Botschafter des Heils in Christo 1880
Das Gewissen
Die Tiere haben mit dem Menschen ein gewisses Verständnis gemein, aber sie besitzen nicht das, was diesen unter Verantwortlichkeit stellt. Der Mensch, und nur der Mensch, hat unter allen Geschöpfen auf der Erde ein Gewissen. Wohl erlangen manche Tiere nach und nach ein Bewusstsein, dass gewisse Handlungen ihnen die Gunst ihres Herrn erwerben, während andere Strafe von seiner Hand nach sich ziehen; wohl können manche Geschöpfe dazu gebracht werden, ihren Herren zu gehorchen. Allein man kann diese Gefühle der Tiere und das Gewissen des Menschen nicht auf gleiche Stufe stellen.
Mittelst eines Stockes kann man einer grasenden Kuh beibringen, dass sie das grüne Futter, welches jenseits der Hecke wächst, nicht nehmen darf, obwohl ihre Zunge es gerne haben möchte und auch haben könnte. Die Erinnerung an den Stock, den sie mehrmals gefühlt, weil sie dem Willen ihres Herrn entgegenhandelte, hat sie gelehrt, ihre Neigung zu beherrschen. Allein eine solche Erinnerung ist nicht Gewissen. Ein Papagei lernt das Wort „Rute“ fürchten, weil damit ein Schlag mit derselben in seiner Erinnerung zusammenhängt; er wird darum aufhören zu schreien, sobald man ihm mit der „Rute“ droht. Aber ich wiederhole es, das Verständnis des Geschöpfs ist nicht das Gewissen. Das Gewissen ist im Menschen, und für den, welcher weih, dass er ein Sünder ist, ist es etwas Schreckliches. Es streitet im Innern des Menschen Wider seine Lüste und Begierden und verdirbt ihm den Genuss der Sünde. Es macht den Menschen, welcher die Befriedigung seiner sündigen Begierden sucht und findet, elend und nötigt ihn, seine Vergehen zu bekennen.
Wir leugnen nicht, dass sich der Mensch verhärten und trotz seines Gewissens einem Tier gleich werden kann, indem er das Böse nur wegen der Folgen fürchtet, so dass er gegen jeden guten Einfluss unempfindsam und die menschliche Gesellschaft schließlich genötigt wird, ihn von sich auszuschließen.
Was ist aber das Gewissen? Es ist nicht der Wille im Menschen, denn mit diesem steht es oft im Widerspruch. Es ist auch nicht der Verstand, denn wenn dieser den Menschen überzeugen will, eine gewisse Handlung bringe ihm Schaden oder Nutzen, so ruft ihm das Gewissen zu, er solle das Rechte tun, es koste, was es wolle. Das Gewissen ist der moralische Sinn des Richtigen und des Falschen, der dem Menschen eigen ist; mit einem Wort, es bildet ebenso wie der Verstand und der eigene Wille einen Teil seines gegenwärtigen Daseins. Wir könnten sagen, das Gewissen sei das Auge des moralischen Wesens des Menschen, oder eine Stimme in seinem Innern, die in Betreff des Guten und Bösen mit Autorität zu ihm redet.
Das Gewissen ist nicht eine Fähigkeit im Menschen, welche ihn in den Stand setzt, in absoluter Weise zu wissen, was böse und was gut ist, sondern es wendet sich an den Menschen nach den Vorschriften des Gesetzes, welches er kennt. Das Gewissen hat nötig, unterwiesen zu werden; es unterweist nicht. Und je nach dem Maß der Treue, womit es unterwiesen worden ist, sind seine Gefühle mehr oder weniger richtig.
Man sagt sehr häufig: Ich handle nach meinem Gewissen. Allein das Gewissen ist nicht der Maßstab des Rechten und Guten. Der Heide kann durch sein Gewissen nicht so geleitet werden, wie jemand, der die Heiligen Schriften kennt. Ebenso redet das Gewissen eines Christen, welcher im Geist des Willens seines Vaters unterrichtet ist, ganz anders als dasjenige eines Menschen, der bloß den Buchstaben der Schrift kennt. Und selbst unter den wahren Christen gibt es einen großen Unterschied in der Zartheit und Empfindsamkeit des Gewissens. Dasselbe gleicht einem Fenster, welches mehr oder weniger Licht hereinlässt, je nachdem es helle oder trübe ist. Die Einen befleißigen sich, das Fenster rein zu halten, die Anderen sind träge darin, und darum ist ihr Leib nicht voll Licht.
Die Verantwortlichkeit des Menschen hängt von der Kenntnis ab, welche er vom Guten und Bösen hat. Wenn wir wissen, was recht ist, so sind wir verpflichtet, zu gehorchen, und das Gewissen wird demgemäß zu uns reden. Die Heiden hatten das Buch der Natur vor ihren Augen „Denn die unsichtbaren Dinge von Ihm, beides seine ewige Kraft und Göttlichkeit, von der Schöpfung, der Welt an in den gemachten wahrgenommen, werden geschaut – also dass sie keine Entschuldigung haben“ (Röm 1,20). „Denn wenn die Nationen, die kein Gesetz haben, von Natur die Dinge des Gesetzes ausüben – diese, die kein Gesetz haben, sind sich selbst ein Gesetz, als welche zeigen das Werk des Gesetzes, geschrieben in ihren Herzen, indem ihr Gewissen mitzeugt und ihre Gedanken sich unter einander anklagen oder auch entschuldigen“ (Röm 2,14–15).
Der bekennende Christ kennt den Charakter, die Heiligkeit und die Gerechtigkeit Gottes, und sein Gewissen gibt ihm hiervon Zeugnis und verurteilt ihn. Gott hat in seinem Wort einen untrüglichen Maßstab offenbart, und das Gewissen des Menschen sagt ihm, wie schlecht er ist. Da, wo das Wort Gottes gehört worden ist, kann man Gott von dem Gewissen nicht mehr trennen. Unser moralischer Instinkt, unser Gefühl vom Guten und Bösen gibt dem unsichtbaren Gott Zeugnis. Doch wie kam in den Menschen diese Stimme hinein? Als alles gut war, ließ sich die Stimme, welche den Menschen vor dem Bösen warnt, nicht vernehmen. Sie konnte nicht von dem Guten zeugen, da das Böse noch nicht da war. Wenn der Mensch kein Sünder wäre, so würde er den heiligen Gott nicht fürchten. Gott hatte den Menschen aufrichtig gemacht und ihn auf einen Schauplatz des Guten gestellt, wo sich nichts Böses fand; und er kannte das Böse in jenen Tagen auch nicht.
Hatte denn der Mensch vor dem Fall kein Gewissen? Wir sagen nicht: er hatte kein Gewissen, in dem Sinn, als ob er nicht vollkommen gewesen wäre. Das Gewissen ist an und für sich etwas Gutes, aber es wurde auf eine schlechte Weise erlangt. Vor dem Fall war das Gewissen wie die Flügel eines eingepuppten Insektes; der Mensch war noch nicht in den Zustand eingetreten, in welchem er, wie die Schlange sagte, „sein werde wie Gott.“ Die Unschuld war nicht Vollkommenheit, gleich wie die Einfalt nicht weise ist. Der Mangel der Erkenntnis des Bösen ist etwas Angenehmes; deshalb schätzen wir die Einfalt der Kinder so hoch. Aber der Unterschied zwischen dem Zustand der Unschuld und demjenigen eines Menschen in „wahrhaftiger Gerechtigkeit und Heiligkeit“ ist groß (Eph 4,24).
Als der Mensch erschaffen wurde, fehlte ihm die Kenntnis des Bösen; sein Zustand war überaus schon, und er war glücklich. Jetzt hat der Mensch diese Einfalt verloren; er ist reif und kennt den Unterschied zwischen dem Guten und Bösen, aber er ist ein gefallenes Geschöpf. Er liebt das Böse und kann das Gute nicht vollbringen. Wenn wir sagen, dass er gefallen ist, so heißt das, dass er von Gott abgefallen ist – aus der Stellung heraus, in die Er ihn gebracht hatte. Mit dem Fall hat der Mensch die Erkenntnis erlangt (1. Mo 3,22). Es ist nicht zu leugnen, dass er Erkenntnis hat; allein mit der Erkenntnis hat er eine Natur erworben, die Gott zuwider ist und Ungerechtigkeit liebt. Kann man das Fortschritt nennen?
Vom Christen wird gesagt: „Dass ihr, was den früheren Lebenswandel betrifft, abgelegt habt den – alten Menschen, der nach den Lüsten des Betrugs verdorben ist, aber erneuert werdet im Geist eurer Gesinnung, und angezogen habt den neuen Menschen, der nach Gott geschaffen ist in wahrhaftiger Gerechtigkeit und Heiligkeit“ (Eph 4,22–24). Das ist nicht die wieder erlangte Unschuld, noch eine Rückkehr zum ersten Zustand, sondern Gerechtigkeit und wahre Heiligkeit. In der Tat wird der Mensch die Erkenntnis des Guten und Bösen nie verlieren, aber in Christus ist er nicht mehr unter der Macht des Bösen. Auch in der Zukunft wird der Gläubige die Erkenntnis des Guten und Bösen, besitzen, ohne aber je ein Verlangen nach dem Bösen zu haben; vielmehr wird er sich des Guten freuen. Das wird die Vollkommenheit sein.
Wie hat der Mensch das Gewissen erlangt? Durch den Ungehorsam. Er hat seine Erkenntnis geraubt, und so sind seine Augen geöffnet worden. Der Ungehorsam war der Schlüssel, mit welchem er die Türen der Welt aufschloss. Eden war nicht die Welt, sondern der Garten der Erde. Aber als die Augen des Menschen für die unheilbringende Kenntnis des Bösen geöffnet wurden, fürchtete er sich und floh von Gott weit hinweg. So hat die Welt begonnen, und so geht sie voran. Die Erkenntnis, die der Mensch besitzt, verurteilt ihn und wird ihn stets verurteilen.
Da Adam von Gott aufrichtig erschaffen worden war und bis zum Ungehorsam nie eine Idee vom Bösen gehabt hatte, noch mit der Sünde irgendwie bekannt war, wie wir es von Jugend auf sind, so musste er ein überaus Zartes Gewissen haben. Jetzt steht der Mensch dem Bösen gegenüber und ist gut in demselben unterwiesen; er lernt es leider von Kindheit an. Es ist ihm ohne Erziehung eigen, weil er in Ungerechtigkeit gebildet und in der Sünde gezeugt worden ist (Ps 51). Und je mehr er das Gute lernt und von Gott unterwiesen wird, desto empfindsamer wird er gegen das Böse.
Jedoch ist es klar, dass das empfindsamste und zarteste Gewissen keine Kraft hat. Wenn im Innern des Menschen ein Licht leuchtet, das ihm den geraden Weg Zeigt, so ist es wie das Licht für die Füße eines Lahmen. „Denn ich weiß, dass in mir, das ist in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt; denn das Wollen ist bei mir, aber das Wirkendessen, was recht ist, finde ich nicht“ (Röm 7,18). Das Gewissen macht den Menschen in sich selbst verächtlich und elend. Jedoch gibt es auch Menschen, welche nicht „in Christus“ sind und dennoch ein so gut unterwiesenes Gewissen haben, dass sie manche Christen beschämen. Sie würden um keinen Preis eine schlechte Tat ausführen. Viele Menschen können sich dessen rühmen; allein wir dürfen dies nie mit dem „neuen Leben in Christus“ verwechseln.
Wenn jetzt der Geist Gottes in einem Menschen wirkt, so beginnt er mit dem Gewissen. Es ist wahr, dass etliche scheinbar mehr in ihrem Herzen bearbeitet werden, andere mehr in ihrem Geist. Allein der Mensch wird durch das Gewissen zu Gott gezogen. Bei den Kindern werden gewöhnlich die Neigungen zuerst angeregt; jedoch ist bei ihnen die Erkenntnis des Guten und Bösen Vergleichungsweise gering, weshalb wir sehen, dass, je mehr sie in der Gnade wachsen, ihre Empfindsamkeit gegen das Böse zunimmt. Wenn nur das Gemüt und der Geist des Menschen angeregt werden, so hat er kein solides Fundament in sich. Je gründlicher und tiefer die Arbeit des Gewissens ist, desto solider wird auch das Gebäude sein. Die Entfernung des Menschen von Gott wurde durch den Ungehorsam bewirkt, und er verbarg sich vor Gott wegen der Furcht, die sein Gewissen in ihm wachrief; Gott beginnt mit dem Menschen da, wo dieser ihn verlassen hat. Um zu Gott zurückzukehren, muss der Mensch dem Evangelium gehorchen Und durch die Beängstigungen seines ihn verklagenden Gewissens wird er dahin gebracht, zu sagen: Ich habe gesündigt.
In unseren Tagen wird häufig eine Art von Evangelium gepredigt, welches das Gewissen bei Seite lässt oder es nur leicht berührt. Auf diese Weise gibt es viele falsche, oder wenigstens nur schwache Bekehrungen. Man kann keine einzige Stunde mit Gott wandeln, wenn das Gewissen nicht aufrichtig vor Ihm ist. Dieser Grundsatz ist von dem Christen ebenso wahr, wie von dem unbekehrten Menschen. Ein Unbekehrter kann ein Namenschrist werden und scheinbar gut wandeln, aber solange er das Wort Gottes, das lebendige und mächtige Wort, nicht auf dem Gewissen angewandt hat, kommt er Gott nicht näher, wie Adam, als er sich vor Gott versteckte. Und was den Christen betrifft, so kann er, wenn sein Gewissen vor Gott nicht aufrichtig ist, keine Gemeinschaft mit Ihm haben. Er hat das Leben in Christus, aber weil sein Gewissen nicht aufrichtig vor Gott ist, gleicht er einem Menschen, der schläft.
Das Gewissen des Christen ist die Empfindsamkeit in Bezug auf das Gute und Böse. Ein Heide hat nicht das Bewusstsein, dass Stehlen schlecht ist, und er wird stehlen, wenn er sicher ist, nicht ertappt zu werden. So lernt auch ein Affe das Gestohlene verbergen. Aber das Gestohlene verbergen, weil man fürchtet, es zurückgeben zu müssen oder bestraft zu werden, ist ganz und gar verschieden von dem moralischen Bewusstsein, dass der Diebstahl etwas Böses ist.
Die Lust ist, wie der Herr sagt, der Ausübung des Bösen gleich. Und hinsichtlich der Wirkung, welche durch das Gesetz auf die erweckte Seele ausgeübt wird, steht geschrieben: „Aber die Sünde hätte ich nicht erkannt, als nur durch Gesetz. Denn auch von der Luft hätte ich nichts gewusst, wenn nicht das Gesetz gesagt hätte: Lass dich nicht gelüsten“ (Röm 7,7).
Je mehr der Gläubige in der Gnade und in der Erkenntnis des Herrn wächst, desto schärfer wird sein Gewissen. Seine Sünden beängstigen ihn, nicht weil er die Strafe fürchtet, sondern weil er Gott beleidigt hat. Dieses scharfe Gefühl bewirkte, dass der Apostel sich Tag und Nacht übte, ein gutes Gewissen vor Gott und Menschen zu haben (Apg 24,16). Bei vielen Christen ist leider eine solche Trägheit des Geistes vorhanden – das Resultat einer geringen Gemeinschaft mit Gott – dass sie sich nicht üben, ein gutes Gewissen zu haben. Das Blut Christi hat unsere Gewissen gereinigt. Wir kennen das Gute und Böse, aber wir fürchten uns nicht vor Gott, weil wir wissen, dass das Blut seines Sohnes die Gerechtigkeit Gottes befriedigt hat. Wir fürchten nie einen Menschen, der nichts gegen uns hat, also fürchten wir auch Gott nicht, weil Er ganz für uns ist. Er hat seinen Sohn gegeben, und dieser bat sein Blut für uns vergossen. Unsere Gewissen welche hinsichtlich des Todes Christi durch den Geist Gottes unterrichtet sind, wissen, dass Gott gar nichts mehr wider uns hat.
Ein solches erleuchtetes Gewissen in der Gegenwart unseres heiligen und gnädigen Gottes macht uns empfindsam gegen jede Art des Bösen. Das Fenster der Seele des Christen hat keine Vorhänge, vielmehr verlangt er mit Sehnsucht, dass das Licht eindringe, und es ist sein heißer Wunsch, dass das Glas des Fensters von jedem Flecken und von jeder Unreinigkeit befreit werde. Darin übt er sich.