Botschafter des Heils in Christo 1879

Der Ölbaum, der Feigenbaum und der Weinstock

Es gibt drei fruchttragende Bäume, welche von den Einwohnern Palästinas sehr geschätzt und vielfach kultiviert wurden, und die zu gleicher Zeit für uns, die wir das Neue Testament besitzen und untersuchen, viel Unterweisung und Belehrung enthalten. Es sind dies der Ölbaum, der Feigenbaum und der Weinstock. Sie waren es, deren Jotham, der jüngste Sohn Gideons, in dem Gleichnis, welches er den Männern von Sichem erzählte, Erwähnung tat (Ri 9,7-20), und sie belehren uns in einer beachtenswerten Weise über die Nationen, die Juden und die Christen. Vorrechte, Bekenntnis und Fruchtbarkeit, das sind die drei Gegenstände, zu deren näherer Beleuchtung jene drei Bäume häufig eingeführt werden.

1. Der Ölbaum gibt uns eine besondere Unterweisung in Bezug auf die Nationen, als solche. Wir begegnen ihm in dieser Weise in Römer 11, wo an alle diejenigen, welche nicht dem Volk Israel angehören, ein Wort der Warnung gerichtet wird. Die Verheißungen waren das Teil Israels, als Kinder Abrahams (Röm 9,4). In Betreff der Bündnisse der Verheißung waren die Nationen Fremdlinge (Eph 2,12). Es gab, wie auch schon bemerkt, Verheißungen, die Bezug hatten auf die Nationen, allein keine, die an sie gerichtet waren. „Dem Abraham waren die Verheißungen zugesagt und seinem Samen“ (Gal 3,16). Die Israeliten erwarteten auf Grund ihrer Abstammung „nach dem Fleisch“ die Erfüllung und den Genuss derselben. Johannes der Täufer hatte ihnen gesagt, wie sehr sie sich getäuscht finden würden, wenn sie in dieser Sache auf die natürliche Geburt vertrauten, ohne von Gott geboren zu sein. Gott konnte aus den Steinen, die um sie her lagen, dem Abraham Kinder erwecken. Seine warnende Stimme verhallte ungehört, insoweit es die Nation betraf. Denn sie verwarfen den Einen, welchem die dem Abraham gemachten Verheißungen zugesagt waren – und dieser Eine war Christus, der Same des Patriarchen. Gott hat sie daher als Nation für eine Zeit bei Seite gesetzt und ist jetzt mit den Nationen beschäftigt. Von diesem Wechsel in der Verwaltung und der Handlungsweise Gottes schreibt Paulus in Römer 11, und er gebraucht dazu das Bild eines Ölbaumes, um diesen Wechsel in einer dem Fassungsvermögen seiner Leser angemessenen Weise klar zu machen; denn dieser Baum war den Römern, den Bewohnern Italiens, sehr gut bekannt. Aus diesem Baum, dem guten Ölbaum, sind einige Zweige herausgebrochen worden, das heißt, das ganze Volk Israel, mit Ausnahme des Überrestes nach der Wahl der Gnade, der als Zweig in dem Ölbaum, dort, wo er immer seinen Platz gehabt hat, verbleibt.

In diesen Baum sind nun andere Zweige eingepfropft worden, und zwar Zweige, die aus einem wilden Ölbaum genommen sind, aus einem Baum, der niemals der Kultur unterworfen war. Diese Zweige sind die Nationen, mit denen Gott im gegenwärtigen Augenblick in unumschränkter Gute handelt, und die auf diese Weise äußerlich mit Abraham, der Wurzel der Verheißung – der Wurzel des Ölbaumes, um das Bild weiterzuführen – in Verbindung gebracht sind. Vor dem Kreuz war Gott mit Israel, als der auserwählten Nation, beschäftigt, aber nicht direkt mit den Nationen. Die Vorrechte gehörten Israel; die Nationen hatten keinen Anteil daran. Das kanaanitische Weib musste dieses anerkennen. Sie fühlte und bekannte es. Nach dem Kreuz entfaltete sich die Handlungsweise Gottes in einer neuen Gestalt. Die Israeliten erfreuten sich nicht länger der Vorrechte, welche sie als das besondere Volk Gottes auf der Erde ausgezeichnet hatten; denn sie verharrten im Unglauben. Der betagte Simeon hatte erklärt, dass das Kind, welches er in seinen Armen hielt, „ein Licht zur Offenbarung der Nationen“ sein würde, um sie aus der Finsternis, in der sie sich bis dahin befunden hatten, herauszuführen, als solche, mit denen sich Gott in besonderer Weise in Güte beschäftigen konnte. Paulus belehrt uns, dass dieses stattfand, als Israel für eine Zeit lang als Nation bei Seite gesetzt wurde.

Die Nationen besitzen daher jetzt Vorteile, wie sie solche niemals vor dem Kreuz gehabt haben. Die Wurzel der Verheißung hat sich nicht verändert. Der Ölbaum ist nicht abgeschnitten, sondern einige Zweige sind herausgebrochen und Zweige eines wilden Ölbaumes an deren Stelle eingepfropft worden, und zwar auf dem Grundsatz des Glaubens. Als eingepfropfte Zweige sind sie „der Wurzel und der Fettigkeit des Ölbaumes mitteilhaftig geworden.“ Indem sie mit der Wurzel der Verheißung, mit Abraham, dem Vater der Gläubigen, in unmittelbare Verbindung gebracht worden sind, gehören die Vorrechte ihnen. Sie haben Teil an allem, was von der Wurzel ausgeht; als Nationen und durch den Glauben in den Stamm der Verheißung auf der Erde eingepfropft, sind sie der Wurzel und der Fettigkeit des ganzen Baumes teilhaftig.

Dies ist jedoch, beachten wir es wohl, nicht die Errettung; denn diese Zweige können wieder „ausgehauen“ werden. Es ist auch nicht die Stellung der Versammlung, denn diese ist beiden, sowohl Juden als Heiden, neu. Es handelt sich hier vielmehr um die Einführung der Nationen, um Teil zu haben an den irdischen Vorrechten derer, welche, als Gläubige unter den Juden, sie nie verloren hatten. Wir sagen „irdische Vorrechte“, weil das Bild des Baumes uns belehrt, dass die auf diese Weise erläuterte Stellung eine auf der Erde genossene ist.

Sollen denn die Nationen immer diesen bevorzugten Platz einnehmen? Dies ist von ihrem Verhalten abhängig. „Wenn du an der Güte bleibst“ (V 22). Sind sie an der Güte geblieben? Jeder wird zugeben müssen, dass sie es nicht sind. Es muss deshalb ein Aushauen der Zweige stattfinden. Und wenn die natürlichen Zweige nicht im Unglauben bleiben, so werden sie wieder in ihren eignen Ölbaum eingepfropft werden. Die Vorzüge, welche die Nationen als solche jetzt besitzen, können sie durch Unglauben wieder verlieren, denn sie stehen an jenem Platz nur durch den Glauben. Gott sucht jetzt die Nationen heim (Apg 15,14), und das äußere Resultat davon ist das, was wir Christenheit nennen. Alle diejenigen, welche zur Christenheit gehören, besitzen Vorrechte, allein diese Vorrechte bringen Verantwortlichkeit mit sich. Könnten sich daher die Heiden über die Juden, als die herausgebrochenen Zweige, erheben? Durchaus nicht. Der natürliche Platz des Juden war in dem Ölbaum, und nur wegen seiner Sünde und seines Unglaubens ist er herausgebrochen worden. Für den Heiden ist es nur göttliche Güte, wenn er überhaupt dort ist, eingepfropft auf dem Grundsatz des Glaubens, und er kann nur diesen Platz behalten, wenn er an der Güte Gottes bleibt. Alle diejenigen, welche wirklich errettet sind, befinden sich daher in dem Ölbaum, aber weit mehr als sie zählen zu seinen Zweigen. Dazu gehört sowohl der gläubige Überrest Israels, als auch die ganze Christenheit. Die Nationen können, wenn sie einmal ausgehauen sind, nicht wiederhergestellt werden. Die Juden können und werden es, wenn sie nicht im Unglauben bleiben. Wie völlig wird dies einst gefühlt und bekannt werden, wenn das, was der Prophet Sacharja in Kapitel 8,13 sagt, seine Erfüllung finden wird! „Und es wird geschehen, gleich wie ihr, Haus Juda, und ihr, Haus Israel, ein Fluch gewesen unter den Nationen, also werde ich euch erretten, und ihr werdet ein Segen sein.“

2. Der Feigenbaum liefert uns eine andere Art von Belehrung und wurde einem anderen Zuhörerkreis gegenüber als erläuterndes Beispiel gebraucht. Der Herr machte Gebrauch davon, als Er Israel warnte und seine Jünger belehrte (Lk 13,6-9; Mt 21,19-21; Mk 11,12-14; 20-23). Es sind die Früchte, die diesen Baum so wertvoll machen. Wenn er keine Frucht bringt, warum soll er dann noch das Land einnehmen? Er macht es unnütz. Jedoch gibt es besonders eine Erscheinung bei dem Feigenbaum, die ihn so geeignet machte, den Zustand Israels bildlich darzustellen. Seine Blüten bilden sich, ehe noch die Blätter hervorbrechen. Die Gegenwart von Blättern lässt daher auf das Dasein von Frucht schließen. Welch ein treffendes Bild ist deshalb ein solcher Baum von Israel, das seinem Bekenntnis nach das Volk Gottes war, das aber, als der Herr kam, durch seine Verwerfung seine völlige Unfruchtbarkeit für Gott bewies. Der Ölbaum stellt, als ein immergrüner Baum, in geeigneter Weise die ununterbrochene Fortsetzung der Linie der Verheißung auf der Erde dar, welche durch alle die Jahrhunderte hindurch, die noch der Errichtung des Reiches Gottes in Macht auf der Erde vorhergehen sollten, niemals aufhören würde. Wie der Ölbaum, seinem Charakter nach, den Gedanken eines ununterbrochenen Fortbestehens erweckt, so ist der Feigenbaum im Hinblick ans seine Eigenschaften trefflich geeignet, ein Bekenntnis darzustellen, welches von Beweisen der Fruchtbarkeit begleitet sein sollte. Und wenn er solcher Beweise entbehrt, so hat er sicher verdient, abgehauen zu werden. Gottes Nachsicht und Langmut in Bezug auf Israel bis zu dem Kreuz hin, stellt das Gleichnis von dem Feigenbaum in Lukas 13 dar. Die Worte des Herrn in Betreff des unfruchtbaren, aber mit Blättern bedeckten Baumes auf dem Ölberg zeigten dagegen das Gericht an, welches über Israel ausgeübt werden sollte, und vor dem Er das Volk vorher gewarnt hatte. Ein abgehauener Baum hört auf, von den Menschen gesehen zu werden. Israel, als geordnete Nation, sollte aufhören zu existieren. Ein Bekenntnis ohne Frucht kann niemals Gott genügen.

3. Wenn wir uns jetzt zu dem Weinstock wenden, so werden wir wieder eine Belehrung von einem neuen Charakter finden.

Gott besaß einen Weinstock, den Er „aus Ägypten gezogen hatte“; dieser Weinstock war Israel (Ps 80,8-11). Ein Weinstock, der keine Frucht bringt, ist ganz nutzlos, wie Hesekiel seinen Landsleuten zuruft (Kap 15,2–4) Der Herr nun belehrt seine Jünger in Johannes 15, dass Er der wahre Weinstock sei. Es konnte daher nur Fruchtbarkeit in ihnen hervorgebracht werden, wenn sie in Ihm blieben. Für solche, die dem Volk Israel angehörten, war diese Belehrung von großer Wichtigkeit. Eine nationale Stellung, eine Abstammung nach dem Fleisch war nutzlos. Um Frucht für Gott zu bringen, mussten sie in Christus bleiben. Doch es ist zugleich eine nützliche und für alle Zeiten notwendige Belehrung für uns. „Ich bin der wahre Weinstock, und mein Vater ist der Ackerbauer. Jegliche Rebe in mir, die nicht Frucht bringt, die nimmt Er weg; und jegliche, die Frucht bringt, die reinigt Er, auf dass sie mehr Frucht bringe. Ihr seid schon rein um des Wortes willen, das ich zu euch geredet habe. Bleibt in mir und ich in euch. Gleichwie die Rebe nicht von sich selbst Frucht bringen kann, sie bleibe denn im Weinstock, also auch ihr nicht, ihr bleibt denn in mir. Ich bin der Weinstock, ihr die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, dieser bringt viel Frucht, denn außer mir könnt ihr nichts tun. Wenn jemand nicht in mir bleibt, der wird hinausgeworfen und verdorrt, und man sammelt sie und wirft sie ins Feuer, und sie verbrennen. Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben, so werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch geschehen. Hierin wird mein Vater verherrlicht, dass ihr viel Frucht bringt, und ihr werdet meine Jünger sein“ (Joh 15,1-8).

Wenn wir uns mit der Belehrung des Herrn über den Weinstock beschäftigen, so verlassen wir die Wahrheit von den Ratschlüssen Gottes in Bezug auf die Nationen und Juden und kommen zu dem, was betreffs des Lebens nötig ist. Aber um diese Belehrung richtig verstehen zu können, müssen wir uns immer daran erinnern, dass das Bild eines Baumes etwas darstellt, was auf der Erde ist und nicht etwa eine mit dem Himmel in Verbindung stehende Sache. Wenn wir daran denken, so werden wir die Bedeutung der Worte des Herrn verstehen. Er spricht von dem, was auf der Erde gesehen wird. Eine Rebe kann daher in dem Weinstock sein und doch keine Frucht bringen. Jedoch kann niemand vor Gott in Christus sein, wenn er nicht wirklich ein Kind Gottes ist. Bringen wir, wenn wir uns mit dem Weinstock beschäftigen, unsere Stellung vor Gott mit hinein, so werden wir alles verwirren. Halten wir aber daran fest, dass ein Baum ein Bild von einer auf der Erde bestehenden Sache ist, so werden wir nicht irregeleitet werden. Eine Rebe in dem Weinstock ist ein bekennender Christ. Es kann daher jemand eine Rebe sein, ohne dass er ein wahrer Gläubiger ist. In dem Augenblick, als der Herr dieses Gleichnis aussprach, bildete Judas Iskariot einen bemerkenswerten Beleg zu seinen Worten. Er war einer von den Zwölfen, er schien ein Gläubiger zu sein, und er war eine Rebe in dem Weinstock; allein seine Beschäftigung gerade in jenem Augenblick bewies, dass er nicht in Christus geblieben war. Ein bloßes Bekenntnis kann daher nicht genügen. Doch der Herr hält damit nicht ein. Er zeigt seinen Jüngern nicht nur, dass Wirklichkeit und Leben vorhanden sein muss, um Frucht zu bringen, sondern Er sagt ihnen auch, auf welche Weise, und zwar auf welche Weise allein sie Frucht tragen können, nämlich dadurch, dass sie im Ihm bleiben. Der über den Feigenbaum ausgesprochene Fluch bewies, dass Gott nicht ohne Frucht zufrieden sein würde. Die Belehrung des Herrn über den Weinstock zeigt, wie die Fruchtbarkeit sicher erreicht werden kann. Es mochten damals Bekenner vorhanden sein; es hat deren gegeben und gibt es heute noch. Von solchen spricht der Herr in Vers 6, aber Er tut es in einer Weise, welche jeden Gedanken ausschließt, dass ein wirklicher Christ verloren gehen könne, während sie die schreckliche Zukunft jener Bekenner auf das Bestimmteste darstellt. Wenn der Herr von wahren Gläubigen redet, so sagt Er: „Ihr.“ Spricht er aber von bloßen Bekennern, die keine Frucht bringen, so sagt Er: „Wenn jemand usw.“ Es gibt in dieser Stelle keine Entmutigung für den schwächsten Gläubigen, während sie zugleich eine ernste Warnung für den bloßen Bekenner enthält.

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