Botschafter des Heils in Christo 1879
Gideon und seine Gefährten 2/3
„Und es kam ein Engel Jehovas und setzte sich unter die Terebinthe, die zu Ophra war, welche Joas, dem Abi–Geriter, gehörte. Und Gideon, sein Sohn, klopfte Weizen aus in der Kelter, um ihn zu flüchten vor den Midianitern. Und es erschien ihm der Engel Jehovas und sprach zu ihm: Jehova mit dir, du tapferer Held!“ (Ri 6,11–12) Welche Worte für das Ohr Gideons, der sich aus Furcht vor den Feinden in der Kelter verborgen hatte! Es waren Worte vom Himmel, um seine Seele über die Schwierigkeiten, Sorgen und Demütigungen der Erde zu erheben – Worte von göttlicher Kraft und geeignet, seinem niedergedrückten und trauernden Herzen Mut einzuflößen. „Jehova mit dir, du tapferer Held!“ Wie schwer mag es Gideon geworden sein, diese merkwürdigen Worte auf sich anzuwenden! Ein Held ist stark und tapfer und verbirgt sich nicht vor seinen Feinden. Gideon aber offenbarte in jenem Augenblick seine ganze Schwachheit und Mutlosigkeit. Wo sollte er Kraft und Mut finden? Dort, wo auch Josua sie fand – in dem lebendigen Gott. Es besteht eine bemerkenswerte Ähnlichkeit zwischen den Worten, mit denen diese beiden auserwählten Knechte Gottes angeredet wurden, obwohl der Unterschied in den beiderseitigen Umständen ein so großer war. Zu Josua wurde gesagt: „Habe ich dir nicht geboten: Sei fest und mutig? Bebe nicht und erschrecke nicht, denn Jehova, dem Gott, ist mit dir überall, wohin du gehst“ (Jos 1,9); und die Ansprache an Gideon lautete: „Jehova mit dir, du tapferer Held!“
Welch köstliche, ermutigende Worte! Und doch vermochte Gideon nicht, sie sich zu eigen zu machen und sie anzunehmen in jenem einfältigen Glauben, welcher das Herz Gottes so sehr erfreut und seinen Namen verherrlicht. Wie oft ist es auch so mit uns der Fall! Wie selten vermögen wir uns zu der Höhe der gnädigen Ratschlüsse und Gedanken Gottes in Bezug auf uns zu erheben! Wir sind stets geneigt, nach uns und nach unseren Umgebungen zu urteilen, anstatt dem Wort Gottes zu glauben und in süßer Ruhe in seiner vollkommenen Liebe und unwandelbaren Treue zu ruhen.
„Und Gideon sprach zu ihm: Bitte, mein Herr! Ist Jehova mit uns, warum hat denn alles dieses uns betroffen? Und wo sind alle seine Wunder, die uns unsere Väter erzählt haben, indem sie sprachen: Hat uns Jehova nicht heraufgeführt aus Ägypten? Und nun hat uns Jehova verlassen und uns gegeben in die Hand Midians“ (V 13). Gideon urteilt augenscheinlich nach den Umständen. Daher seine ungläubige Frage: „Ist Jehova mit uns, warum hat uns denn alles dieses betroffen?“ Sicher waren die Umstände rund um ihn her von der traurigsten Art. Der Himmel war gleichsam mit dunklen, schweren Wolken behangen. Doch ein Heller Lichtstrahl durchbrach das finstere Gewölk und fiel auf das verzagte Herz Gideons – ein Strahl, der von dem Herzen Gottes selbst ausging – „Jehova ist mit dir.“ In diesen kurzen Worten gab es kein „wenn“, keinen Zweifel, keine Schwierigkeit und keine Bedingung. Sie waren klar und bestimmt, und um eine Sache war nötig, um sie in dem Herzen Gideons zu einer Quelle der Freude und der Kraft – zu machen, und das war, sie mit dem Glauben zu vermischen. Aber ein wahrer Glaube antwortet Gott niemals mit einem „wenn“, und zwar aus dem einfachsten aller Gründe – weil er auf Gott blickt, bei welchem es nie ein „wenn“ gibt. Der Glaube urteilt von Gott nach unten, nicht aber von dem Menschen nach oben. Der Glaube hat um eine Schwierigkeit, und diese ist eingeschlossen in der Frage: „Wie wird Gott nicht ...?“ wie überfragt er: „Wie wird Gott ...?“ Das ist die Sprache des Unglaubens.
Man möchte jedoch versucht sein, zu fragen: Gab es denn für Gideon wirklich keinen Grund zu seinem ungläubigen „wenn“ und „warum?“ In Gott und in seinem Wort war sicherlich kein Grund dazu vorhanden. Wenn Gideon nur einen kurzen Rückblick auf die Geschichte seines Volkes geworfen hätte, so würde er ohne Zweifel deutlich gesehen haben, warum es sich in einem so traurigen und demütigenden Zustand befand. Er würde eine völlig genügende Antwort auf seine Frage: „Warum hat denn alles dieses uns betroffen?“ erhalten haben. Aber waren die Handlungen Israels fähig, den Glanz der mächtigen „Wunder“ Jehovas auszulöschen? Für das Auge des Glaubens sicherlich nicht. Gott hatte große und herrliche Dinge für sein Volk getan; und die Erinnerung daran stand stets vor dem Auge des Glaubens. Ohne Zweifel hatte Israel gefehlt – auf traurige Weise gefehlt, und der Glaube erkannte die Untreue Israels ebenfalls an; sie lieferte eine ernste, feierliche Antwort auf die Frage Gideons. Der Glaube erkennt ebenso sehr die Regierung Gottes an, wie seine Gnade und beugt sich in heiliger Ehrfurcht vor jedem Streich seiner Rute. Wir tun wohl, dies nicht aus dem Auge zu verlieren. Wir sind so leicht geneigt, es zu vergessen; Gott muss zu Zeiten seine züchtigende Hand ausstrecken, weil Er nichts in und an uns ertragen kann, was nicht mit seiner Natur und mit seinem Namen im Einklang steht. Gideon hatte nötig, sich daran zu erinnern. Israel hatte gesündigt, und das war der Grund, weshalb sie unter der Zuchtrute standen.
Gideon war, wir wiederholen es, berufen, praktisch in dieses alles einzugehen und sich mit seinem Volk in seinem Elend und seiner Not eins zu machen. Es war dies, wie wir wissen, das Teil und die Erfahrung eines jeden treuen Dieners Gottes in Israel. Alle hatten durch jene tiefen Hebungen der Seele zu gehen, die eine Folge ihrer Verbindung mit dem Volk Gottes waren. Richter und Propheten, Priester und Könige – alle hatten die Leiden und Trübsale des Volkes Israel zu teilen. Andererseits konnte auch kein treues Herz – keins, das wirklich Gott und sein Volk liebte – wünschen, eine Ausnahme von solchen tiefen und heiligen Übungen zu machen. Dies war vor allen Dingen wahr bei dem einzigen vollkommenen Diener, der jemals auf dieser Erde gewandelt hat. Obgleich Er persönlich von all den Folgen der Sünde und der Untreue Israels ausgenommen war – obgleich rein und fleckenlos, göttlich heilig in seiner Natur und in seinem Leben – machte Er sich dennoch freiwillig und in vollkommener Gnade eins mit dem Volk in seiner ganzen Erniedrigung und in seinem tiefsten Elend. „In all ihren Drangsalen war Er bedrängt.“ So war es mit unserem gesegneten Herrn; und alle, die in irgendeinem Grad seinen Geist besaßen, hatten, je nach ihrem Maß, denselben Kelch zu trinken.
Wenn wir jetzt die Worte des Engels mit der Antwort Gideons vergleichen, so bemerken wir einen interessanten Unterschied zwischen der Sprache beider, einen Unterschied, der den besonderen, persönlichen Charakter des Buches der Richter von neuem treffend ans Licht stellt. Der Engel sagt: „Der Herr mit dir!“ Gideon antwortet: „Ist Jehova mit uns.“ Diese Worte stehen in völliger Übereinstimmung mit einer bereits angeführten Stelle aus dem 2. Kapitel: „Und wenn Jehova ihnen Richter erweckte, so war Jehova mit dem Richter“ – es heißt nicht: „Er war mit dem Volk“; wohl aber lesen wir weiter die lieblichen Worte: „und Er rettete sie aus der Hand ihrer Feinde alle die Tage des Richters; denn es gereute Jehova wegen ihrer Wehklage vor ihren Bedrückern und ihren Drängern“ (V 18).
Dies ist sehr schön und köstlich. Wenn Jehova sein Angesicht vor seinem Volk verbergen und es für eine Zeit in die Hand der Unbeschnittenen übergeben musste, so war sein liebendes Herz doch allezeit mit ihnen beschäftigt und stets bereit, die leisesten Spuren eines bußfertigen Geistes zu bemerken. „Wer ist ein Gott wie du, der die Ungerechtigkeit vergibt und die Übertretung des Überrestes seines Erbteils übersteht? Er halt seinen Zorn nicht auf immer, denn Er hat Wohlgefallen an Güte. Er wird sich unser wieder erbarmen, Er wird unsere Ungerechtigkeiten niedertreten; und du wirst alle ihre Sünden in die Tiefe des Meeres werfen. Du wirst Jakob Wahrheit erweisen und Abraham Güte, die du unseren Vätern geschworen von den Tagen der Vorzeit her“ (Mi 7,18–20).
Gideon schloss also aus den Umständen, dass Gott sein Volk vergessen hatte. Er dachte nicht daran, dass Er den Verheißungen, die Er Abraham, Isaak und Jakob gemacht, treu bleiben würde. Wäre ein einfältiger Glaube bei ihm vorhanden gewesen, so würde Er zu einem ganz anderen Schluss gekommen sein. Der Glaube rechnet auf Gott, und Gott, gepriesen sei sein Name! ehrt den Glauben. Zuerst bringt Er ihn in uns hervor, und dann erkennt Er ihn an. Doch nicht allein das, Gott vertreibt auch unsere Furcht. Er erhebt sich über unseren Unglauben und bringt alle unsere törichten Überlegungen zum Schweigen. In seinem Verkehr mit Gideon, seinem auserwählten Knecht, scheint es, als ob Er sein „wenn“ und „warum“ gar nicht gehört hätte. Er beginnt, seine Gedanken vor ihm zu entfalten und die Seele seines Knechtes mit einem Vertrauen und einem Mut zu erfüllen, der ihn über alle die niederdrückenden Einflüsse, die ihn umgaben, erheben sollte.
„Und Jehova wandte sich zu ihm und sprach: Gehe hin in dieser deiner Kraft, und du sollst Israel retten aus der Hand Midians. Habe ich dich nicht gesandt?“ (V 14) Welch erhebende Worte! Aber ach! Gideon ist immer noch voller Fragen. „Und er sprach zu ihm: Bitte, mein Herr, womit soll ich Israel retten? Siehe, mein Tausend – das ärmste in Manassa, und ich bin der Kleinste im Haus meines Vaters“ (V 15).
So ist es immer. Der Unglaube richtet seinen Blick entweder auf die Umstände, oder auf sich selbst. Er bringt uns dazu, unsere sichtbaren Hilfsmittel mit dem Werk, wozu Gott uns beruft, zu vergleichen. Jehova hatte gesagt: „Gehe hin in dieser deiner Kraft.“ Worin bestand diese Kraft? In einem großen Reichtum, einer erhabenen Stellung oder in einer gewaltigen Körperkraft? Nein, in nichts Derartigem. „Jehova wandte sich zu ihm und sprach: Gehe hin in dieser deiner Kraft, und du sollst Israel retten.“ Das waren bestimmte, unzweideutige Worte. Sie machten es sehr klar, dass die Kraft, mit welcher Gideon Israel erretten sollte, nicht in ihm oder in seines Vaters Haus, sondern in dem Gott Israels lag. Es war von geringer Wichtigkeit, ob seine Familie reich oder arm, ob er klein oder groß war. Gott war es, der ihn gebrauchen wollte. Und was war für Ihn Reichtum und Größe? Er konnte sich eines Gerstenbrotes, oder eines zerbrochenen Kruges bedienen. Was machte es für den allmächtigen Gott für einen Unterschied, ob sein Werkzeug stark oder schwach, ein Niese oder ein Zwerg war? Das Werkzeug ist nichts. Gott ist alles in allem. Wohl gefällt es Ihm, Werkzeuge zu gebrauchen; aber alle Kraft ist sein. Ihm allein gebührt aller Ruhm von Ewigkeit zu Ewigkeit. Gideon hatte dieses zu lernen, und wir nicht minder. Es ist eine unschätzbare Lektion. Wir sind alle so geneigt, wenn irgendeine Arbeit, oder ein Dienst uns zu vollbringen obliegt, an unsere Fähigkeit zu denken, während wir uns immer daran erinnern sollten, dass Gott es ist, der alles tun muss und tut. Er ist es, der uns zu allem fähig machen muss. Wir können nichts tun; und könnten wir es, so würde es sicher schlecht getan sein. Der menschliche Finger kann nur einen Flecken zurücklassen. Die Werke der Menschen vergehen wie ihre Gedanken. Das Werk Gottes bleibt für immer und ewig. Möchten wir uns allezeit daran erinnern, damit wir demütig wandeln und uns stets auf den mächtigen Arm des lebendigen Gottes stützen!
In der Berufung Gideons finden wir zwei Dinge, die unsere höchste Aufmerksamkeit verdienen. Zunächst tritt uns in den bedeutungsvollen Worten: „Habe ich dich nicht gesandt?“ der göttliche Auftrag an Gideon entgegen; und dann hören wir im 16. Verse aus dem Mund Jehovas die ermutigende Versicherung seiner Gegenwart. „Gewiss, ich werde mit dir sein.“ Das sind die beiden Hauptpunkte für alle, welche Gott dienen wollen. Sie müssen zunächst wissen, dass der Pfad, den sie betreten, durch die Hand Gottes ihnen bestimmt vorgezeichnet ist, und dann, dass Er auf dem Weg mit ihnen sein wird. Diese beiden Dinge sind unumgänglich nötig. Ohne sie werden wir stets unentschlossen sein und hin und her schwanken. Wir werden von einer Art des Werkes zu einer anderen übergehen, heute vielleicht mit dem größten Eifer eine Tätigkeit aufnehmen, um sie morgen wieder mit einer anderen zu vertauschen. Unser Lauf wird unbeständig und unser Licht flackernd sein. Ohne Festigkeit und Beständigkeit werden wir alles anfangen wollen, aber nichts vollenden.
Es ist von unermesslicher Wichtigkeit für einen jeden Diener Christi, für ein jedes Kind Gottes, zu wissen, dass er an dem ihm von Gott angewiesenen Platze steht und das ihm von Gott übertragene Werk vollbringt. Ein solches Bewusstsein wird uns Festigkeit und eine heilige Unabhängigkeit verleihen. Es wird uns davor bewahren, durch menschliche Gedanken und Meinungen umhergeschleudert, oder durch das Urteil des Einen oder Anderen beeinflusst zu werden. Es ist unser gesegnetes Vorrecht, in dem Bewusstsein, dass wir gerade dasjenige Werk tun, welches der Meister uns zu tun gegeben hat, so sicher zu sein, dass wir uns durch die Gedanken anderer nicht im Geringsten darin beirren lassen.
Es möchte jedoch scheinen, als ob wir einem Geist stolzer Unabhängigkeit das Wort reden wollten. Ferne sei uns ein solcher Gedanke! In einem Sinn können wir, als Christen, niemals unabhängig voneinander sein. Wie wäre es auch möglich, da wir einer des anderen Glieder sind? Wir sind verbunden mit einander und mit unserem verherrlichten Haupt im Himmel, und zwar durch den einen Geist, der bei uns und in uns ist. Doch zu gleicher Zeit müssen wir auf der Wahrheit unserer persönlichen Verantwortlichkeit bestehen. Sie muss mit aller Entschiedenheit aufrecht gehalten werden. Ein jeder Diener hat es mit seinem Herrn zu tun, und zwar in dem besonderen Wirkungskreis, in welchen er berufen ist. Und mehr noch, ein jeder sollte seine Arbeit und die ihm verliehene Gabe kennen und sich dem ihm übertragenen Werke mit allem Fleiß und aller Ausdauer unterziehen. Er sollte die heilige Gewissheit besitzen, welche jene göttlichen und schwerwiegenden Worte der Seele verleihen: „Habe ich dich nicht gesandt?“
Vielleicht möchte jemand einwenden: „Wir sind aber nicht alle Gideons und Josuas. Wir sind nicht alle berufen, einen so hervorragenden Platz einzunehmen oder einen so herrlichen Pfad zu wandeln, wie jene großen Männer.“ Das ist wahr; aber wir sind alle berufen zu dienen, und es ist höchst wichtig für einen jeden Diener, seinen Auftrag zu kennen, sein Werk zu verstehen und in seinem Herzen völlig überzeugt zu sein, dass er gerade dasjenige tut, was der Herr ihm aufgetragen hat, und dass er gerade auf dem Weg wandelt, der ihm von der Hand Gottes vorgezeichnet ist. Wenn hierüber irgendwelche Ungewissheit in der Seele besteht, so können unmöglich Fortschritte gemacht werden.
Wenn wir aber wirklich den uns von Gott vorgezeichneten Pfad wandeln, so haben wir auch die köstliche Verheißung, dass Er mit uns ist. „Gewiss, ich werde mit dir sein.“ Und das ist alles, was wir bedürfen. Sind wir von Gott beauftragt und ist Er mit uns, so macht es nichts aus, wer, was oder wo wir sind. Der Unglaube mag vielleicht ausrufen: „Bitte, mein Herr, womit soll ich Israel retten? Siehe, mein Tausend – das ärmste in Manasse, und ich bin der Kleinste im Haus meines Vaters.“ Doch der Glaube kann erwidern: „Was hat das alles zu bedeuten, wenn Gott für uns ist? Hat Er den Reichen oder den Edlen nötig? Was ist Reichtum und Größe für Ihn? Nichts.“ – „Denn ihr seht eure Berufung, Brüder, dass nicht viele Weise nach dem Fleisch, nicht viele Mächtige, nicht viele Edle sind, sondern das Törichte der Welt hat Gott auserwählt, auf dass Er die Weisen zu Schanden mache; und das Schwache der Welt hat Gott auserwählt, auf dass Er das Starke zu Schanden mache; und das Unedle der Welt und das Verachtete hat Gott auserwählt, und das, was nicht ist, auf dass Er das, was ist, zunichtemache, damit sich vor Gott kein Fleisch rühme“ (1. Kor 1,26–29).
Diese Worte enthalten eine heilsame Lehre für uns alle. Es ist für jeden teuren Diener Gottes eine unaussprechliche Gnade, wenn er in dem völligen Bewusstsein seines gänzlichen Nichts erhalten bleibt und gelernt hat, die Tiefe und Kraft jener kurzen, aber bedeutungsvollen Worte: „Außer mir könnt ihr nichts tun“, zu verstehen. Nur dann, wenn wir in Christus bleiben, kann der lebendige Saft des Weinstocks uns durchdringen und gesunde Triebe, grüne Blätter und gute Früchte hervorbringen (vgl. Joh 15). In dem Bleiben im Weinstock liegt das große Geheimnis unserer Kraft. „Gesegnet ist der Mann, der auf Jehova vertraut, und dessen Vertrauen Jehova ist! Denn er wird sein wie ein Baum, der gepflanzt ist am Wasser und am Strom seine Wurzeln ausstreckt und es nicht merkt, wenn eine Hitze kommt. Und sein Laub ist grün, und in einem Jahr der Dürre sorgt er nicht und hört nicht auf, Frucht zu tragen“ (Jer 17,7–8).
Doch kehren wir zu unserer Geschichte zurück. Je eingehender wir das Verfahren des Herrn mit Gideon betrachten, desto mehr müssen wir erstaunen über die wunderbare Weise, in welcher Er ihn für seine spätere Tätigkeit zubereitet. Gleich allen Dienern Gottes, zu welchen Zeiten sie auch gelebt haben mögen, hatte Gideon eine geheime Erziehung durchzumachen, ehe er fähig war, öffentlich aufzutreten. Der Charakter und die Dauer der Erziehung mag in den einzelnen Fällen verschieden sein; allein wir können mit Bestimmtheit behaupten, dass alle, welche von Gott in einem öffentlichen Dienst gebraucht werden sollen, in der Zurückgezogenheit von Ihm belehrt sein müssen. Es ist ein verhängnisvoller Fehler, wenn jemand an die Öffentlichkeit tritt, ohne genügend dazu ausgerüstet zu sein; und diese Ausrüstung kann nur in dem Geheimnis der göttlichen Gegenwart gewonnen werden. Nur in der verborgenen Zurückgezogenheit mit Gott werden Gefäße gefüllt und Werkzeuge für seinen Dienst fähig gemacht.
Möchten wir dies nie vergessen! Niemand kann in einem öffentlichen Werk Fortschritte machen, ohne diese geheime Unterweisung in der Schule Christi. Dieselbe verleiht dem Charakter Tiefe, Festigkeit und doch Zartheit. Man wird stets finden, dass sich da, wo jemand ohne diese göttliche Vorbereitung ans Werk geht, Schwäche und Unbeständigkeit zeigt. Vielleicht mögen solche oberflächliche Charaktere für eine Zeit lang einen scheinbar größeren Eifer an den Tag legen, wie jene, welche in der Schule Christi erzogen worden sind; allein er wird bald vergehen. Nichts wird bestehen, was nicht das direkte Resultat einer persönlichen Gemeinschaft mit Gott und einer geheimen Erziehung in seiner Gegenwart ist. Wir finden hierfür ein treffendes Beispiel in der Geschichte Gideons. Er musste offenbar durch tiefe Seelenübungen gehen, ehe er den ersten Schritt in die Öffentlichkeit tat, ja ehe er das Banner des Zeugnisses in dem Haus seines Vaters aufrichtete. Er musste mit sich selbst, mit seinem persönlichen Zustand und mit seinem eignen Herzen beginnen (Schluss folgt).
Solange wir in dieser feindseligen Welt sind, ist es vor allem nötig, uns stets nahe bei dem Herrn zu halten und mit Ihm zu wandeln, damit wir seine Kraft besitzen und das Bewusstsein in uns haben, dass Er mit uns ist. Alsdann werden wir in dem rechten Wege, in seinem Weg wandeln, und weil unser Auge einfältig ist, so wird unser ganzer Leib voll Licht sein. Dann werden die Schwierigkeiten auf dem Weg keine Zweifel in uns wachrufen; wir werden die Gegenwart des Herrn in der Prüfung finden, und seine Freude wird unser Herz erfüllen. Wir werden mehr als Überwinder sein durch den, der uns geliebt hat.