Betrachtungen über den Propheten Daniel
Botschafter des Heils in Christo 1880
Betrachtungen über den Propheten Daniel - Teil 4/16
Kapitel 4.
Wir haben gesehen, dass die im vorigen – Kapitel erzählten Ereignisse, die auf den ersten Blick nicht den Charakter einer Prophezeiung an sich zu tragen scheinen, dennoch in enger Beziehung zu derselben stehen. Das 2. Kapitel lieferte uns in kurzen Zügen die allgemeine Geschichte der heidnischen Mächte, nicht aber ihre moralischen Eigenschaften; ein Reich nach dem anderen trat auf den Schauplatz und verschwand wieder. Doch ihr moralischer Charakter, sowie die Art und Weise, wie sie die ihnen von Gott verliehene Macht gebrauchten, verbarg sich noch vor unseren Blicken. Erst im 3. Kapitel beginnt die Beschreibung des moralischen Verhaltens dieser Reiche, während sie sich im Besitz jener unumschränkten Autorität in dieser Welt befinden, und diese Beschreibung wird in den folgenden Abschnitten des Buches fortgesetzt.
Die erste Handlung und der erste große Charakterzug des babylonischen Reiches, der uns im vorigen Kapitel dargestellt wurde, war die Abgötterei, die Aufrichtung einer abgöttischen Einheit, ungeachtet der Rechte Gottes und des Gewissens des Menschen. Doch ist, wie schon oben bemerkt, der Anfang der heidnischen Herrschaft nur ein Vorbild von der Schlussszene derselben. Es wird sich auch jener Zeit besonders um die Gläubigen aus Israel, um den treuen Überrest handeln. Ich meine nicht um die Juden in ihrem gegenwärtigen Zustand, denn jetzt sind sie als Volk von Gott bei Seite gesetzt, und jeder einzelne ist vor Ihm ein verlorener und verdammungswürdiger Sünder, ein Feind Gottes, wie jeder andere Mensch von Natur. Er kann jetzt nicht als Jude errettet werden, sondern nur dadurch, dass er an Christus glaubt und also ein Christ wird. Dies aber wird nicht immer der Fall sein. Die Zeit rückt heran, wo der Same Abrahams, als solcher, d. h. ohne dass er aufhören muss, Jude zu sein, durch Gott bekehrt werden und nach den Verheißungen den Messias empfangen wird.
In gegenwärtiger Zeit steht das Walten Gottes nicht in unmittelbarer Verbindung mit den Vorkommnissen in dieser Welt, obwohl es immer wahr ist, dass Er in seiner Vorsehung alle Dinge leitet und nichts ohne seine Zulassung geschieht. Doch Gott nimmt kein so augenscheinliches und unmittelbares Interesse an dem Geschick irgendeines Volkes auf der Erde und an dem, was auf der Erde vorgeht, wie zu jener Zeit, als Israel noch die Nation war, in deren Mitte Er seinen Charakter in Verbindung mit dieser Erde entfaltete, und deren Kämpfe die Kämpfe Jehovas genannt wurden – eine Nation, die sich bewusst war, dass Gott sie aus allen Völkern erwählt, dass Er sein besonderes Interesse an ihr hatte, und dass alle ihre Drangsale, Niederlagen, Hungersnöte usw. nur eine von Seiten Gottes ihr zugesandte Strafe waren für irgendetwas Böses in ihrer Mitte. Seitdem Er aber sein irdisches Volk bei Seite gesetzt, übt Er nur noch eine indirekte, vorsehende Aufsicht über die Angelegenheiten der Welt. Es ist eine andere Sache in die Erscheinung getreten. Nach dem Christus verworfen war und Israel sich dadurch jeder Gelegenheit beraubt hatte, seinen früheren erhabenen Platz wieder zu erlangen, führte Gott die Kirche oder Versammlung ein. Es ist dies nicht seine Regierung über irgendein Volk, wie bei Israel, unter seinem Gesetz, noch einfach eine indirekte Herrschaft über die Nationen, sondern die Offenbarung seiner selbst, als eines Vaters für seine Kinder in Christus. Der Heilige Geist ist herniedergekommen, nicht allein um auf die Herzen dieser Kinder zu wirken, sondern auch um in ihnen zu wohnen und alle, es seien Juden oder Griechen, Sklaven oder Freie, zu einem Leib zu taufen – zu dem Leib, dessen Haupt Christus im Himmel ist. Dies hat jetzt noch immer seinen Fortgang; und deshalb steht Gott gegenwärtig in keiner besonderen Beziehung zu den Juden. Er beschäftigt sich mit ihnen in keiner anderen Weise wie auch mit den übrigen Menschen, von denen sie sich nur dadurch unterscheiden, dass das Gericht der Verblendung über sie gekommen ist. Sie waren freilich schon vorher blind; deshalb liebten sie die Finsternis mehr als das Licht, das in Christus Jesus in die Welt gekommen war, und verwarfen beharrlich jedes Zeugnis. Doch jetzt hat sie Gott, als ein besonderes Gericht, einer völligen Finsternis anheimgegeben. Aber während dieses der Fall ist mit der großen Masse des Volkes, gibt es doch immer noch einen Überrest. Israel ist die einzige Nation, von welcher dies gesagt werden kann, die einzige Nation, die Gott niemals völlig aufgegeben hat. Andere Völker mögen erfahren haben, dass Gott sie eine Zeitlang in Gnade und vielleicht in einer ganz besonderen Gnade besucht hat, allein sobald sie sich wieder von der Wahrheit abwandten und die Verehrung eines Götzenbildes dem wahren Gottesdienst vorzogen, hat Gott sie dahingegeben und dem Irrtum anheimfallen lassen. Allein mit Israel hat sich Gott durch Verheißungen verbunden und wird es nie gänzlich aufgeben. Selbst in den dunkelsten Zeiten wird es unter diesem Volk einen heiligen Samen geben. Dennoch kann Gott, wie schon vorhin angedeutet, solange Er mit dem Sammeln der Kirche beschäftigt ist, keine besonderen Beziehungen zu Israel haben, um es als sein Volk darzustellen und aus allen seinen Bedrängnissen zu befreien. Sobald Er aber die Kirche oder Versammlung von ihrem gegenwärtigen Schauplatz entfernt haben wird, dann wird Israel wieder in den Vordergrund treten. An jenem Tag, wenn ihre Herzen durch den Geist Gottes berührt worden sind, wird jene Befreiung, die wir am Ende des 3. Kapitels als Vorbild haben, ihre wahre Erfüllung finden.
In Folge der großen Errettung der drei Freunde Daniels erteilte also Nebukadnezar den Befehl, einen jeden, der eine Lästerung gegen den Gott Schadrachs, Meschachs und Abed–Negos ausspreche, in Stücke zu Zerhauen und sein Haus in einen Schutthaufen zu verwandeln. Es schien, als hätten die wunderbaren Wege Gottes sein stolzes Herz erreicht und gebrochen. Aber ach! wie bald veränderte sich seine Sprache! Wie bald war alles, was Gott getan hatte, wieder vergessen! Wir lesen im Anfang unseres Kapitels: „Ich, Nebukadnezar, saß ruhig in meinem Haus und grünte in meinem Palast“ (V 1). Diese Worte zeigen zur Genüge, dass sein Gewissen nicht erreicht und sein Herz nicht verändert war. Wohl hatten ihn die merkwürdigen Ereignisse auf das Tiefste erschüttert, allein es war nur für eine kurze Zeit. Sein Gewissen war nicht in die Gegenwart Gottes gekommen. Er ruhte in seinem Haus und grünte in seinem Palast. Alles, was Gott in seine Hand gegeben hatte, diente nur dazu, seinen Stolz zu nähren und seiner Selbstgefälligkeit zu schmeicheln. In diesem Zustand sandte ihm Gott einen zweiten Traum. „Ich sah einen Traum, der mich erschreckte, und die Gedanken, die ich auf meinem Bett hatte, und die Gesichte meines Hauptes beunruhigten mich“ (V 2). In Folge dessen gab Nebukadnezar Befehl, alle Weisen Babels vor ihn zu bringen, um aus ihrem Mund die Deutung seines Traumes zu erfahren. Allein, wie das erste Mal, so ließ ihn auch jetzt alle menschliche Weisheit im Stich. „Da kamen herein die Schriftgelehrten, die Beschwörer, die Chaldäer und die Sterndeuter, und ich sagte den Traum vor ihnen; aber sie taten mir seine Deutung nicht kund“ (V 4). Mit all ihrer Weisheit vermochten sie die Gedanken Gottes nicht zu ergründen, noch Nebukadnezar kund zu tun, was Gott ihm zu sagen hatte. Zuletzt trat auch Daniel oder – nach seinem chaldäischen Namen – Belsazar vor den König, und voll Vertrauen wandte sich Nebukadnezar an ihn: „Belsazar, du Oberster der Schriftgelehrten, weil ich weiß, dass der Geist der heiligen Götter in dir und kein Geheimnis dir zu schwer ist, so sage mir die Gesichte meines Traumes, den ich gesehen, und seine Deutung“ (V 6). Obwohl Nebukadnezar in einer heidnischen Weise zu Daniel redet und die Weisheit des höchsten Gottes, die in ihm ist, seinen eigenen Göttern zuschreibt, so erkennt er doch an, dass ein besonderer und außerordentlicher Geist in ihm ist, der ihn vor allen anderen auszeichnet.
Sobald Daniel den Traum gehört hatte, „entsetzte er sich bei einer Stunde lang, und seine Gedanken beunruhigten ihn. Der König antwortete und sprach: Belsazar, lass dich den Traum und die Deutung nicht beunruhigen. Belsazar antwortete und sprach: Mein Herr, der Traum (gelte) deinen Hassern und seine Deutung deinen Widersachern! Der Baum, den du gesehen, der groß und stark, und dessen Höhe bis an den Himmel reichte, und der gesehen ward über dem ganzen Erdboden, und dessen Laub schön, und dessen Früchte viel waren, und daran für alle Speise war, unter dem die Tiere des Feldes wohnten, und in dessen Zweigen die Vögel des Himmels nisteten; – du bist es, o König, der du groß und stark geworden, und deine Größe ist gewachsen und reicht an den Himmel, und deine Herrschaft an das Ende der Erde“ (V 16–19). Nebukadnezar selbst war der große Baum, den er im Traum gesehen hatte, so wie er im 2. Kapitel das Haupt von Gold darstellte. Und ebenso wie dort nicht allein die Person des Königs, sondern auch seine ganze Dynastie durch das goldene Haupt repräsentiert wurde und die Stellung, die er einnahm, in gewissem Sinn die des ganzen heidnischen Reiches charakterisierte, so bezieht sich auch die Deutung dieses Traumes nicht allein auf ihn, sondern auf das ganze ihm untergeordnete Reich. Mit Entsetzen sieht Daniel, was Nebukadnezar bevorstand und was das Schicksal Babylons sein sollte.
Es wird dem aufmerksamen Leser der Heiligen Schrift kaum entgangen sein, dass der Baum, wenn er in der Bibel als Sinnbild gebraucht wird, entweder das Fruchttragen oder einen Platz hoher Würde und Wichtigkeit darstellt. 1 Das letztere ist hier der Fall; er ist das Symbol einer irdischen Macht und wird angewandt auf Nebukadnezar, der sich in der höchsten Stellung befand, die für einen Menschen auf der Erde möglich ist. Die Tiere des Feldes wohnten unter dem Baum, und die Vögel des Himmels nisteten in seinen Zweigen, d. h. alle Arten und Klassen von Personen fanden Schutz und Sicherheit unter der Herrschaft Nebukadnezars, der die Bewunderung der ganzen Menschheit erregte. Alles war in ihm vereinigt, was das Herz anziehen konnte: ein herrlicher Wuchs, schönes Laub, liebliche Früchte in Menge, Speise für alle – was konnte ihm in den Augen der Menschen noch zu wünschen übrigbleiben? Allein die Gedanken Gottes waren ganz andere. „Und dass der König einen Wächter und Heiligen gesehen vom Himmel herniederkommen, welcher sprach: Haut den Baum um und verdorben ihn, doch den Wurzelstumpf lasst in der Erde, und in einer Fessel von Eisen und Erz im zarten Grase des Feldes, und im Tau des Himmels werde er benetzt, und sein Teil sei mit den Tieren des Feldes, bis sieben Zeiten über ihn vergehen“ (V 20). Beachten wir, dass hier nur von einer zeitlichen Zerstörung die Rede ist; es sollte keim gänzliche Vernichtung stattfinden.
„Dies ist die Deutung, o König“, fährt der Prophet fort, „und dies ist ein Beschluss des Höchsten, der über meinen Herrn, den König, kommen wird. Man wird dich ausstoßen von den Menschen, und bei den Tieren des Feldes wird deine Wohnung sein, und man wird dir Kraut zu essen geben wie den Ochsen, und du wirst benetzt werden vom Tau des Himmels“ (V 21–22). Viele Bibelleser haben in der Erklärung dieser Begebenheit große Schwierigkeit gefunden, allein der einfältige Gläubige begnügt sich mit dem, was Gott gesagt hat, weil er weiß, dass sein Wort die Wahrheit ist. Und hat Gott erklärt, dass Nebukadnezar von den Menschen ausgestoßen, dass er in die Stellung eines Tieres versetzt worden sei, und dass man ihm Gras zu essen gegeben habe wie den Ochsen, so glaubt er einfach und gibt sich keinen ungläubigen Grübeleien hin. Er ist völlig überzeugt, dass der Gott, der seine treuen Diener aus der gewaltigen Glut des Ofens und aus dem Rachen des Löwen zu erretten vermochte, auch im Stande war, Nebukadnezar ans eine so schreckliche Weise zu erniedrigen. Es war nur eine Frage seines Willens und seiner Macht; aber auch seine Macht allein vermochte das Eine wie das Andere zu tun. Doch sollte, wie gesagt, dieses Gericht der tiefen Erniedrigung nicht bis zu seinem Tod dauern, sondern nur für eine bestimmte Zeit sein. „Es werden sieben Zeiten (oder sieben Jahre) über dich vergehen, bis du wissen wirst, dass der Höchste Herrschaft hat über die Königreiche der Menschen und sie gibt, wem Er will“ (V 22).
Nebukadnezar hatte in den deutlichsten Worten vernommen, welch schreckliche Gerichte über ihn kommen sollten, wenn er in seinen Sünden und Ungerechtigkeiten verharrte; die ermahnende und warnende Stimme des von Gott erleuchteten Sehers hatte sein Ohr erreicht, ein Weg der Errettung war ihm auf das bestimmteste gezeigt worden (V 24), allein alles war umsonst; die warnende Stimme prallte völlig ab an seinem stolzen Herzen, und „dies alles kam über Nebukadnezar, den König. Am Ende von Zwölf Monaten, da er wandelte auf dem königlichen Palast zu Babel, antwortete der König und sprach: Ist das nicht das große Babel, das ich erbaut zu einem Haus des Königreichs durch die Stärke meiner Macht und zur Ehre meiner Herrlichkeit? Noch war dieses Wort in des Königs Mund, da fiel eine Stimme aus dem Himmel: Dir, König Nebukadnezar, wird gesagt: Das Königreich ist von dir gewichen“ (V 25–28). Das Gericht brach herein. Die Größe seiner Macht und Stärke und Ehre, die der Gott des Himmels ihm gegeben (Kap 2,37), hatten nur dazu gedient, seinem eignen Stolz zu schmeicheln. Er rühmt sich der Werke seiner Hände und sieht in sich selbst die Quelle seiner Macht und Herrlichkeit. Gott, der ihm alles verliehen und dazu die sichtbarsten Beweise seiner unvergleichlichen Macht gegeben – Beweise, die ihn zurzeit mit Erstaunen und Entsetzen erfüllt hatten – war jetzt seinen Gedanken ganz fern. Wohl hatte die augenscheinliche Dazwischenkunft Gottes ihn zu dem Bekenntnis genötigt, dass Jehova „ein Gott der Götter, ein Herr der Herren“ (Kap 2) und „der höchste Gott“ sei (Kap 3); aber wie schnell waren diese Eindrücke verwischt! Bald nachher errichtet er ein Götzenbild und verhöhnt eben denselben Gott auf die frechste Weise, und jetzt verleiht er seinem Hochmut und Stolz in den vermessensten Worten Ausdruck. So ist der Mensch, solange sein Gewissen nicht getroffen und in die Gegenwart Gottes gebracht ist. Er Zittert, sobald Gott nur ein wenig seine Macht kundtut, aber er ist voll Trotz und Verachtung, sobald er diese Macht nicht mehr sieht. Doch ach! wie bald verändert sich alles! In demselben Augenblick, wo Nebukadnezar seine eigene Größe bewunderte und seiner Macht und Herrlichkeit Huldigung darbrachte – ja, das Wort war noch in seinem Mund – da kam die richtende Hand Gottes über ihn und stürzte ihn von seiner Höhe in einen tiefen Abgrund. Mit einem Schlag verlor er seine ganze Herrlichkeit und wurde bis zum Tier erniedrigt. Kein Verstand war mehr in ihm, keine Fähigkeit, Gott zu preisen. Seine Wohnung war unter den Tieren, und man gab ihm Gras zu essen wie den Ochsen; sein Blick war abwärts gerichtet auf die Erde. Und so sollten sieben Jahre über ihn hingehen.
Welch ein treffendes Bild des niedrigen Zustandes, in welchem sich die Nationen während der ganzen Dauer ihrer Herrschaft befinden! Sie mögen äußerlich stark und mächtig sein, mögen einen großen Scharfsinn entwickeln; aber das ist es nicht, was den Menschen von dem Tier unterscheidet. Das Tier blickt stets zur Erde; es hört in seinem Verhalten nicht auf die Stimme des Gewissens und kennt keine Beziehungen zu Gott. Der Mensch aber ist fähig, diese Beziehungen zu verstehen, auf die Stimme seines Gewissens zu achten und den Willen Gottes zu erkennen. Seine wahre Würde besteht darin, dass er Gott in seiner Herrlichkeit und Majestät anerkennt, dass er zu aller Zeit Ihm in Demut unterworfen bleibt. Sobald er aber sagt: „Ich habe gebaut durch die Stärke meiner Macht“ usw., sobald er sich überhebt, geht er seiner wahren Beziehungen zu Gott verlustig und sinkt zum Tier herab, das Gott nicht kennt. Er entwürdigt sich selbst und sucht seine Befriedigung in Dingen, die weit unter ihm stehen. Dies kennzeichnet das Verhalten der Nationen von Anfang bis zum Ende; während der ganzen Dauer ihrer Herrschaft bleiben sie in einen Zustand der Torheit versunken. Danach aber, wenn das Gericht vollendet ist, werden sie zur Erkenntnis Gottes gelangen, so wie es auch bei Nebukadnezar der Fall war.
„Und am Ende der Tage hob ich, Nebukadnezar, meine Augen auf gen Himmel“, – das war das erste Zeichen der Rückkehr seines wahren menschlichen Zustandes – „und mein Verstand kam wieder in mich; und ich lobte den Höchsten, und ich pries und ehrte den ewig Lebenden, dessen Herrschaft eine ewige Herrschaft und dessen Königreich von Geschlecht zu Geschlecht ist“ (V 31). Hier haben wir ein ganz anderes Resultat wie früher. Er fällt nicht auf sein Angesicht und betet Daniel an und spendet ihm Speisopfer und liebliche Gerüche, wie am Schluss des Zweiten Kapitels, noch erlässt er einen strengen Befehl an alle Völkerschaften und Zungen, dass sie bei schwerer Strafe kein Wort wider den Gott Schadrachs, Meschachs und Abed–Negos reden sollten, wie am Ende des dritten Kapitels; nein, er selbst beugt sich in wahrer Demut seines Herzens vor Gott in den Staub nieder und preist Ihn als den Höchsten und Mächtigsten und bekennt: „Alle Bewohner der Erde sind wie nichts geachtet, und nach seinem Willen tut Er mit dem Heer des Himmels und den Bewohnern der Erde, und es ist niemand, der seiner Hand wehren oder zu Ihm sagen könnte: Was tust du?“ (V 32)
Beachten wir in Vers 31 den Ausdruck: „der Höchste.“ Es ist derselbe Name, den Melchisedek Jehova beilegt, als er mit Abraham nach dessen siegreicher Schlacht mit den vier heidnischen Königen zusammentrifft. Jedoch fügt er dort noch die Worte hinzu: „der Himmel und Erde besitzt.“ Dies ist der wahre Charakter, den Gott annehmen wird, wenn Er, nachdem Er jeden Feind, der sich gegen sein Volk erhebt, niedergeworfen hat, alle Dinge im Himmel und auf der Erde in Christus vereinigt. Dann wird Christus der wahre Melchisedek, der König der Gerechtigkeit sein, und es wird vollkommener Friede herrschen – ein Friede, der auf die Gerechtigkeit gegründet ist. Die Nationen werden Gott völlig unterworfen sein, werden Ihn anerkennen und preisen und werden durch Ihn gesegnet werden. Die Zeit, in welcher ihnen in Folge ihres unbändigen Stolzes, ihrer Selbstüberhebung und ihrer Entfernung von Gott das Herz eines Tieres gegeben wurde, wird alsdann vorüber sein. Der Stumpf, der in der Erde zurückgelassen und vom Gericht verschont geblieben ist, lebt wieder auf, und es beginnt eine Regierung der Nationen, die durch die Erkenntnis Gottes beeinflusst und vom Bösen gereinigt ist, Gott selbst wird als der Höchste die Zügel der Regierung in seine Hand nehmen, und die Nationen werden sich vor Ihm beugen in Anbetung und dankbarer Freude.
Beachten wir ferner, dass Nebukadnezar im letzten Verse unseres Kapitels Gott den „König des Himmels“ nennt. „Nun preise ich, Nebukadnezar, und erhöhe und verherrliche den König des Himmels.“ Dieser Titel ist hier sehr bezeichnend. Als „Gott der Erde“ hatte Gott seinen Thron zu Jerusalem; aber dieser Thron war nicht mehr vorhanden, und deshalb war es ganz geziemend, dass Nebukadnezar Ihn als den König des Himmels anerkannte. In dem Buch Daniels finden wir den Thron zu Jerusalem nie erwähnt, außer in moralischer oder prophetischer Beziehung. Für Daniel konnte Gott nicht der Gott der Erde sein; denn er war ein Gefangener unter den Nationen. Wenn Gott seinen Platz als Gott der Erde einnimmt, kann unmöglich der Same Abrahams in Gefangenschaft sein. Kapitel 5.
Dieses Kapitel erzählt, gleich den beiden vorhergehenden, geschichtliche Tatsachen, hat aber offenbar ebenfalls einen prophetischen Charakter. Doch gibt es, wie ich glaube, im Verein mit dem folgenden Kapitel, weniger allgemeine Charakterzüge der Herrschaft der Nationen, als vielmehr bestimmte und Zügellose Ausbrüche des Bösen, die am Schluss jener Herrschaft zum Vorschein kommen und eine schnell hereinbrechende Zerstörung zur Folge haben werden. So sehen wir in vorliegendem Kapitel, wie die Bosheit des Hauptes der Nationen dem Gott Israels gegenüber ihren Höhepunkt erreicht; sie nimmt jenen Charakter des Trotzes und des Hohnes an, dem wir schon im 3. Kapitel, obwohl nicht in derselben Ausdehnung, begegneten, und der so deutlich die vergebliche Anstrengung des Menschen, seine gänzliche Schwachheit und Ohnmacht hinter dem äußeren Schein einer unumschränkten Macht zu verbergen, ins Licht stellt.
„Belsazar, der König, machte seinen tausend Gewaltigen ein großes Mahl, und er trank Wein vor den Tausenden“ (V 1). Ein glänzendes und üppiges Fest ist hier der Schauplatz, auf dem sich die Ereignisse abspielen. Belsazar hat seine Fürsten und Gewaltigen zu einem großen Mahl geladen. „Und als er den Wem gekostet, sprach er, dass man die goldenen und silbernen Gefäße herbeibringen sollte, die Nebukadnezar, sein Vater, weggeführt aus dem Tempel, der zu Jerusalem gewesen, auf dass aus ihnen tränken der König und seine Gewaltigen, seine Weiber und seine Nebenfrauen. Da brachte man die goldenen Gefäße. ... Sie tranken den Wein und priesen die Götter von Gold und Silber, Erz, Eisen, Holz und Stein“ (V 2–4). Die weltlichen Geschichtsschreiber erzählen uns, dass es ein jährliches Fest gewesen, auf dem man sich wie gewöhnlich, trotz der Belagerung Babylons durch die Meder, aller Ausschweifung und Zügellosigkeit hingegeben und dadurch dem Feind eine günstige Gelegenheit geboten habe, die Stadt zu überrumpeln. Wie dem auch sei, die Schrift teilt uns mit, wie der König, eingewogen in eine trügliche Sicherheit, diese Gelegenheit benutzte, die falschen Götter der Heiden zu verherrlichen und zu erheben und den wahren Gott, den Gott Israels, auf die frechste Weise zu verhöhnen. Es war nicht nur das Streben, eine einheitliche Religion zu schaffen, den Götzendienst einzuführen, nicht nur der Hochmut des Herzens, der da spricht: „Ist das nicht das große Babel, die ich erbaut durch die Stärke meiner Macht usw.?“ – es war offenbare Gottlosigkeit, es war die schamloseste Entehrung des Gottes droben, der sein Volk seines Ungehorsams wegen in die Hände der Heiden gegeben hatte. Welche Macht dieser Gott im Gericht über Nebukadnezar ausgeübt, und welche Macht in Gnade Er an seinen treuen Bekennern aus Israel erwiesen hatte, fand nicht die geringste Beachtung bei diesem gottlosen König; die Vergangenheit schien seinem Gedächtnis völlig entschwunden zu sein. Belsazar stellte in seinem wahnsinnigen Übermut seine Götter von Gold und Silber, Erz, Eisen, Holz und Stein über den höchsten Gott. Er pries jene und entehrte auf eine gräuliche Weise die Gefäße des Tempels, die diesem geweiht waren. Er stand auf dem Gipfel der Gottlosigkeit, und das Gericht über ihn und Babylon war vor der Tür (vgl. Jes 13; Jer 25 usw.). Gott selbst erscheint, um die Frage zwischen sich und jenen toten Götzen zu entscheiden. Doch ehe Er sein Gericht hereinbrechen lässt, gibt Er ein feierliches Warnungszeichen. „In selbiger Stunde kamen Finger einer Menschenhand hervor und schrieben dem Leuchter gegenüber auf den Kalk der Wand des königlichen Palastes; und der König sah den Teil der Hand, welche schrieb“ (V 5). Verstand Belsazar auch nicht den Sinn der Worte, welche diese Hand schrieb, so erkannte er doch, dass sie von dem Gott kamen, den er auf eine so vermessene Weise herausgefordert und verhöhnt hatte. „Da ward das Antlitz des Königs entstellt, und seine Gedanken erschreckten ihn, und die Bande seiner Lenden lösten sich, und seine Knie stießen aneinander“ (V 6).
Mit einem Schlag war die ganze geräuschvolle Szene verändert, alle Freude und Wollust in Angst und Entsetzen verwandelt. Der stolze König war ein zitternder Sünder geworden. In seinem Schrecken vergaß er seine Würde und seine ganze Umgebung. „Er rief mit Macht, dass man die Beschwörer, die Chaldäer und die Sterndeuter herbringe“ (V 7). Es war umsonst; sie waren nicht fähig, die göttliche Schrift zu entziffern, noch wurden sie von Gott mit seinen Geheimnissen betraut. Die Weisen Babels waren in Bezug auf die Gedanken Gottes zurzeit Belsazars ebenso unwissend, wie zurzeit Nebukadnezars. Trotz der lockendsten Aussichten und der glänzendsten Versprechungen „vermochten sie die Schrift nicht zu lesen, noch dem König die Deutung derselben kund zu tun“ (V 8). Wurde er durch ihre Unwissenheit beruhigt? Im Gegenteil, wir lesen: „Da erschrak der König Belsazar sehr, und sein Antlitz ward an ihm entstellt, und seine Gewaltigen wurden bestürzt“ (V 9).
Es gab noch eine Person an dem gottlosen Hofe Belsazars, die Königin, 2 die sich des Mannes erinnerte, der sich unter Nebukadnezar wegen seines vortrefflichen Geistes, der in ihm war, vor allen Weisen Babels ausgezeichnet hatte. Sie kam in diesem verhängnisvollen Augenblick in das „Haus des Mahls“, wo sich das Lachen und der Übermut der ausschweifenden Gesellschaft in Angst und Entsetzen verwandelt hatte, und sprach zu dem König: „Es ist ein Mann in deinem Königreich, in welchem der Geist der heiligen Götter ist; und in den Tagen deines Vaters ist bei ihm gefunden worden Licht und Verstand und Weisheit gleich der Weisheit der Götter; und der König Nebukadnezar, dein Vater, setzte ihn zu einem Obersten der Schriftgelehrten usw“ (V 11–12). Belsazar hatte sich ebenso wenig um Daniel bekümmert, als um den höchsten Gott; er hatte diesen ebenso sehr für nichts geachtet, wie jenen Gefangenen aus Juda. Nur Stolz und Trotz füllten sein Herz, sowohl dem Herrn als auch seinem Diener gegenüber. Doch in seiner Angst hörte er auf den Rat der Königin und ließ Daniel hereinbringen.
„Der König antwortete und sprach zu Daniel: Bist du Daniel, einer der Weggeführten aus Juda, die der König, mein Vater, aus Juda gebracht hat?“ (V 13) Dann teilt er ihm mit, was er über ihn gehört, und in welch großer Verlegenheit er sich befindet, und dass alle Weisen und Beschwörer Babels ihm nicht zu helfen vermögen. Schließlich fügt er hinzu: „Wenn du nun vermagst, diese Schrift zu lesen und ihre Deutung mir kund zu tun, so sollst du bekleidet werden mit Purpur, mit einer goldenen Kette um deinen Hals, und sollst der dritte Herrscher im Königreich sein“ (V 14–16). Doch wie lautet die Antwort Daniels? „Deine Gaben seien für dich selbst, und deine Geschenke gib einem anderen; dennoch werde ich die Schrift dem König lesen und die Deutung ihm kundtun“ (V 17). Wie so ganz anders ist die Sprache und das Verhalten Daniels vor diesem König, als einst vor Nebukadnezar, seinem Großvater! Mit kurzen, ja fast verächtlichen Worten weist er die Geschenke Belsazars zurück; dieser hatte sich öffentlich als ein übermütiger und trotziger Feind Gottes dargestellt, und deshalb verfährt Daniel in einer dem entsprechenden Weise mit ihm. Zunächst ruft er ihm ins Gedächtnis zurück, dass jener von ihm verhöhnte höchste Gott es war, der Nebukadnezar das Königreich und Größe und Ehre und Herrlichkeit gegeben hatte, dann erinnert er ihn an die Gesichte dieses Königs und an die Wege Gottes mit ihm, wie Er ihn erniedrigte, als er sich in seinem Stolz erhob, wie Er ihm seinen Thron nahm, ihn von den Menschen ausstieß und den Tieren gleichmachte, „bis er wusste, dass Gott, der Höchste, Herrscher ist über die Königreiche der Menschen und über sie setzt, wen Er will“ (V 18–21). Dann fährt er fort: „Und du, Belsazar, sein Sohn, hast dein Herz nicht gedemütigt, obwohl du dieses alles gewusst hast. Und du hast dich über den Herrn des Himmels erhoben ... aber den Gott, in dessen Hand dein Odem ist, und bei dem alle deine Pfade sind, hast du nicht verherrlicht“ (V 22–23). Belsazar hatte dies alles gewusst, aber nicht im Geringsten beachtet, und das machte ihn umso strafbarer. Er hatte die Gefäße des Hauses Jehovas mit ruchloser Hand angetastet und seine eigenen Götzen von Gold und Silber, Erz, Eisen, Holz und Stein, die nicht sehen und nicht hören und nichts wissen, gepriesen. Er hatte den höchsten Gott, den Gott des Himmels, herausgefordert und verhöhnt; er hatte Ihn verworfen und den Teufel erhoben; denn dieser war es, der sich hinter jenen Götzen von Silber und Gold verbarg und diese öffentliche und schmähliche Entweihung und Entehrung des höchsten Gottes in Szene setzte, und dessen willenlose Werkzeuge Belsazar und seine Gewaltigen waren. Mochten diese in ihrer Handlungsweise auch nur eine Verherrlichung ihrer Siege über die früher so mächtige, jetzt aber völlig niedergeworfene Nation der Juden sehen, so war es doch in Wirklichkeit eine direkte, persönliche Beleidigung des einzigen wahren Gottes. Und Er selbst tritt hier auf den Schauplatz, um diesem Angriff zu begegnen. „Da ist der Teil der Hand von Ihm gesandt und diese Schrift gezeichnet worden. Dies nun ist die Schrift, die da gezeichnet worden: Mene, Mene, Tekel, Upharsin. Dies ist die Deutung dieser Worte: Mene – Gott hat dein Königreich gezählt und es vollendet. Tekel – du bist auf der Waage gewogen und zu leicht erfunden. Peres – dein Königreich ist verteilt und den Medern und Persern gegeben“ (V 24–28).
Alle die Weisen Babels waren nicht fähig gewesen, diese Schrift zu lesen, obwohl die Worte der chaldäischen Sprache angehörten, die sie, da es ihre Muttersprache war, doch eigentlich besser verstehen mussten wie Daniel, der sie vielleicht erst später erlernt hatte; noch vermochten sie den Sinn dieser Schrift zu deuten. Es mangelte ihnen nicht nur der Geist der Prophezeiung, sondern jede Verbindung mit Gott. Bei Daniel war beides vorhanden; er war in Gemeinschaft mit Gott; er wandelte in der Gegenwart seines Lichtes, und der Geist der Weissagung ruhte auf ihm. Er war nicht nur fähig, die Schrift zu lesen, sondern auch ihre Deutung mitzuteilen. Doch welch ernste Worte! Es war die letzte feierliche Warnung Gottes vor dem Gericht – eine Warnung jedoch, die dieses Gericht schon ankündigte und keine Zeit mehr zur Buße ließ. Belsazar hatte die ernste Warnung, die ihm in der Geschichte Nebukadnezars erteilt worden war, unbeachtet gelassen, und so blieb kein Heilmittel für ihn übrig; seine. Stunde war gekommen. „In selbiger Nacht ward Belsazar, der König der Chaldäer, getötet“ (V 30). Das Gericht über Babylon wurde vollzogen.
Wie schon bemerkt, macht uns dieses Kapitel mit dem letzten Charakter der Bosheit und Gottlosigkeit bekannt, den die herrschende Macht der Nationen im Widerstand gegen den Gott Israels annimmt, und zugleich mit dem Gericht, das darauf folgt (Fortsetzung folgt).
Fußnoten
- 1 z. B. Hesekiel 31. Dort wird Assyrien als eine prachtvolle und ausgebreitete Zeder des Libanon, als der schönst Baum im Garten Gottes, d. h. auf der Erde, bezeichnet, so dass alle die übrigen Zedern, Zypressen und Platanen in diesem Garten, d. h. die übrigen Mächte der Welt, ihn nicht verdunkelten, noch seinen Zweigen gleich waren. Andere Beispiele finden wir in Amos 2,9; Jesaja 2,13; 10,18-19; Hesekiel 17,23-24; Psalm 1,3; 92,12; Matthäus 13,32
- 2 Wahrscheinlich die Königin Mutter; wenigstens scheint dies aus einem Vergleich der Verse 2 und 10 hervorzugehen.
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