollendung des Zeitalters. „Dies alles aber ist der Anfang der Wehen“ (V 8). Es ist nur die Vorbereitung für jene schreckliche Krisis. „Dann werden sie euch in Drangsal überliefern und euch töten, und ihr werdet gehasst werden von allen Nationen um meines Namens willen“ (V 9). Bis zum Schluss des 14. Verses fährt der Herr fort, in dieser allgemeinen Weise zu sprechen. Dann aber versetzt Er seine Zuhörer im 15. Verse plötzlich nach Jerusalem und nach dem Land Juda, indem Er ihre Aufmerksamkeit auf dasselbe Buch lenkt, welches wir eben betrachten. „Wenn ihr nun sehen werdet den Gräuel der Verwüstung – wovon durch Daniel, den Propheten, geredet ist – stehend an heiligem Ort, (wer es liest, der beachte es) dass alsdann, die in Judäa sind, auf die Berge fliehen usw.“

Es kann kaum ein Zweifel darüber herrschen, was unter dem Ausdruck „heiliger Ort“ zu verstehen ist. Wenn in dem Wort Gottes von dem „heiligen Orte“, als einem von der übrigen Erde abgesonderten Platze, die Rede ist, so haben wir stets an den Platz der Anbetung Israels, an das Heiligtum Jehovas in Jerusalem, zu denken. An diesem heiligen Orte wird einst „der Gräuel der Verwüstung“ stehen, sobald er aufgerichtet ist, werden alle, die in Judäa sind, aufgefordert, auf die Berge zu fliehen. Es handelt sich hier durchaus nicht um die Nationen, noch weniger um die Versammlung oder Kirche Gottes. Es sind die in ihr Land zurückgekehrten gläubigen Juden, welche der Herr ermahnt, der Wut ihrer Feinde durch die Flucht auf die Berge zu entrinnen. „Wehe aber den Schwangeren und den Saugenden in jenen Tagen! Betet aber, auf dass eure Flucht nicht geschehe im Winter, noch am Sabbat“ (V 20–21). Wenn noch irgendein Zweifel über die Frage, an welche Personen sich die Aufforderung des Herrn richtet, bestehen könnte, so muss er hier schwinden. Weder die Nationen, noch die Kirche haben etwas mit dem Sabbat zu tun. Er ist ein Zeichen zwischen Gott und Israel. „Denn alsdann wird eine große Drangsal sein, dergleichen von Anfang der Welt bis jetzt nicht gewesen ist und auch nicht werden wird“ (V 22). Ich weiß wohl, dass diese Worte von vielen auf die Zerstörung Jerusalems durch Titus bezogen werden. Allein man vergisst dabei eine sehr wichtige Sache. Der Herr sagt im 29. und den folgenden Versen: „Alsbald aber nach der Drangsal jener Tage wird die Sonne verfinstert werden und der Mond seinen Schein nicht geben. ... Und dann wird das Zeichen des Sohnes des Menschen erscheinen in dem Himmel; und dann werden wehklagen alle Stämme des Landes, und sie werden sehen den Sohn des Menschen, kommend auf den Wolken des Himmels mit Macht und großer Herrlichkeit. Und Er wird seine Engel senden mit großem Posaunenschall, und sie werden versammeln seine Auserwählten von den vier Winden, von den äußersten Enden des Himmels bis zu ihren äußersten Enden“ (V 29–31). Wenn jene Behauptung bezüglich der Belagerung und Zerstörung Jerusalems richtig wäre, so müsste alles dieses schon geschehen sein; denn „sogleich nach der Drangsal jener Tage wird die Sonne verfinstert werden usw.“ Doch ich frage nur: Ist nach der Zerstörung Jerusalems der Sohn des Menschen gekommen auf den Wolken des Himmels mit Macht und großer Herrlichkeit? Hat Er seine Engel ausgesandt, um seine Auserwählten von allen Enden der Erde zu sammeln? Die Antwort auf diese Fragen ist einfach. Das Volk der Juden ist nicht gesammelt. Der Herr ist nicht gekommen, sondern sitzt noch zur Rechten des Vaters und wartet, bis alle seine Feinde gelegt sind zum Schemel seiner Füße.

Ebenso wenig ist die Prophezeiung Daniels bis jetzt in Erfüllung gegangen. Weder ist die Zeit der großen Drangsal angebrochen, noch hat sich Michael, der Engelfürst, erhoben, um sein Volk zu erretten. Beides lässt sich nicht voneinander trennen. Wenn das Eine noch seiner Erfüllung entgegensieht, so muss dies auch mit dem Anderen der Fall sein. Denn „zu selbiger Zeit wird Michael aufstehen ... und es wird sein eine Zeit der Drangsal. ... Und in selbiger Zeit wird dein Volk errettet werden.“

Es unterliegt also keinem Zweifel, dass auch das Neue Testament die Prophezeiungen des Alten genau bestätigt. Ein Prophet nach dem Anderen hatte von einer Zeit großer Drangsal geredet, die über Israel kommen sollte, sowie von der Befreiung des Volkes als deren unmittelbarer Folge. Die Worte unseres Herrn selbst bestätigen diese Aussprüche der Propheten. Sind dieselben bis jetzt noch nicht erfüllt, so geziemt es uns, mit Ruhe zu warten, bis Gott es an der Zeit hält, seine Worte wahr zu machen. Er wird es tun, denn Er ist kein Mensch, dass Er lügen, oder dass Ihn etwas gereuen könnte. Kein Jota, kein Strichlein von dem Wort Gottes wird vergehen, bis alles erfüllt ist. „Der Himmel und die Erde werden vergehen, meine Worte aber vergehen nicht“ (Mt 24,35). (Schluss folgt)

Fußnoten

  • 1 Es mag hier die Bemerkung Platz finden, dass Daniel nie auf die herrliche Zeit der Herrschaft des Herrn über diese Erde eingeht, sondern uns immer nur bis zur Aufrichtung derselben führt und dann plötzlich abbricht. Er redet von den ihr vorhergehenden Ereignissen; er teilt uns die Geschichte der heidnischen Monarchien und der Unterdrücker und Verführer der Juden in den letzten Tagen mit; er spricht von der Ausübung der Gerichte über die Nationen und Israel, und redet davon, dass das Königreich, welches der Gott des Himmels aufrichtet, die ganze Erde ausfüllen wird; aber eine nähere Beschreibung dieses Königreiches suchen wir in seinem Buch vergebens. Es lässt sich dies wohl dadurch erklären, dass der Heilige Geist bereits durch andere Propheten von dieser Herrschaft des Messias über Israel und von der Segnung, die dann das Teil des Volkes sein würde, gesprochen hatte, und dass Er im Begriff stand, denselben Gegenstand durch die späteren Propheten, die nach der babylonischen Gefangenschaft lebten, wiederaufzunehmen. Dies letztere ist von der höchsten Wichtigkeit, da es alle die Beweisführungen derer, die in der Rückkehr Israels von Babylon die Erfüllung der Prophezeiungen zu sehen meinen, hinfällig macht. Das Volk genoss nach der Gefangenschaft nicht die verheißenen reichen Segnungen, sondern befand sich in einem höchst traurigen Zustand.
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