Botschafter des Heils in Christo 1879
Gilgal - Teil 4/4
Bevor wir diese kurze Betrachtung über Gilgal schließen, müssen wir unsere Gedanken noch auf die praktische Anwendung dessen richten, was unsere Aufmerksamkeit bisher beschäftigt hat. Wenn es wahr ist – und es ist wahr – dass Christus für uns starb, so ist es gleichfalls wahr, dass wir in Ihm mitgestorben sind. Es gibt wohl keine Wahrheit von größerem praktischem Wert wie diese. Sie bildet die Grundlage von allem wahren Christentum. Wenn Christus für uns und wir mit Ihm gestorben und auferweckt sind, so sind wir dadurch völlig aus unserer alten Stellung und aus allem, was derselben angehörte, herausgenommen und auf einen ganz neuen Boden gestellt worden. Wir können von dem Auferstehungsufer aus zurückblicken auf den finsteren Todesfluss und in seinen tiefsten Tiefen das Gedächtnis an den Sieg entdecken, den der Fürst des Lebens für uns errungen hat. Wir erblicken den Tod nicht vor uns; er liegt hinter uns, und wir können in Wahrheit sagen: „Die Bitterkeit des Todes ist vorüber.“
Jesus begegnete dem Tod für uns, und zwar in seiner schrecklichsten Form. Gerade wie der Jordan geteilt wurde, als er am gewaltigsten erschien – „denn der Jordan war voll über alle seine Ufer, alle Tage der Ernte hindurch“ – so auch stritt Christus mit unserem letzten großen Feinde in seiner schrecklichsten Gestalt, und Er besiegte ihn. Preis und Anbetung sei seinem herrlichen Namen! Es ist unser Vorrecht, durch den Glauben und im Geist auf der kanaanitischen Seite des Jordan zu stehen und unseren Lobgesang zu erheben über alles das, was der Heiland, der wahre Josua, für uns getan hat.
„Und es geschah, als die ganze Nation vollends hinübergegangen war über den Jordan, da redete Jehova zu Josua und sprach: Nehmt euch aus dem Volk zwölf Männer, je einen Mann aus einem Stamm, und gebietet ihnen und sprecht: Hebt euch auf von hier aus der Mitte des Jordan von dem Standort, wo die Füße der Priester gestanden, zwölf Steine in Bereitschaft, und bringt sie hinüber mit euch und legt sie hin in das Nachtlager, wo ihr diese Nacht übernachten werdet. Und Josua rief den zwölf Männern, die er bestellt hatte aus den Kindern Israel, je einen Mann aus einem Stamm. Und Josua sprach zu ihnen: Geht hinüber vor der Lade Jehovas, eures Gottes, in die Mitte des Jordan, und hebt euch auf ein jeglicher einen Stein auf seine Schulter, nach der Zahl der Stämme der Kinder Israel, auf dass dies ein Zeichen unter euch sei. Wenn eure Kinder morgen fragen und sprechen: Was sollen euch diese Steine? So sollt ihr zu ihnen sagen, dass die Wasser des Jordan abgeschnitten wurden vor der Lade des Bundes Jehovas; als sie durch den Jordan ging, wurden die Wasser des Jordan abgeschnitten, und es sollen diese Steine zum Gedächtnis sein den Kindern Israel ewiglich“ (Jos 4,1–7).
Welche Lektionen gibt es hier für uns zu lernen! Je ein Mann aus jedem Stamm hatte einen Stein zu nehmen von dem Standort hinweg, wo die Füße der Priester gestanden. Alle sollten in eine lebendige, persönliche Verbindung mit der großen, geheimnisvollen Tatsache gebracht werden, dass die Wasser des Jordan abgeschnitten wurden. Alle sollten teilhaben an der Errichtung eines Gedenkzeichens an diese Tatsache, und zwar eines Gedenkzeichens, das die Frage ihrer Kinder erregen sollte. Richten wir auch ein solches Zeichen auf? Sind wir ein Zeugnis von der Tatsache, dass unser Jesus die Macht des Todes für uns überwunden hat? Beweisen wir in unserem täglichen Leben, dass Christus für uns gestorben ist, und wir in Ihm? Gibt es etwas in unserem Wandel, das dem in der eben angeführten Stelle enthaltenen Bild entspricht? Bekennen wir es offen, dass wir unversehrt den Jordan überschritten haben, dass wir zu dem Himmel gehören und nicht mehr im Fleisch, sondern im Geist sind? Sehen unsere Kinder etwas in unseren Gewohnheiten und Wegen, in unserem ganzen Charakter, in unserem Wandel und in unserer Lebensweise, das sie dazu führt, zu fragen: „Warum tut ihr dieses?“ Leben wir als solche, die mit Christus der Sünde und der Welt gestorben sind? Sind wir praktisch von der Welt getrennt und haben wir, kraft unserer Vereinigung mit einem auferstandenen Christus, alle unsere Stützen auf gegenwärtige Dinge fahren lassen?
Dies sind ernste Fragen für die Seele, mein lieber, christlicher Leser. Lasst uns suchen, sie aufrichtig, als in der göttlichen Gegenwart, zu beantworten. Wir bekennen diese Dinge und halten sie in der Theorie aufrecht; wir sagen, dass wir glauben, dass Jesus für uns gestorben ist, und wir in Ihm. Wo ist der Beweis, wo das bleibende Gedächtnis? Möchten wir uns aufrichtig vor Gott richten! Möchten wir uns nicht langer mit etwas wenigerem zufriedengeben, als der völligen, praktischen Verwirklichung der großen Wahrheit, dass „wir gestorben sind, und dass unser Leben verborgen ist mit dem Christus in Gott!“ Ein bloßes Bekenntnis ist wertlos. Wir bedürfen der lebendigen Kraft, der wahren Resultate und der persönlichen Früchte.
„Und das Volk stieg herauf aus dem Jordan am zehnten des ersten Monats, und sie lagerten in Gilgal an der Ostgrenze von Jericho. Und jene zwölf Steine, die sie aus dem Jordan genommen hatten“ – es sind Steine von besonderer Bedeutung; keine anderen Steine konnten eine solche Sprache reden, keine solche Lektionen geben, keine solch wunderbare Tatsache symbolisch darstellen – „jene zwölf Steine richtete Josua auf zu Gilgal. Und er sprach zu den Kindern Israel und sagte: Wenn eure Kinder morgen ihre Väter fragen und sprechen: Was sollen diese Steine? So sollt ihr euren Kindern kundtun und sprechen: auf trockenem Boden ist Israel durch diesen Jordan gegangen: da Jehova, euer Gott, die Wasser des Jordan austrocknete vor euch, bis ihr hinübergegangen wärt, wie Jehova, euer Gott, an dem Schilfmeer getan hat, das Er vor uns austrocknete, bis wir hinübergegangen waren; auf dass alle Völker der Erde die Hand Jehovas erkennen, dass sie stark ist, damit ihr Jehova, euren Gott, fürchtet alle Tage“ (Jos 4,19–24).
Hier sehen wir also Israel in Gilgal. Ein jedes Glied des Heeres hatte unversehrt den Jordan überschritten; nicht einer von ihnen war von den Fluten des Flusses berührt worden. Die Gnade hatte sie alle wohlbehalten in das ihren Vätern verheißene Erbteil gebracht. Sie waren nicht nur von Ägypten durch das rote Meer getrennt, sondern auch durch das trockne Bett des Jordan in das Land Kanaan hineingebracht worden und hatten ihr Lager in den Ebenen Jerichos, bei Gilgal, aufgeschlagen. Doch beachten wir, was jetzt folgt: „Und es geschah, als alle Könige der Amoriter, die diesseits des Jordan westwärts, und alle Könige der Kanaaniter, die am Meer waren, hörten, dass Jehova die Wasser des Jordan ausgetrocknet hatte vor den Kindern Israel, bis sie hinübergegangen waren, da zerschmolz ihr Herz, und es war kein Mut mehr in ihnen vor den Kindern Israel. In selbiger Zeit“ – beachten wir diese Worte! Als alle Nationen bei dem bloßen Gedanken an dieses Volk vor Schrecken gelähmt waren – „in selbiger Zeit sprach Jehova zu Josua: Mache dir Steinmesser und beschneide wiederum die Kinder Israel zum Zweiten Mal“ (Kap 5,1–2).
Wie bezeichnend ist dieses! Welch eine Fülle von Gedanken erwecken diese „Steinmesser“ in uns! Als Israel im Begriff stand, das Schwert über die Kanaaniter zu bringen, mussten zuvor die Steinmesser auf sie selbst angewandt werden. Sie waren in der Wüste nicht beschnitten worden. Die Schande Ägyptens war noch nicht von ihnen abgewälzt. Und ehe sie das Passah feiern und das alte Korn des Landes Kanaan essen konnten, musste das Urteil des Todes auf sie geschrieben werden. Ohne Zweifel war dies nichts weniger wie angenehm für die Natur, aber es musste geschehen. Wie konnten sie Besitz von Kanaan nehmen, während die Schande Ägyptens auf ihnen lastete? Wie konnte ein unbeschnittenes Volk die Kanaaniter aus ihrem Besitz vertreiben? Unmöglich. Die Steinmesser mussten ihr Werk tun in dem ganzen Lager Israels, bevor sie das Getreide Kanaans essen oder den Krieg beginnen konnten.
„Und Josua machte sich Steinmesser und beschnitt die Kinder Israel am Hügel Araloth (scharfe Messer). Und dies ist die Sache, warum Josua sie beschnitt: Das ganze Volk, das aus Ägypten ausgezogen war, die Männlichen, alle Kriegsleute, waren gestorben in der Wüste auf dem Weg bei ihrem Auszug aus Ägypten. ... Und ihre Söhne ließ er aufkommen an ihrer statt; sie beschnitt Josua, weil sie Vorhaut hatten, denn man hatte sie nicht beschnitten auf dem Weg ... Und Jehova sprach zu Josua: Heute habe ich die Schande Ägyptens von euch abgewälzt. Und man nannte den Namen selbigen Ortes Gilgal (Abwälzung) bis auf diesen Tag. Und es lagerten die Kinder Israel in Gilgal und feierten das Passah am vierzehnten Tage des Monats am Abend in den Ebenen Jerichos. Und sie aßen vom Erzeugnis des Landes am anderen Tage nach dem Passah, ungesäuerte Brote und Geröstetes, an diesem selbigen Tage. Und das Man hörte auf vom anderen Tage an, da sie vom Erzeugnis des Landes aßen, und es war für die Kinder Israel kein Man mehr; und sie aßen vom Ertrag des Landes Kanaan in selbigem Jahr“ (Kap 5,3–12).
Hier haben wir ein Bild der ganzen christlichen Stellung. Der Christ ist ein himmlischer Mensch, der Welt gestorben, mit Christus gekreuzigt und mit Ihm dort, wo Er jetzt ist, verbunden; und während er auf sein Erscheinen wartet, ist er in seinem Herzen mit Ihm beschäftigt und nährt sich durch den Glauben von Ihm, der die wahre Nahrung des neuen Menschen ist. Das ist die Stellung und das Teil des Christen; aber um in den vollen Genuss derselben eintreten zu können, müssen die „Steinmesser“ auf alles das angewandt werden, was der Natur angehört. Das Urteil des Todes muss auf alles geschrieben werden, was die Schrift „den alten Menschen“ nennt. Wir sind anders nicht im Stande, unsere Stellung aufrecht zu halten und uns unseres Teils als himmlische Menschen zu erfreuen. Lassen wir unserer Natur freien Spielraum, bewegen wir uns in einer niedrigen, weltlichen Atmosphäre, gehen wir den Vergnügungen und Lustbarkeiten dieser Welt nach und geizen wir nach ihren Ehren und Reichtümern, dann ist es wahrlich unmöglich, uns der Gemeinschaft unseres auferstandenen Hauptes und Herrn zu erfreuen. 1 Christus ist im Himmel, und um sich seiner zu erfreuen, müssen wir im Geist und durch den Glauben dort verweilen, wo Er ist. Er ist nicht von dieser Welt; und deshalb können wir, wenn wir weltlich gesinnt sind, seine Gemeinschaft nicht genießen. „Wenn wir sagen, dass wir Gemeinschaft mit Ihm haben und wandeln in der Finsternis so lügen wir und tun nicht die Wahrheit“ (1. Joh 1,6).
Dies ist sehr ernst. Wenn ich in und von der Welt lebe, so wandle ich in der Finsternis und kann keine Gemeinschaft mit einem himmlischen Christus haben. „Wenn ihr“, fragt Paulus die Kolosser, „mit Christus den Elementen der Welt gestorben seid, was unterwerft ihr euch den Satzungen, als lebtet ihr noch in der Welt?“ Verstehen wir wirklich diese Worte? Haben wir das volle Gewicht des Ausdrucks: „als lebtet ihr noch in der Welt“, in unseren Herzen erwogen? Diese Welt ist nicht der Schauplatz, auf dem der Christ leben soll; er soll im Geist dort leben, wo Christus ist. Wohl hat er sich auf dieser Erde zu bewegen und in den verschiedenen Verhältnissen und Wirkungskreisen, in welche ihn die Hand Gottes versetzt, seinen Platz auszufüllen, allein seine Heimat ist in dem Himmel. Sein Leben ist dort. Sein Gegenstand, seine Ruhe, ja sein alles ist im Himmel. Er gehört nicht zu der Erde. Seine Bürgerschaft ist in dem Himmel, und um dieses im täglichen Leben praktisch zu verwirklichen, hat er sich selbst zu verleugnen und seine Glieder zu tobten.
Alles dieses wird uns in Kolosser 3 in lebendiger Weise vor Augen geführt. Es würde unmöglich sein, eine treffendere Auslegung des ganzen uns beschäftigenden Gegenstandes zu geben, als sie uns in den Worten dargeboten wird: „Wenn ihr nun mit dem Christus auferweckt seid, so sucht, was droben ist, wo der Christus ist, sitzend zur Rechten Gottes. Sinnt auf das, was droben ist, nicht auf das, was auf der Erde ist, denn ihr seid gestorben, und euer Leben ist verborgen mit dem Christus in Gott. Wenn der Christus, der unser Leben ist, offenbar werden wird, dann werdet auch ihr mit Ihm offenbar werden in Herrlichkeit.“ Und dann folgt die wahre geistliche Bedeutung und Anwendung „Gilgals“ und seiner „Steinmesser“: „Tötet nun eure Glieder, die auf der Erde sind“ (Kol 3,1–5).
Möchte der Heilige Geist uns in ein tieferes und völligeres Verständnis unseres Platzes, unseres Teiles und unseres praktischen Lebens, als Christen, einführen! Wollte Gott, dass wir besser verständen, was es heißt, uns von dem alten Korn des Landes in dem wahren, geistlichen Gilgal zu nähren, damit wir so besser geschickt seien für den Dienst, zu dem wir berufen sind.
Fußnoten
- 1 Ich möchte hier bemerken, dass das „alte Korn“ des Landes Kanaan ein Vorbild des auferstandenen und verherrlichten Christus ist. Das Manna stellt Christus in seiner Erniedrigung vor. Die Erinnerung an Ihn in der Letzteren ist unaussprechlich köstlich für die Seele. Es ist erquickend, zurückzublicken und seinen Weg, den Er als der niedrige, demütige Mensch ging, zu betrachten. Das heißt, sich von dem verborgenen. Manna – von dem einst erniedrigten Christus – nähren. Nichtsdestoweniger ist ein auferstandener, erhöhter und verherrlichter Christus der wahre Gegenstand für das Herz des Christen; aber um sich dieses Gegenstandes erfreuen zu können, muss die Schande dieses gegenwärtigen, bösen Zeitlaufs durch die geistliche Anwendung der Beschneidung Christi von uns abgewälzt sein.