Botschafter des Heils in Christo 1879
Gideon und seine Gefährten - Teil 1/3
In der Geschichte des Volkes Israel lassen sich zwei große Zeitabschnitte unterscheiden – zunächst die Periode, in welcher die Zwölf Stämme handelten wie ein Mann, und dann diejenige, in welcher ein Mann berufen war, für die zwölf Stämme zu handeln. Wir möchten die erstere die Periode der Einheit und die letztere die Periode der einzelnen, persönlichen Tätigkeit nennen. Das Buch Josua und das Buch der Richter sind getreue Bilder dieser beiden Perioden. Dem flüchtigsten Leser kann der große Unterschied, der zwischen diesen beiden Büchern besteht, nicht entgehen. Das Eine ist charakterisiert durch äußere Kraft und Herrlichkeit, das Andere durch Schwachheit und Elend. Das Eine trägt den Stempel der Macht, das Andere den des Verfalls. In jenem gibt Jehova dem Volk Israel das Land, in diesem versäumt es Israel, das Land aus seiner Hand zu nehmen.
Es gibt zwei Namen, die diesem Unterschied der beiden Bücher Ausdruck geben, und die wir als das Motto derselben betrachten können – „Gilgal und Bochim.“ In dem Buch Josua finden wir, dass das Volk im Verlauf des Krieges immer von Gilgal auszieht und wieder dorthin zurückkehrt, um seine Siege daselbst zu feiern. Gilgal war gleichsam der Mittelpunkt des Volkes; dort waren sie beschnitten, und dort war die Schande Ägyptens von ihnen abgewälzt worden (vgl. Jos 5,9–10).
Doch kaum öffnen wir das Buch der Richter, so ruht das Auge auf den betrübenden Worten: „Und es kam ein Engel Jehovas herauf von Gilgal nach Bochim und sprach: Ich habe euch herausgeführt aus Ägypten und euch gebracht in das Land, das ich euren Vätern geschworen habe; und ich sprach: Ich will meinen Bund mit euch nicht brechen ewiglich. Ihr aber sollt keinen Bund machen mit den Bewohnern dieses Landes, ihre Altäre sollt ihr umreißen; aber ihr habt meiner Stimme nicht gehorcht. Warum habt ihr das getan? So habe auch ich gesagt: Ich will sie nicht vor euch vertreiben, und sie werden euch zu Stacheln in eurer Seite und ihre Götter euch zum Fallstrick werden. Und es geschah, als der Engel Jehovas diese Worte redete zu allen Kindern Israel, da erhob das Volk seine Stimme und weinte. Und sie nannten den Namen selbigen Ortes Bochim (Weinende). Und sie opferten daselbst Jehova“ (Ri 2,1–5).
Hier tritt uns also in bemerkenswerter Weise der völlige Gegensatz, der zwischen dem Buch Josua und dem der Richter besteht, entgegen. Ach, die äußere Herrlichkeit und Macht des Volkes machte bald der größten Schwachheit und einem raschen Verfall Platz. Die nationale Größe Israels schwand schnell dahin. „Und das Volk diente Jehova alle die Tage Josuas und alle die Tage der Nettesten, die ihre Tage verlängerten nach Josua, die jegliche große Tat Jehovas gesehen, die Er an Israel getan hatte. Und Josua, der Sohn Nuns, der Knecht Jehovas starb, hundert und zehn Jahre alt ... Und auch das ganze selbige Geschlecht ward versammelt zu seinen Vätern, und es kam ein anderes Geschlecht auf nach ihnen, die Jehova nicht kannten und auch nicht das Werk, das Er an Israel getan hatte. Und die Kinder Israel taten, was böse war in den Augen Jehovas und dienten den Baalim ... Und sie verließen Jehova und dienten Baal und Astarot. Und es entbrannte der Zorn Jehovas über Israel, und Er gab sie in die Hand von Plünderern, und sie plünderten sie, und Er verkaufte sie in die Hand ihrer Feinde ringsum; und sie vermochten nicht mehr zu bestehen vor ihren Feinden. Überall, wohin sie auszogen, war die Hand Jehovas wider sie zum Bösen, wie Jehova geredet und wie Jehova ihnen geschworen hatte; und sie waren sehr bedrängt“ (Ri 2,7–15).
Das ist die traurige und demütigende Geschichte des Volkes Israel in jenen Tagen. Das Schwert Josuas rostete in der Scheide. Jene herrlichen Tage, in welchen er die vereinigten Heerscharen Israels zu glänzenden Siegen über die Könige Kanaans geführt hatte, waren vorüber. Der moralische Einfluss Josuas und der Ältesten, die ihn überlebt hatten, war nicht mehr vorhanden, und mit furchtbarer. Schnelligkeit eilte das ganze Volk auf seiner abschüssigen Bahn vorwärts, hinab in den Sumpf der Sünden und gräulichen Götzendiensten jener Nationen, die sie nach dem Befehl Jehovas vor sich hätten austreiben sollen. Soweit es Israel betraf, war ein vollständiger Verfall eingetreten. Wie Adam in dem Garten Eden und Noah auf der wiederhergestellten Erde, so fiel auch Israel im Land Kanaan ans die traurigste Weise. Adam aß die verbotene Frucht, Noah trank sich trunken, und Israel warf sich nieder vor den Altären Baals.
Doch, Gott sei Dank! es gibt noch eine andere Seite dieses Gemäldes. Bis hierher haben wir nur die menschliche Seite betrachtet, und sie ist wahrlich traurig und demütigend genug. Betrachten wir jetzt die göttliche. Gott bleibt immer derselbe, mag sich der Mensch auch zeigen, wie er will. Das ist ein unaussprechlicher Trost und Rückhalt für das Herz. Gott bleibt treu, und hierin findet der Glaube einen festen Halt, mag auch kommen, was da will. Auf Gott können wir immer rechnen, trotz aller Schwachheit und Fehler des Menschen. Seine Güte und Treue bilden die Hilfsquelle und den Zufluchtsort der Seele inmitten der finstersten Szenen der menschlichen Geschichte. Diese erhebende Wahrheit strahlt in hellem Licht aus derselben Stelle hervor, aus welcher wir soeben eine so demütigende Anführung machten. „Und Jehova erweckte Richter, und sie retteten sie aus der Hand ihrer Plünderer.“ Doch beachten wir besonders die jetzt folgenden Worte; sie zeigen auf das deutlichste den eigentümlichen Charakter des Buches der Richter. „Und wenn Jehova ihnen Richter erweckte, so war Jehova mit dem Richter, und Er rettete sie aus der Hand ihrer Feinde alle die Tage des Richters; denn es gereute Jehova wegen ihrer Wehklage vor ihren Bedrückern und ihren Drängern“ (Ri 2,16.18).
Diese letzten Worte enthalten den großen Grundsatz des Buches – das göttliche Geheimnis des Dienstes eines Barak, Gideon, Jeftah und Simson. Israel war in traurige, schändliche Sünden gefallen und hatte keine Entschuldigung. Es hatte alle Ansprüche ans den Schutz Jehovas verloren. In gerechtem Gericht war es den ruchlosen Händen der Könige Kanaans übergeben. Über alles dieses konnte durchaus keine Ungewissheit bestehen. Aber trotzdem konnte das Herz Jehovas Gefühle des Erbarmens für sein armes, unterdrücktes und seufzendes Volk hegen. Wohl hatte es sich als äußerst böse und unwürdig gezeigt, allein trotzdem war sein Ohr stets bereit, seinen ersten Seufzer zu vernehmen; ja, wir lesen sogar im 10. Kapitel, dass „Seine Seele ungeduldig ward über die Mühsal Israels“ (V 16).
Welch rührende Worte, welch eine Zartheit und welch ein Mitgefühl spricht sich in ihnen aus! Sie lassen uns einen Blick tun in die unergründlichen Tiefen der Güte Gottes. Das Elend seines Volkes rührte und bewegte sein liebendes Herz. Die ersten schwachen Zeichen eines gedemütigten und zerschlagenen Geistes begegneten einer gnädigen Antwort von Seiten des Gottes Israels. Es handelte sich nicht darum, wie weit sie abgeirrt, und wie tief sie gesunken waren, oder wie schrecklich sie gesündigt hatten; Gott war stets bereit, auf die leisesten Seufzer eines gebrochenen Herzens zu lauschen. Die Quellen göttlicher Gnade und göttlichen Mitgefühls sind unerschöpflich. Das Meer seiner Liebe ist unbegrenzt und unergründlich, und deshalb betritt Er in demselben Augenblick, wo sein Volk den Platz des Bekenntnisses einnimmt, den Platz der Vergebung. Es ist seine Freude, zu vergeben, und Er findet seine höchste Wonne darin, die Übertretungen auszulöschen, zu heilen, wiederherzustellen und zu segnen in einer Weise, die seiner selbst würdig ist. Diese herrliche Wahrheit tritt sowohl in der Geschichte Israels, als auch in der Geschichte der Kirche und in derjenigen eines jeden Gläubigen ans Licht.
Doch es ist Zeit, uns zu unserem eigentlichen Gegenstand, zu der Geschichte „Gideons und seiner Gefährten“, wie sie uns in dem 6. bis 8. Kapitel des Buches der Richter erzählt wird, zu wenden. Möge der Heilige Geist ihren köstlichen Inhalt zum Nutzen für unsere Seelen dienen lassen!
Das sechste Kapitel beginnt mit einer traurigen und niederdrückenden Erzählung, die aber nur zu charakteristisch für die ganze Geschichte Israels ist. „Und die Kinder Israel taten, was böse war in den Augen Jehovas; und Jehova gab sie in die Hand Midians, sieben Jahre. Und die Hand Midians war stark über Israel. Vor Midian machten sich die Kinder Israel Höhlen, die in den Bergen sind, und Grüfte und Bergfesten“ (V 1–2). Welch ein demütigendes Bild! In welch einem schneidenden Gegensatz steht Israel hier zu dem triumphierenden Heer, das den Jordan durchschritten und auf den Ruinen Jerichos gewandelt hatte! Welch ein trauriger Anblick, das Volk, aus Furcht vor den unbeschnittenen Midianitern, in den Höhlen und Grüften der Berge einen Zufluchtsort suchen zu sehen! Es ist sehr gesegnet für uns, diese Szene zu betrachten und die darin enthaltene heilsame Lehre zu erwägen. Die Macht und Herrlichkeit Israels bestand einfach darin, dass Gott in ihrer Mitte gegenwärtig war. Ohne dies waren sie wie Wasser, das auf den Boden ausgeschüttet ist, oder wie herbstliche Blätter vor dem Sturm. Doch die Gegenwart Gottes konnte nicht genossen werden in Verbindung mit der Sünde und dem Bösen. Wenn daher Israel seinen Jehova vergessen hatte und auf den verbotenen Pfaden des Götzendienstes von Ihm abirrte, so musste Er sie dadurch wieder zur Besinnung bringen, dass Er seine richtende Hand ausstreckte und sie die vernichtende Gewalt der Einen oder Anderen der Nationen um sie her fühlen ließ.
In diesem allem gibt es für uns etwas zu lernen. Solange das Volk Gottes in heiligem Gehorsam mit Ihm wandelt, hat es nichts zu fürchten. Es ist vollkommen sicher vor den Fallstricken und Anläufen aller seiner Feinde. Solange es in dem Schutz der Gegenwart Gottes bleibt, kann ihm nichts etwas anhaben. Aber selbstverständlich erfordert diese Gegenwart Helligkeit. Sünde kann dort nicht weilen. In der Sünde zu leben und von Sicherheit zu sprechen – zu versuchen, die Gegenwart Gottes mit der Sünde zu verbinden – zeugt von einer großen Verblendung des Herzens. „Gott ist sehr zu fürchten in der Versammlung der Heiligen ...“ „Deine Zeugnisse sind sehr getreu; deinem Haus geziemt die Heiligkeit, Jehova, für lange Tage“ (Ps 93,5). Wenn das Volk Gottes diese heilsamen Wahrheiten vergisst, so weiß Gott sie durch die Zuchtrute wieder in das Gedächtnis der Seinen zurückzurufen; und, sein Name sei ewig dafür gepriesen! Er liebt die Seinen viel zu sehr, um diese Rute zu sparen, so ungern Er sie auch anwenden mag. „Wen der Herr liebt, den züchtigt Er, Er geißelt aber einen jeglichen Sohn, den Er aufnimmt. Wenn ihr die Züchtigung erduldet, so handelt Gott mit euch als mit Söhnen; denn wer ist ein Sohn, den der Vater nicht züchtigt? Wenn ihr aber ohne Züchtigung seid, der alle teilhaftig geworden, so seid ihr denn Bastarde und nicht Söhne. Zudem hatten wir auch die Väter unseres Fleisches zu Züchtigern und scheuten sie; sollen wir nicht vielmehr dem Vater der Geister unterworfen sein und leben? Denn jene freilich züchtigten uns für wenige Tage nach ihrem Gutdünken, Er aber zum Nutzen, damit wir seiner Heiligkeit teilhaftig werden. Alle Züchtigung aber scheint für die Gegenwart nicht Freude, sondern Traurigkeit zu sein; hernach aber gibt sie die friedsame Frucht der Gerechtigkeit denen, die durch sie geübt sind. Darum richtet auf die erschlafften Hände und die gelähmten Knie!“ (Heb 12,6–12)
Dies sind ermutigende Worte für das Volk Gottes zu allen Zeiten. Die Zucht mag schmerzlich sein – und sie ist es in der Tat; doch wenn wir wissen, dass die Hand eines Vaters sie ausübt, und wenn wir das, was sein Zweck ist, verwirklichen, so können wir mit geübtem Herzen durch die Trübsal hindurchgehen und so die friedsamen Früchte der Gerechtigkeit ernten. Wenn wir andererseits der Zucht mit einem ungeduldigen Geist, einem widerspenstigen Willen und einem nicht unterwürfigen Herzen begegnen, so machen wir es dadurch nur notwendig, dass der Druck fortgesetzt und vermehrt wird; denn unser liebender Vater wird uns nie dahingehen lassen. Er will uns, koste es, was es wolle, in heiliger Unterwürfigkeit vor sich haben. Er tritt uns in seiner Gnade entgegen, bezwingt die stolzen Erhebungen unseres Willens und nimmt alles das hinweg, was unser Wachstum in Heiligkeit, Gnade und göttlicher Erkenntnis zu hindern vermag.
Welch eine unendliche Gnade tritt in der Tatsache ans Licht, dass unser Gott sich beschäftigt mit unseren Mängeln und Torheiten, mit unserem Eigenwillen, unseren Sünden und Übertretungen, und zwar zu dem Zweck, um uns von ihnen zu befreien! Er kennt uns und alle unsere Umstände. Er kennt unsere inneren Neigungen und alles, was uns umgibt, und Er Zieht dies sorgfältig in Betracht. Er handelt mit uns in unergründlicher Weisheit und vollkommener Geduld, indem Er unablässig den einen herrlichen Zweck vor Augen behält, uns zu Teilhabern seiner Heiligkeit zu machen und in uns den Ausdruck seiner Natur und seines Charakters hervorzubringen. Wahrlich, angesichts einer solchen überströmenden Gnade und eines solchen Erbarmens mögen wir wohl „die erschlafften Hände und die gelähmten Knie aufrichten.“
Doch es gibt noch eine andere Wahrheit, die mit ungewöhnlichem Glanz aus den uns in dem Buch der Richter erzählten Ereignissen hervorstrahlt, nämlich, dass wir stets auf Gott rechnen können, selbst dann, wenn sich alles um uns her in der höchsten Unordnung und Verwirrung befindet. Gott täuscht nie ein Herz, das auf Ihn vertraut. Niemals hat Er eine Seele zu Schanden werden lassen, die sich auf Ihn stützte und in kindlicher Einfalt des Glaubens an seinem köstlichen Worte festhielt. Und Er wird und kann es nicht tun. Dies ist sehr tröstend und ermutigend für uns, mögen die Zeiten und Umstände sein, wie sie wollen. Wahr ist es, sehr wahr, dass der Mensch in allem fehlt. Stelle ihn, wohin du willst, versetze ihn in einen Wirkungskreis, in welchen du magst, immer wirst du derselben Untreue, derselben Schwäche und demselben Ruin begegnen. Von den Tagen Edens bis zum gegenwärtigen Augenblick hat sich der Mensch in diesem Licht gezeigt. Wir – dürfen dreist behaupten, dass es in der Geschichte des gefallenen Geschlechts Adams keine einzige Ausnahme von jener traurigen Regel gegeben hat. Wir dürfen dieses nie außer Acht lassen. Der wahre Glaube erkennt es immer an. Es würde auch die größte Torheit sein, wenn wir versuchen wollten, die Tatsache zu vergessen, dass auf die ganze Geschichte des Menschen, von Anfang bis zu Ende, der Verfall mit unauslöschlichen Zügen eingegraben ist.
Doch trotz diesem allem bleibt Gott treu; Er kann sich selbst nicht verleugnen. Der Glaube sieht und erkennt den Verfall an, aber er rechnet zugleich auf Gott. Er ist nicht blind gegen die Untreue des Menschen, aber er richtet seinen Blick auf die Treue Gottes. Alle seine Quellen sind in Ihm.
Das bisher Gesagte findet in der interessanten und lehrreichen Geschichte Gideons einen treffenden Beleg. Er war in seiner Person und in seinen Erfahrungen ein wahres Bild von dem traurigen Zustand Israels. Der Unterschied zwischen Josua und Gideon, soweit es sich um ihre Stellung und ihre Umstände handelt, könnte nicht größer sein. Josua vermochte seinen Fuß auf den Nacken der kanaanitischen Könige zu setzen. Gideon musste seinen Weizen in einem verborgenen Schlupfwinkel ausdreschen, um ihn vor den Augen der Midianiter zu verbergen. Der Tag Josuas war durch glänzende Siege ausgezeichnet, während der Tag Gideons ein Tag kleiner Dinge war. Doch der Tag kleiner Dinge für den Menschen ist der Tag großer Dinge für Gott. Dies erfuhr auch Gideon. Wohl wurde es ihm nicht gestattet, die Sonne und den Mond in ihrem Lauf aufgehalten zu sehen oder die Städte der Unbeschnittenen dem Boden gleich zu machen. Sein Tag war ein Tag der Gerstenbrote und der zerbrochenen Krüge, nicht aber ein Tag staunenerregender Wunder und ausgezeichneter Heldentaten. Aber Gott war mit ihm, und das war genug (Fortsetzung folgt).