Betrachtungen über den Propheten Daniel
Botschafter des Heils in Christo 1881

Betrachtungen über den Propheten Daniel - Teil 12/16

Kapitel 11,1–35

Gestärkt durch die Berührung und durch die trostreichen Worte des Engels, ist der Prophet jetzt fähig, die göttlichen Mitteilungen entgegenzunehmen. „Und ich, ich stand im ersten Jahre Darms, des Meders, um ihn zu befestigen und zu stärken“ (V 1). Es ist hier derselbe Sprecher, wie im vorigen Kapitel, und dies liefert uns einen neuen Beweis, wie innig die Engel als Täter des Wohlgefallens Gottes und als Vollstrecker seiner Ratschlüsse mit den Ereignissen auf dieser Erde in Verbindung stehen (Ps 103,20–21).

„Und ich will dir nun die Wahrheit anzeigen: Siehe, es werden noch drei Könige in Persien aufstehen“ (V 2). Der Leser wird sich erinnern, dass die Prophezeiung im dritten Jahre Kores, des ersten persischen Königs, gegeben wurde. Nach ihm sollten noch drei Könige in Persien aufstehen. Die Geschichte hat uns die Namen derselben aufbewahrt, allein wir haben nicht nötig, menschliche Hilfsmittel bei der Betrachtung des Wortes Gottes in Anspruch zu nehmen. Die Schrift selbst gibt uns genügenden Aufschluss. Sie ist ein harmonisch vollendetes Ganzes, dessen erhabene Schönheit und Fülle kein Mensch auszusprechen und keine Feder zu beschreiben vermag. Gott selbst hat durch seine inspirierten Schreiber geredet, und daher ist alles vollkommen und ohne Makel. Kein Wort ist zu viel, keins zu wenig. Zwischen den einzelnen Teilen der Heiligen Schrift herrscht ein so inniger Zusammenhang und eine so genaue Übereinstimmung, dass den unterwürfigen und einsichtsvollen Leser stets neues Staunen und neue Bewunderung ergreift. Das eine Buch erklärt das Andere, diese Stelle verbreitet Licht über jene. So ist es auch hier. Das vierte Kapitel des Buches Esra ergänzt die Mitteilungen, die der Engel dem geliebten Knechte Gottes gibt. Wir lesen dort, dass die Feinde Israels versuchten, die an dem Bau des Tempels beschäftigten Juden auf alle mögliche Weise zu behindern. „Und sie dingten Ratgeber wider sie, um ihren Entschluss zu vereiteln, alle die Tage Kores, des Königs von Persien, und bis an das Königreich Darms, des Königs von Persien“ (V 5). Ihr böser Anschlag gelang. Auf Befehl des Königs musste der Bau des Tempels eingestellt werden, und zwar solange, bis der König Darms zur Regierung kam. Die Verse 6–23 bilden eine Parenthese und erzählen uns die Geschichte des zwischen dem Tod des Königs Kores und dem Regierungsantritt des Darius 1 liegenden Zeitabschnitts. In dem 6. Verse heißt es: „Und unter dem Königreich des Ahasveros, im Anfang seines Königreiches, schrieben sie (jene Feinde und Verleumder der Juden) eine Anklage wider die Bewohner Judas und Jerusalems.“ Hier haben wir den König, der dem Kyrus zunächst in der Regierung folgte – Ahasveros. Sein geschichtlicher Name ist Kambyses. Der nächste Vers führt seinen Nachfolger ein. „Und in den Tagen Artasasthas schrieben Bislam usw.“ Dieser Artasastha ist wohl zu unterscheiden von dem König gleichen Namens, unter welchem Nehemia lebte. Derselbe regierte zu einer viel späteren Zeit und trägt in der Geschichte den Namen Artaxerxes Longimanus. Der in Esra erwähnte Regent wird von den Geschichtsschreibern Pseudo–Smerdis oder Smerdis, der Magier, genannt. Er regierte nur wenige Monate und entstammte der Sage nach nicht dem königlichen Geschlecht, sondern war ein Magier, d. h. ein hervorragender persischer Priester. Daher auch sein Beiname. Er bemächtigte sich nach dem Tod des Kambyses der Herrschaft, da dieser keine männlichen Erben hinterließ, wurde aber von Darius (dem Perser) bald nach seinem Regierungsantritt gestürzt und getötet. Esra führt diesen König Darius am Schluss des vierten Kapitels an. Dies sind also die drei Könige, von welchen die Prophezeiung redet. Sie herrschten nach Kyrus und tragen in der Schrift die Namen Ahasveros, Artasastha und Darius, während sie in der profanen Geschichte als Kambyses, Pseudo–Smerdis oder Smerdis, der Magier, und Darius Hystaspes bekannt sind.

„Und der Vierte wird sich bereichern mit großem Reichtum, mehr denn alle; und wenn er durch seinen Reichtum sich befestigt hat, wird er alle erregen Wider das Königreich Griechenland.“ Ohne Zweifel haben wir es hier mit Xerxes I., dem Sohn des Darius Hystaspes, zu tun, der seinem Vater nach dessen Tod in der Regierung folgte. Sein Reichtum ist sprichwörtlich bekannt, und er war es, der beinahe das ganze damals bekannte Asien gegen Griechenland in Bewegung setzte. Er bot alle die Ungeheuern Kräfte seines Reiches auf, um die Eroberung des kleinen Ländchens, die sein Vater schon zweimal vergeblich versucht hatte, auszuführen. Erzürnt über die wiederholten Misserfolge hatte schon Darius die umfassendsten Vorbereitungen zu einem dritten Zug gegen das kleine, aber tapfere und heldenmütige Volk der Griechen getroffen. Nach seinem Tod setzte Xerxes die gewaltigen Rüstungen fort und brachte ein Heer auf die Beine, wie es die Welt bisher nicht gesehen hatte. Xerxes selbst stellte sich an die Spitze seiner Truppen. Zahllosen Heuschreckenschwärmen gleich überfluteten die unabsehbaren Scharen die griechische Halbinsel. Doch schon am Thermopylen–Pass brachen sich die gewaltigen Wogen für einen Augenblick an dem hartnäckigen Widerstand des Spartaners Leonidas und seiner todesmutigen Schar; der Verlust der Seeschlacht von Salamis zwang den Perserkönig, der bereits über seine Feinde zu triumphieren meinte, zu einem schimpflichen Rückzug nach Asien. Der Krieg hatte ihm ungeheure Verluste an Schätzen und Menschenleben gebracht.

Ungefähr 150 Jahre später nahmen die Griechen unter Anführung Alexanders des Großen, des Königs von Mazedonien, furchtbare Rache an ihren Erbfeinden. „Und es wird ein gewaltiger König aufstehen, der wird herrschen mit großer Herrschaft und wird nach seinem Wohlgefallen tun“ (V 3). Der Heilige Geist überspringt jenen Zeitraum von 150 Jahren und geht von Xerxes sogleich auf Alexander über. Er erwähnt nur die wichtige Tatsache, welche Anlass zu dem Sturz des persischen Reiches gab – den Einfall in Griechenland – und führt dann direkt jenen gewaltigen König ein, der einen völligen Umschwung in der Geschichte des Ostens hervorbringen sollte. „Er wird herrschen mit großer Herrschaft und nach seinem Wohlgefallen tun. Und wenn er aufstehen wird, soll sein Reich Zertrümmert werden nach den vier Winden des Himmels.“ Dies geschah, wie wir wissen, bei dem Tod Alexanders. Nach kurzer Herrschaft starb der große Eroberer in der Fülle seiner Kraft, und sein Reich zerfiel in vier gewaltige Bruchstücke. Es ward zertrümmert und verteilt nach den vier Winden des Himmels, „aber nicht für seine Nachkommenschaft, auch nicht nach seiner Herrschaft, wie er geherrscht hat; denn sein Reich wird zerstört werden, und zwar für andere, nicht für jene“ (V 4). Wir hatten im Lauf unserer Betrachtung schon mehrfach Gelegenheit, zu bemerken, dass nicht ein Sohn Alexanders oder ein Glied seiner Familie ihm nach seinem Tod in der Regierung folgte, sondern dass vier seiner mächtigsten Feldherren sich in das ungeheure Reich teilten (vgl. Kap 7,6; 8,8). Dasselbe wird hier in den bestimmtesten Ausdrücken festgestellt.

„Und der König des Südens, der einer von seinen Fürsten ist, wird stark werden; aber ein anderer wird stärker werden denn er und wird herrschen, und seine Herrschaft wird eine große Herrschaft sein“ (V 5). Zwei von jenen vier Fürsten sollten, wie der Heilige Geist uns hier mitteilt, zu einer besonderen Machtstellung gelangen. Sie werden in dem folgenden Vers der König des Nordens und der Könige des Südens genannt. Diese Bezeichnung, ist charakteristisch. Das Volk Israel und sein Land bilden in den Augen und den Gedanken Gottes in Bezug auf diese Erde immer den Hauptgegenstand, den Mittelpunkt. Von dort aus wird alles gerechnet. Wenn wir daher von einem König des Nordens lesen, so ist darunter der Beherrscher der nördlich von Palästina gelegenen Länder zu verstehen, während auf der anderen Seite der Titel „König des Südens“ jenen Fürsten beigelegt wird, deren Reich sich im Süden des gelobten Landes befand. Die erste Benennung bezeichnet also den König von Syrien, die Zweite denjenigen von Ägypten (V 8). Diese beiden Fürsten und ihre Länder bilden durch das ganze Kapitel hindurch (mit Ausnahme der Verse 36–39) den Gegenstand der Prophezeiung, während die beiden anderen aus dem Zusammensturz der mazedonischen Herrschaft entstandenen Reiche gar nicht erwähnt werden. Dies hat wieder darin seinen Grund, dass die ersteren in direkter Verbindung mit dem Land und Volk der Juden standen, während die beiden anderen wenig oder gar nichts damit zu tun hatten.

Zunächst beschäftigt sich die Prophezeiung mit dem König des Südens, dem Herrscher von Ägypten. Er war einer von den Fürsten oder Feldherren des großen Alexander; sein Name Ptolemäus. Bei der Teilung des Reiches in den Besitz des reichen und bevölkerten Nillandes gekommen, war er darauf bedacht, seine Herrschaft immer mehr zu befestigen und auszudehnen. „Er wird stark werden.“ Zuerst nur Statthalter von Ägypten und Lybien, nahm er später den Königstitel an. Er wurde der Gründer des Fürstengeschlechts der Ptolemäer, auch Lagiden genannt. „Aber ein anderer wird stärker werden denn er und wird herrschen, und seine Herrschaft wird eine große Herrschaft sein“ (V 5). Dieser andere Fürst ist, wie aus dem Folgenden hervorgeht, der erste König des Nordens, Seleukus I., mit dem Zunamen Nikator, der Stammvater der Seleukiden. Das von ihm gestiftete Reich umfasste alle asiatischen Länder vom Hellespont bis an den Indus und Jaxartes, bestand also ungefähr in den Grenzen, welche einst Kyrus dem persischen Reiche gegeben hatte. Nur einige Gebiete hatten sich wieder unabhängig gemacht. Das Hauptland bildete jedoch Syrien mit der von Seleukus erbauten Residenzstadt Antiochia am Orontes. Gott hält es für gut, uns aus der Geschichte dieses Königs und seiner Nachkommen eine Reihe von Einzelheiten mitzuteilen, und zwar bei aller Kürze mit einer Genauigkeit, die unser tiefes Staunen erregen muss. Die Prophezeiung folgt hier beinahe zwei Jahrhunderte hindurch dem Lauft der Geschichte der beiden Reiche Syrien und Ägypten und führt die verschiedenen Könige, die während dieser Zeit nacheinander die Herrschaft besaßen, immer unter demselben Namen oder Titel, als Könige des Nordens und Südens, vor unsere Augen.

„Und nach Verlauf von Jahren werden sie (die Könige des Nordens und des Südens) sich miteinander verbinden; und die Tochter des Königs des Südens wird zu dem König des Nordens kommen um Ausgleichung zu bewirken; allein sie wird die Macht des Armes nicht behalten, und er und sein Arm wird nicht bestehen, und sie wird hingegeben werden, sie und die sie gebracht haben, und der sie gezeugt und der sie in jenen Tagen gestärkt hat“ (V 6). Die beiden Könige, von welchen in diesem Vers die Rede ist, sind schon nicht mehr dieselben Personen, wie in dem vorigen, sondern ihre beiderseitigen Nachkommen. Um dem langjährigen, immer wieder von neuem auflodernden Zwist zwischen beiden Königshäusern ein Ende zu machen, begann der Enkel des Seleukus Nikator, Antiochus II., mit dem Beinamen „der Gott“, Unterhandlungen mit dem damaligen König des Südens, Ptolemäus II., Philadelphus, und heiratete dessen Tochter Berenike, nachdem er seine frühere Gemahlin Laodice verstoßen hatte. „Die Tochter des Königs des Südens wird zu dem König des Nordens kommen, um Ausgleichung zu bewirken.“ Allein dieser Versuch zur Errichtung eines Freundschaftsbundes zwischen Syrien und Ägypten schlug trotz der durch die Heirat entstandenen verwandtschaftlichen Beziehungen völlig fehl. „Allein sie wird die Macht ihres Armes nicht behalten, und er und sein Arm wird nicht bestehen.“ Anstatt durch jene Heirat, wie man gehofft, den blutigen Kriegen ein Ende zu machen, war sie es gerade, die den Grund zu einer noch größeren Feindschaft zwischen den beiden Familien legte. Laodice nämlich, die verstoßene Gemahlin des syrischen Königs, ließ ihren Gatten ans Rache wegen seiner Treulosigkeit einige Jahre nach seiner Verheiratung mit Berenike vergiften, ebenso das Söhnchen der letzteren, das sie dem Antiochus geboren hatte. Berenike floh hierauf höchst erschreckt mit den wenigen Getreuen, die sich um sie gesammelt hatten, nach Daphne bei Antiochia. Dort wurde sie von Seleukus, dem Sohn der Laodice, belagert. Als sich die Stadt nach tapferer Gegenwehr endlich ergeben musste, wurde die unglückliche Frau samt ihrem Anhang auf Befehl des Seleukus umgebracht. „Und sie wird hingegeben werden, sie und die sie gebracht haben, und der sie. gezeugt und der sie in jener Zeit gestärkt hat.“ Ihr Vater, Ptolemäus Philadelphia, war während dieser Vorgänge ebenfalls gestorben. Ist es nicht überraschend, zu sehen, mit welcher Genauigkeit die von dem Engel Jahrhunderte vorher angekündigten Ereignisse eintrafen? Die Schrift kann nicht gebrochen werden. Zur bestimmten Zeit finden alle Verheißungen und Prophezeiungen ihre Erfüllung. Himmel und Erde mögen vergehen, das Wort Gottes aber bleibt unerschütterlich und unabänderlich dasselbe und erweist sich als göttliche Wahrheit.

„Aber einer aus dem Gespross ihrer Wurzeln wird an seiner Statt aufstehen. Der wird mit Heeresmacht kommen, und er wird kommen Wider die festen Plätze des Königs des Nordens und Wider sie tätig sein und sie überwältigen“ (V 7). Der Bruder der Berenike – „einer aus dem Gespross ihrer Wurzeln“, nicht „aus ihrem Samen“ – Ptolemäus III., Euergetes, der nach dem Tod seines Vaters den ägyptischen Königsthron bestiegen hatte, brachte ein gewaltiges Heer zusammen und zog gegen den Mörder seiner Schwester heran, um den Tod derselben zu rächen. Schon während der Belagerung Daphnes hatte er versucht, der bedrängten Stadt Entsatz zu bringen, war aber zu spät gekommen. In einer Reihe von Schlachten besiegte er den Seleukus und brachte ganz Syrien in seine Gewalt. Ein in Kyrene ausgebrochener Aufstand zwang ihn jedoch, vorläufig nach Ägypten zurückzukehren. Viele der Großen des syrischen Reiches führte er mit sich in die Gefangenschaft. Außerdem fielen zahlreiche Heiligtümer, Bildsäulen und unermessliche Schätze in seine Hände. „Auch wird er ihre Götter samt ihren Fürsten, mit ihren köstlichen Gefäßen von Silber und Gold in die Gefangenschaft gen Ägypten bringen und wird einige Jahre abstehen vom König des Nordens“ (V 8). Ägypten triumphierte, und für einige Jahre ruhte der Kampf; aber nicht lange nachher entbrannte er von neuem. „Und dieser (der König des Nordens) wird in das Königreich des Königs des Südens kommen und wird wiederum in sein Land ziehen“ (V 9). Das Kriegsglück schwankte hin und her. Einmal war der König des Südens Sieger, dann wieder sein Gegner. Palästina litt unsäglich unter diesen endlosen Streitigkeiten. In Folge seiner unglücklichen Lage zwischen beiden Reichen diente es zum Tummelplatz der beiderseitigen Heere und zur Wahlstatt ihrer Schlachten. Unaufhörlich wechselte das bedauernswerte Land seinen Herrn. War der König des Nordens Sieger, so stand es unter der Herrschaft dieses Fürsten; hatte der König des Südens die Oberhand, so fiel es wieder in dessen Gewalt. Von beiden Seiten wurden die armen Bewohner bis aufs Blut ausgesogen (Fortsetzung folgt).

Fußnoten

  • 1 Nicht zu verwechseln mit Darms, dem Meder, der Babylon eroberte und den König Belsazar seiner Herrschaft beraubte. Der hier genannte Darius ist Darms, der Perser, der dritte König nach Kyrus und in der Geschichte unter dem Namen Darius Hystaspes bekannt.
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