Botschafter des Heils in Christo 1878
Die Vollkommenheit - Teil 4/4
7. Bevor ich diese Betrachtungen schließe, möchte ich noch auf den großen Unterschied zwischen der Stellung und dem Zustand des Christen, wie er uns in dem Brief an die Epheser dargestellt wird, aufmerksam machen. Das erste und zweite Kapitel beschreiben die absolute Vollkommenheit der Stellung, die der Gläubige in Christus hat. Im 3. Kapitel finden wir ein Gebet, dessen Gegenstand der Zustand der Gläubigen ist (Siehe V 14–21). Wir können nicht um etwas bitten, das wir schon besitzen. Das erste Kapitel zeigt uns zunächst, wie sehr wir gesegnet sind: „mit aller geistlichen Segnung in den himmlischen Örtern in Christus.“ Auserwählt in Ihm, um heilig und tadellos vor Ihm in Liebe zu sein, zuvorbestimmt zur Sohnschaft durch Jesus Christus, hat uns Gott begnadigt in dem Geliebten, „in welchem wir haben die Erlösung durch sein Blut, die Vergebung der Vergehungen.“ Welch ein Stoff zu heiligen Betrachtungen! Lasst uns vorwärtsschreiten zu dem Maß des vollen Wuchses der Fülle des Christus (Kap 4,13), der, aus den Toten auferweckt, zur Rechten Gottes, des Vaters der Herrlichkeit, in den himmlischen Örtern sitzt. Alle die Reichtümer der Herrlichkeit seines Erbes in den Heiligen sind unser Teil. Denn Gott „hat uns mitauferweckt und mitsitzen lassen in den himmlischen Örtern in Christus Jesus“ (Kap 2,6). Wir können bezüglich unserer christlichen Stellung nicht darüber hinausgehen; es ist die Stellung Christi, unseres Hauptes – die christliche Vollkommenheit. Kann ihre Erreichung noch Gegenstand unseres Gebets sein? Nein, sie ist unser; aber wir können wohl für einander beten, dass wir diese Vollkommenheit in Christus im Himmel kennen lernen und genießen. Alles ist unser; der Herr sei dafür gepriesen!
Wir finden hier ferner, was der Apostel in Bezug auf den Zustand dieser Gläubigen ersteht: „Auf dass er euch gebe nach dem Reichtum seiner Herrlichkeit, mit Kraft gestärkt zu werden durch seinen Geist an dem inneren Menschen, dass der Christus durch den Glauben wohne in euren Herzen usw“ (Kap 3,16–17). Ist dies nicht ein glückseliger Zustand – Christus, wohnend in unseren Herzen durch den Glauben?
Beachten wir alsdann die große Verschiedenheit der Ermahnungen, die wir in der letzten Hälfte der Brief finden und die alle auf unseren Zustand Bezug haben und höchst beachtenswert sind.
Der Brief an die Epheser stellt also zuerst unsere Stellung in Christus dar und alsdann Christus in uns. „Dem aber, der über alles hinaus zu tun vermag, über die Maßen mehr, als was wir erbitten oder erdenken, nach der Kraft, die in uns wirkt.“ Beweist dies etwa, dass die Vollkommenheit in uns selbst ist, oder dass es irgendeine Veränderung oder Verbesserung der alten Natur gibt? Gewiss nicht. Alle die Ermahnungen der folgenden Kapitel zeigen, wie sehr man der Wachsamkeit gegen die alte, fleischliche Natur bedarf. In dem vorliegenden Brief ist wohl von einer vollkommenen Stellung in Christus, aber niemals von einem Zustand der Vollkommenheit oder Reinheit die Rede.
„Aber“, wird man vielleicht fragen, „wenn die alte, schlechte Natur in uns bleibt, werden wir dann nicht immer die Sklaven ihrer Leidenschaften sein?“
Keineswegs; denn die Macht, die in uns wirkt, ist unendlich; es ist die Macht Gottes, und somit können wir der Befreiung gewiss sein. Wenn wir in einem Zustand der Reinheit waren, so würden wir diese Vorschriften und Ermahnungen nicht bedürfen. Gott aber weiß, dass sie für einen jeden von uns nötig sind. Wenn wir für immer in demselben Zustand der Reinheit wie unser vielgeliebter Herr sein werden, dann wird sicher keine Veranlassung vorhanden sein, Ermahnungen an uns zu richten, wie die folgenden: „Keine faule Rede gehe aus eurem Mund“; „berauscht euch nicht mit Wein“ usw.; es wird gewiss nicht nötig sein, uns zu ermahnen, den Heiligen Geist Gottes nicht zu betrüben. Können solche Worte an Christus gerichtet werden? Er ist die Reinheit selbst; wenn wir daher hienieden rein wären, wie Er es ist, so könnten diese Ermahnungen nicht für uns sein. Wir erwarten jedoch eine glückselige Veränderung; wenn wir Ihn sehen werden, werden wir Ihm gleich sein, und ein jeglicher, „der diese Hoffnung zu Ihm hat, reinigt sich selbst, gleich wie Er rein ist.“ Er ist ohne Zweifel das Maß unserer Heiligkeit, und wir dürfen kein geringeres vor uns stellen. Aber würden wir in unserem gegenwärtigen Zustand zu behaupten wagen, dass nichts Unreines von uns ausgehen könnte? Würden wir es wagen, so müssten unsere eignen Lippen uns verurteilen. Lasst uns wachsam und bemüht sein, in einer demütigen Abhängigkeit von Gott zu beharren!
Untersuchen wir noch in der Kürze, was der Brief an die Philipper über diesen Gegenstand sagt. Dort setzt der Apostel um Christi willen alles bei Seite. Alles, was er als frommer, eifriger Jude war, achtet er als Verlust und Dreck, um in Christus erfunden zu werden und nicht seine eigene Gerechtigkeit zu haben. Er zeigt uns die wahre, christliche Erfahrung in den Worten: „Zu erkennen Ihn und die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft seiner Leiden, indem ich seinem Tod gleichgestaltet werde.“ Ist dies nun eine Erfahrung, die sich mit dem „Ich“ beschäftigt? Von uns sprechen, über uns schreiben heißt nicht, Ihn erkennen. Wenn wir den Wunsch haben, in praktischer Heiligkeit zu wachsen, so werden wir nie durch Beschäftigung mit uns selbst dahin gelangen, sondern dadurch, dass wir im Wort forschen, dass wir uns vergessen und uns mit Christus beschäftigen.
Bemühen wir uns, mehr und mehr als gestorbene, aber als mit Christus auferweckte Personen zu wandeln? Kennen wir etwas von der Kraft seiner Auferstehung? Nichts von dieser Welt, weder Stellung noch menschliche Auszeichnung, kann mit dieser wahren, christlichen Erfahrung verglichen werden. Gewiss, wenn unser Wandel der hier beschriebenen Erfahrung gemäß wäre, so würden wir hinsichtlich unseres Zustandes keinen Anspruch auf Vollkommenheit machen. Der Apostel, vorwärts blickend auf jenen glückseligen Augenblick, wo er wirklich auferweckt, d. h. in der vollkommenen Reinheit des Zustandes der Auferstehung sein würde, sagt: „Ob ich auf irgendeine Weise hingelangen möge zur Auferstehung aus den Toten.“ Auf welche Weise es auch geschehen mochte – er suchte nur dieses; welche Verluste oder Leiden der Weg dahin auch bringen mochte – es war sein einziger Wunsch, sein einziger Gegenstand. Paulus hatte diesen Zustand noch nicht erreicht, noch war er hinsichtlich dieses Zustandes der Reinheit schon vollkommen. Er sagte: „Nicht, dass ich es schon ergriffen habe, oder schon vollendet sei.“ Die ganze Kraft dieser Stelle wäre durch den Gedanken einer gegenwärtigen Reinheit und Vollkommenheit zerstört. Beachten wir jedoch, dass der Apostel nicht im Geringsten seine Vollkommenheit in Christus bezüglich seiner Stellung in Frage Zieht. „So viele nun vollkommen sind“, sagt er, „lasst uns also gesinnt sein.“
Was mich in den meisten Schriften über die Heiligkeit so schmerzlich berührt, ist, dass man beinahe gänzlich versäumt hat, auf einer absolut vollkommenen Stellung aller Gläubigen in Christus zu bestehen. Man sucht diese Stellung durch eine Art vermeintlicher Reinheit, oder durch einen gewissen Zustand der Vollkommenheit, den man hienieden zu erreichen hofft, zu ersetzen, und somit lässt man die glückselige Hoffnung der Ankunft des Herrn bei Seite und schwächt Zugleich den vollen Wert des ein für alle Mal geschehenen Opfers Christi. Man nehme ein beliebiges Werk über diesen Gegenstand zur Hand, und man wird finden, dass meine Behauptung bald mehr, bald weniger zutrifft. Es ist dies eine betrübende Tatsache, die den Seelen nur Schaden bringen kann; denn wenn wir die Vollkommenheit unserer Stellung in Christus nicht kennen, wie können wir dann einen fortdauernden Frieden genießen? Und wenn wir den Herrn Jesus Christus nicht von dem Himmel als Heiland erwarten in der gesegneten Gewissheit, dass wir, wenn wir Ihn sehen, Ihm gleich sein werden, so verlieren wir die heiligende Kraft dieser glückseligen Hoffnung.
Es ist sehr erfreulich, das Verlangen nach einer völligen Heiligkeit und einer vollständigen Ergebenheit im Leben und im Wandel erwachen zu sehen. Möchten alle meine Leser, die dem Herrn angehören, sich stets der Kraft erinnern, die wir in Christus haben, und der Tatsache, dass Christus in uns ist! Paulus sagte: „Alles vermag ich in dem, der mich kräftigt“; seine Kraft war in Ihm, und es war sein sehnliches Verlangen, dass „Christus hoch erhoben werde an seinem Leib, sei es durch Leben oder durch Tod.“
Auch in dem Brief an die Kolosser wird die vollkommene Stellung des Gläubigen in Christus dargestellt, und wir finden gleichfalls darin Ermahnungen zu einem heiligen Leben. Der Apostel meint alle Kinder Gottes, wenn er sagt: „Danksagend dem Vater, der uns fähig gemacht zu dem Anteil des Erbes der Heiligen in dem Licht, der uns errettet hat aus der Gewalt der Finsternis und versetzt in das Reich des Sohnes seiner Liebe, in welchem wir die Erlösung haben, die Vergebung der Sünden“ (Kol 1,12–14). Und weiter: „Ihr seid vollendet in Ihm, welcher ist das Haupt jedes Fürstentums und jeder Gewalt.“ – das ist unsere gesegnete Stellung von dem Augenblick an, wo wir von dem Tod zum Leben hinübergegangen sind (Joh 5,24). Jede Ermahnung zu einem heiligen Wandel, die sich in diesem Brief findet, ist mit dieser vollkommenen Stellung in Christus, welche die unsrige ist, in Übereinstimmung. Dies ist in den Worten zusammengefasst: „Neun ihr nun mit dem Christus auferweckt seid, so sucht, was droben ist.“
Nach diesen Worten lesen wir: „Wenn der Christus, der unser Leben ist, offenbar werden wird, dann werdet auch ihr mit Ihm offenbar werden in Herrlichkeit.“ Was soll aus dieser gesegneten Wahrheit hervorgehen? „Tötet nun eure Glieder, die auf der Erde sind.“ Hätten wir nötig, dies zu tun, wenn das Böse nicht mehr in uns wäre? Gewiss nicht. Wenn wir den verführerischen Gedanken nähren, dass das Böse in uns hinweggetan sei, so wird die Folge davon sein, dass wir das Töten unserer Glieder vernachlässigen und bald wieder in die Sünde fallen. Satan wird dann sicher einen großen Sieg über uns davontragen.
Sollte jemand, der diese Zeilen liest, in die Sünde eingewilligt haben und zu Fall gekommen sein, obwohl er von der Heiligkeit redet, so gehe er ohne Zögern zu seinem Vater und bekenne seine Sünde. Hüte er sich, in der Heuchelei einen Schritt weiter zu tun. „Wenn wir unsere Sünden bekennen, so ist Er treu und gerecht, dass Er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit.“
Es mochte nun jemand fragen: „Können wir denn nicht die Reinheit des Herzens und eine gänzliche Befreiung von einer sündhaften Natur begehren?“ – O ja, wir können nach dieser Befreiung, die bei der Ankunft unseres Herrn Jesus Christus stattfinden wird, sehnlichst seufzen. – „Aber steht denn nicht geschrieben: Der Gott des Friedens heilige euch völlig, Geist und Seele und Leib?“
Diese Worte mögen schon häufig in dieser Weise angeführt worden sein, allein die Schrift spricht nicht so. In 1. Thessalonicher 5,23 lesen wir: „Er selbst aber, der Gott des Friedens heilige euch völlig; und euer ganzer Geist und Seele und Leib werde untadelig bewahrt bei der Ankunft unseres Herrn Jesus Christus.“ Beachten wir, dass in dieser Stelle von einer völligen Heiligung oder Absonderung für Gott die Rede ist, und dass wir gleichwohl nötig haben, untadelig bewahrt zu werden. Wenn unsere Heiligung so viel hieße, als reingemacht zu sein, wie Christus rein ist, alsdann wäre es nicht nötig, nach Geist, Seele und Leib untadelig bewahrt zu werden. Hatte Christus nötig, auf Erden in dieser Weise bewahrt zu werden? Jene Worte wollen vielmehr sagen: der Gott des Friedens soll so unsere Gedanken erfüllen und uns so beherrschen, dass wir selbst von jeder Form des Bösen gänzlich getrennt und für Gott vollkommen abgesondert sind. Die böse Natur, die Sünde im Fleisch, wurde gerichtet und nicht geheiligt, und Paulus bittet, dass der Geist, die Seele und der Leib untadelig bewahrt werden bis zur Ankunft unseres Herrn Jesus Christus. Bis zu jenem gesegneten Augenblick bedürfen wir, durch die mächtige Kraft Gottes bewahrt zu werden. Bald, ja bald wird die Reinheit in ihrer ganzen Vollkommenheit unser Teil sein. Wenn wir jetzt nach derselben seufzen – wir werden sie droben besitzen.
Herrlicher Augenblick, wenn wir die gesegnete Stimme Jesu vernehmen. Sein liebevolles Angesicht schauen und die Herrlichkeit Gottes auf seinem Angesicht wiederstrahlen sehen werden, ohne uns im Geringsten zu fürchten; denn wir werden Ihm gleich sein. „Die Herrlichkeit, die du mir gegeben, habe ich ihnen gegeben.“
Geht aus, Ihm entgegen! Wie Rebekka das götzendienerische Haus ihrer Mutter verlieh, um Isaak entgegen zu gehen, so möge auch jeder, der den Herrn kennt, diese gottlose Welt verlassen, um Ihm zu begegnen, der uns also geliebt hat.