Betrachtungen über den Propheten Daniel
Botschafter des Heils in Christo 1880
Betrachtungen über den Propheten Daniel - Teil 5/16
Kapitel 6
Wir sind jetzt in unserer Betrachtung bis zur Offenbarung des vierten und letzten Vorbildes der Herrschaft der Nationen gekommen. In Kapitel 3 begegneten wir der Einführung des Götzendienstes, als eines einheitlichen Religionssystems; in Kapitel 4 der Selbsterhebung: „Ich habe gebaut durch die Stärke meiner Macht“; in Kapitel 5 der offenbaren Gottlosigkeit und Verhöhnung des Gottes Israels. Dieses Kapitel stellt uns, wie ich glaube, in der Geschichte und Handlungsweise des Darms die schreckliche Schlussszene der gegenwärtigen Verwaltung, der Regierung der Nationen, vor Augen. Ohne Zweifel finden wir bei Darius persönlich bessere Gedanken, wie bei seinen Vorgängern; er selbst war nicht das Werkzeug der Bosheit, die Daniel zu vernichten trachtete, und wir könnten darin eine Schwierigkeit erblicken, ihn für ein Vorbild des am Ende dieses Zeitalters offenbar werdenden Menschen des Verderbens zu halten. Allein bei der Betrachtung eines Vorbildes, wie das vorliegende, müssen wir stets im Auge behalten, dass es sich dabei nicht um den persönlichen Charakter oder Zustand dessen handelt, der dieses Vorbild darstellt. So war z. B. Aaron, wie uns allen bekannt ist, ein Vorbild auf Christus, als Hohepriester, und doch können wir ihn unmöglich in allen seinen Handlungen mit unserem gepriesenen Herrn vergleichen. Denken wir nur an sein Verhalten am Fuß des Berges Sinai, wo er das goldene Kalb machte, und wir werden völlig überzeugt sein, dass es ganz verwerflich wäre, da eine Ähnlichkeit zwischen beiden zu suchen. Ebenso war David ein schönes Vorbild von Christus als König, sowohl zurzeit seiner Erniedrigung und Verwerfung, als er, von Samuel zum König gesalbt, vor der Gewalt und Wut Sauls fliehen musste, als auch später in seiner glorreichen Regierung, nachdem er alle seine Feinde niedergeworfen hatte; und doch war es gerade David, der eine so schreckliche Sünde an Uria und seinem Weib beging. Ähnlich verhält es sich mit dem Vorbild in vorliegendem Kapitel mit Darms, wenn auch in umgekehrter Weise. Obwohl bei diesem König manche löbliche Eigenschaften vorhanden waren, so war er dennoch ein Vorbild jenes Menschen, der sich an den Platz Gottes setzen wird; denn dies war es, was Darms grundsätzlich tat. Während Belsazar öffentlich Gott verhöhnte und mit dem geweihten Gut des Höchsten seinen Spott trieb, während er seine eigenen Götter erhob und pries, machte sich Darms selbst zu Gott, obwohl er es vielleicht nicht erkannte oder wollte und nur ein willenloses Werkzeug seiner Umgebung war. Wir haben deshalb in dem 5. und 6. Kapitel die Vorbilder von den Schlussszenen des gegenwärtigen Zeitlaufs, das Gericht Babylons und des Tieres. Das 17., 18. und 19. Kapitel der Offenbarung liefern uns eine spezielle Mitteilung darüber. Babylon repräsentiert das religiöse Verderbnis jener Tage, und das Tier die schreckliche Anmaßung eines Menschen, der, von Satan hervorgebracht, den Platz Gottes auf der Erde einnimmt (vgl. 2. Thes 2,3–10).
Wenden wir uns jetzt zu dem Kapitel selbst. Darms, der Meder, hatte das Königreich empfangen, und er machte Daniel zum Fürsten über den dritten Teil seiner hundert und Zwanzig Satrapieen. In dieser Stellung übertraf Daniel so sehr seine Mitfürsten und Satrapen an Einsicht und Verstand, dass der König beschloss, ihn über das ganze Königreich zu setzen. Dies aber erweckte den Neid und Hass jener Angesehenen. „Da suchten die Fürsten und Satrapen Vorwand zu finden wider Daniel von Seiten des Königreichs; allein sie konnten keinen Vorwand, noch Missetat finden, weil er treu war“ (V 5). Welch ein schönes Zeugnis für Daniel! Er war in seiner äußeren Stellung so treu und gewissenhaft, dass selbst das scharfblickende Auge des Neides und Hasses keinen Vorwand zur Anklage zu finden vermochte. Wahrlich, ein nachahmungswürdiges Beispiel für einen jeden, der den Namen des Herrn anruft! Mag eine solche Treue auch den Hass und die Feindschaft unserer Mitmenschen wachrufen, so ist sie doch ein kräftigeres Zeugnis für unser Bekenntnis, als die beredtsten Worte. Durch ein treues und gewissenhaftes Verhalten selbst, in unserem äußeren Beruf und in den Beziehungen zu diesem Leben verherrlichen wir Gott und zieren die Lehre, die wir bekennen, während völlig das Gegenteil der Fall ist, wenn wir uns Untreue und Nachlässigkeit zu Schulden kommen lassen. Möchten wir dies stets beherzigen! An Daniel konnte selbst von seinen ärgsten Feinden „kein Fehl, noch Missetat gefunden werden. Da sagten diese Männer: Wir werden wider diesen Daniel keinen Vorwand finden, es sei denn, dass wir in dem Gesetz seines Gottes etwas Wider ihn finden“ (V 6). Durch den Plan, den jetzt die Feinde wider Daniel schmiedeten, um ihn zu verderben, gaben sie ihm aufs Neue ein schönes Zeugnis; sie rechneten auf seine unwandelbare Treue gegen Gott und sein Gebot, und sie täuschten sich nicht. Der Jüngling, der sich im Palast des Königs Nebukadnezar in seinem Herzen vornahm, sich nicht mit der Speise des Königs zu verunreinigen, besaß als Mann dieselbe Gesinnung, dieselbe Furcht Gottes in seinem Innern. Er war aus seiner Niedrigkeit als Sklave hoch erhoben worden. Schon Nebukadnezar „setzte ihn zum Herrscher über die ganze Landschaft Babel und zum Obervorsteher über alle Weisen Babels“, und er hatte den Ehrenplatz im Tor des Königs (Kap 2,48–49). Darms erhob ihn zu einem der drei Fürsten der Satrapen und gedachte sogar, ihn über das ganze Königreich zu setzen; aber Daniel blieb stets derselbe in seiner Treue und in seinem Gehorsam gegen die Gebote seines Gottes; und diese Treue sollte der Fallstrick sein, in dem seine Feinde ihn zu fangen und zu verderben gedachten. Sie beschlossen, nach dem Gebrauch der Meder und Perser ein Gesetz zu machen, welches einem jeden Untertan des Königs verbiete, innerhalb dreißig Tagen von einem Gott oder Menschen etwas zu erbitten, außer von Darms selbst. Dann kamen diese Fürsten und Satrapen haufenweise zum König und baten ihn, das Urteil zu bestätigen und „eine Schrift zu zeichnen, die nicht abzuändern sei nach dem Gesetz der Meder und Perser, die nicht widerrufen werden dürfe“ (V 7–9). Darius gab ihrem Drängen nach; der Vorschlag seiner Gewaltigen schmeichelte seiner Eitelkeit und machte ihn zu ihrem Sklaven. Das Gesetz der Meder und Perser, dass kein von dem König unterzeichnetes Dekret verändert werden dürfe, war sicher unter dem Vorwand erlassen, dem Willen und der Weisheit des Fürsten den Charakter der Unveränderlichkeit und Unfehlbarkeit, der Gott allein zukommt, zu verleihen, während man augenscheinlich nur damit beabsichtigte, die Untertanen vor seinen Launen zu schützen. Darms ging in die ihm von seinen Schmeichlern gestellte Fall und unterzeichnete das strenge Gebot, das jeden Übertreter mit dem schrecklichen Tod in der Löwengrube bedrohte. Er setzte Gott bei Seite und nahm selbst dessen Stelle ein. Jeder Gedanke an Ihn wurde beseitigt, jede Beziehung zu Ihm aufgehoben und jede Abhängigkeit von Ihm geleugnet; kein Nebenbuhler, keine gleiche Macht, weder im Himmel noch auf der Erde, wurde geduldet. Jedes Bedürfnis des Menschen, selbst das des Gewissens, sollte nur bei Darms seine Befriedigung suchen. Welch eine Anmaßung, welch ein Hochmut! So ist der Mensch. Im Anfang wollte er Gott gleich, und am Ende will er selbst und allein Gott sein. Das ist einer der Züge, welche die Tiefen des menschlichen Herzens charakterisieren.
Wie aber verhielt sich Daniel inmitten dieser großen Prüfung? Er kannte die boshaften Ränke und Pläne seiner Feinde; er wusste, dass ein unabänderliches Urteil über seinem Haupt hing, und dass ein schrecklicher Tod in der Löwengrube seiner wartete. Welche Schritte tat er, um die Bosheit seiner Feinde zu Schanden zu machen? Nahm er seine Zuflucht zum König, dessen Vertrauen er besaß und dessen Gunst er in so hohem Maß genoss? Oder unterwarf er sich dem strengen Gebot und machte für eine Zeit, wenn auch nur äußerlich, den König zu seinem Gott? Der glaubenstreue und ergebene Daniel tat weder das Eine, noch das Andere. „Und als Daniel vernahm, dass diese Schrift gezeichnet war, ging er in sein Haus (und er hatte in seinem Obersaal geöffnete Fenster nach Jerusalem hin), und dreimal des Tages kniete er auf seine Knie und betete und lobpries vor seinem Gott, ebenso wie er vor diesem getan“ (V 11). Er veränderte sein Verhalten nicht im Geringsten. Er verschloss weder seine nach Jerusalem hin geöffneten Fenster, noch kam er weniger in das Haus, um seine Knie zu beugen vor seinem Gott, noch verwandelte er seine Lobopfer in Flehen und Seufzen. Er nahm den Platz vor seinem Gott ein, der ihm geziemte, und ließ Gott den Seinen. Was hatte die Bosheit der Menschen oder das strenge Gebot eines Königs damit zu schaffen? War das gesegnete Band zwischen ihm und seinem Gott und sein Verhalten vor Ihm in irgendeiner Weise davon abhängig? Es gab nichts, was dem Glauben Daniels sein Ziel verrücken konnte, und dies Ziel war die Verherrlichung Gottes. Sein Blick blieb unverrückt aufwärtsgerichtet, und so blieben die Dinge hienieden ohne Wirkung auf ihn. Ein weniger treuer Diener würde es für angemessen gehalten haben, doch in etwa den Umständen Rechnung zu tragen und kein öffentliches Ärgernis zu geben, die Fenster zu schließen und im Verborgenen die Knie vor seinem Gott zu beugen. Aber wo wäre dann das Zeugnis geblieben? Wie wäre Gott verherrlicht worden?
Kurz, Daniel dachte nicht so. Er setzte seinen bisherigen Weg des Glaubens in aller Einfalt und Treue fort, unbekümmert darum, ob der Teufel auf ihn lauerte und ihn zu verschlingen drohte oder nicht. Er handelte genauso, wie seine Feinde es erwartet hatten, und gab ihnen auf diese Weise den heiß erwünschten Anlass zur Klage wider ihn. Sie kamen haufenweise zum König, erinnerten ihn an das von ihm unterzeichnete Verbot und brachten dann ihre Anklage vor, indem sie sagten: „Daniel, einer der Weggeführten aus Juda, hat auf dich, o König, nicht geachtet, noch auf das Verbot, das du gezeichnet hast, sondern er betet dreimal des Tages sein Gebet“ (V 14). Beachten wir wohl, dass sie nicht sagen: „Daniel, einer der Fürsten“, sondern: „einer der Weggeführten aus Juda“, und dann hinzufügen: „hat auf dich, o König, nicht geachtet“, um dadurch sein verletztes und gekränktes Ehrgefühl aufzustacheln und seinen ganzen Zorn wachzurufen. Doch hierin erreichten sie ihre Absicht nicht; denn wir lesen: „Da der König diese Worte hörte, war er sehr betrübt bei sich selbst und richtete sein Herz auf Daniel, ihn zu retten, und bis zum Untergang der Sonne bemühte er sich, ihn zu befreien“ (V 15). Allein alle seine Bemühungen waren vergeblich; das Gesetz konnte nicht verändert werden. Er hatte sich durch die ränkevollen Schmeicheleien seiner Fürsten und Satrapen berücken lassen und musste jetzt die bitteren Früchte seiner schlechten Handlungsweise ernten. Auf das Drängen dieser Leute gab er endlich den Befehl, Daniel herzubringen und in die Löwengrube zu werfen, in der schwachen Hoffnung, dass der Gott Daniels ihn aus dem Rachen der wilden Tiere erretten werde. „Dein Gott, dem du ohne Unterlatz dienst“, – welch ein schönes Zeugnis aus dem Mund eines heidnischen Königs! – „möge dich erretten!“ (V 17) Und Er tat es; der Gott, der die Kraft des Feuers zu löschen vermochte, so dass Schadrach, Mesach und Abed–Nego unversehrt blieben, vermochte auch den Rachen der Löwen zu verstopfen, so dass Daniel nicht das geringste Leid geschah. „Der Herr weiß die Gottseligen aus der Versuchung zu retten.“ Daniel durchlebte in der Löwengrube unter hungrigen und blutdürstigen Raubtieren eine weit ruhigere und friedlichere Nacht, als der König Darms in seinem Palast. Wir lesen von diesem, dass er fastend übernachtete, und dass sein Schlaf vor ihm floh (V 19). Sein Gewissen war belastet und sein Herz mit Kummer erfüllt. In der ersten Morgendämmerung eilte er zur Grube, deren Öffnung er mit einem versiegelten Stein verschlossen hatte, und rief mit trauriger Stimme: „Daniel, du Knecht des lebendigen Gottes, hat auch dein Gott, dem du ohne Unterlass dienst, dich von den Löwen erretten können?“ (V 21) Und Daniel gab zur Antwort: „Der König lebe ewiglich! Mein Gott hat seinen Engel gesandt, und Er hat das Maul der Löwen verschlossen, dass sie mich nicht verletzt haben, weil vor Ihm Unschuld gefunden ist an mir; und auch habe ich vor dir, o König, keine Missetat getan“ (V 23). Darms, verleitet durch seine ruchlosen Schmeichler und seinen eignen Ehrgeiz, hatte den zum Tod verurteilt, der vor Gott und Menschen schuldlos war. Jetzt war er überaus froh, dass der Gott Daniels ins Mittel getreten war und seinen treuen Diener bewahrt hatte. Er gab Befehl, ihn aus der Grube zu ziehen, aber jene Fürsten und Satrapen, seine Feinde und Ankläger, mit ihren Weibern und Kindern hineinzuwerfen. „Und sie kamen nicht auf den Boden der Grube, so bemächtigten sich ihrer die Löwen und Zermalmten alle ihre Gebeine“ (V 25). Schreckliches Gericht! Sie fielen selbst in die Schlinge, die sie mit so großer Schlauheit und scheinbarem Erfolg für Daniel gelegt hatten, und sie kamen darin um, während an dem Propheten „kein Schaden gefunden wurde.“ Es bewahrheitete sich hier das Wort des Psalmisten auf eine schreckliche Weise: „Versunken sind die Nationen in die Grube, die sie gemacht, ihr Fuß ward gefangen in dem Netz, das sie heimlich gelegt. Jehova ist bekannt geworden durch das Gericht, das Er ausgeübt; Er verstrickt den Gesetzlosen in dem Werk seiner Hände“ (Ps 9,15–16).
Daniel stellt hier in besonderer Weise den treuen Überrest Israels in den letzten Tagen dar. Derselbe wird ebenfalls in Folge seines Zeugnisses von seinen Feinden sehr verfolgt, aber durch die Dazwischenkunft der starken Hand Gottes vor ihrer Wut bewahrt werden; auch wird das Gericht, das diese über das treue Häuflein zu bringen gedenken, an ihnen selbst vollzogen werden; und das Resultat dieses Gerichts wird alsdann ein ähnliches sein, wie hier: die Nationen werden den lebendigen Gott als den Gott Israels, dessen Königreich nie vergeht, anerkennen. Der Unterschied zwischen dem Bekenntnis des Nebukadnezar und demjenigen des Darms ist beachtenswert. Jener pries den König des Himmels und den Höchsten und verbot, dass etwas Böses wider den Gott Israels gesagt werde; von diesem aber lesen wir: „Von mir ist Befehl gegeben, dass man in der ganzen Herrschaft meines Königreichs bebe und zittere vor dem Angesicht des Gottes Daniels, denn Er ist der lebendige Gott, bestehend in Ewigkeiten, und sein Königreich ist nicht verderblich, und seine Herrschaft bis ans Ende. Er errettet und befreit, und Er tut Zeichen und Wunder im Himmel und auf der Erde; derselbe hat Daniel errettet aus der Gewalt der Löwen“ (V 27–28). Die durch das Gericht hervorgebrachte Wirkung erstreckt sich hier viel weiter als in den früheren Ereignissen. Zugleich sehen wir, dass Darms persönlich Gefühle der Achtung vor Gott und vor Daniels Frömmigkeit hatte. Es war nicht sein Gott, sondern der Gott Daniels; er ehrt Ihn und nennt Ihn deshalb den lebendigen Gott.
Wir sind somit am Ende des ersten Teiles des Buches Daniel angelangt. Mit dem nächsten Kapitel beginnen die dem Propheten persönlich gemachten Mitteilungen, welche nicht nur allgemeine Grundsätze und Vorbilder enthalten, sondern sich mit Einzelheiten aus der Geschichte des Volkes Israel und der Nationen, die dasselbe unterdrückten, beschäftigen. Aus diesem Grund schließt auch, wie schon in der Einleitung bemerkt, das sechste Kapitel mit den Worten: „Und dieser Daniel wurde befördert in dem Königreich des Darius und in dem Königreich Kores, des Persers“, während das siebente Kapitel wieder bis zum ersten Jahre des Königs Belsazar zurückgeht (Fortsetzung folgt).
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