Botschafter des Heils in Christo 1878
Das Gesetz - Teil 3/4
Man behauptet ferner, „dass den Menschen in Bezug auf ihr Verhalten für alle Zeiten ein und dieselbe Regel oder Richtschnur von Gott gegeben sein müsse.“ Ich muss sagen, eine solche Annahme ist nur eine Theorie, die wiederum auf eine andere Theorie gegründet ist. Ohne Zweifel ist die Natur Gottes unveränderlich, sowie auch gewisse Grundsatz in demjenigen, der ein Teilhaber der göttlichen Natur ist, unveränderlich wahr sind. Aber zu sagen, dass dies das Gesetz sei, oder dass wir die nämliche Richtschnur unseres Verhaltens empfangen haben, ist falsch. Solche Ideen sind das Ergebnis eines schriftwidrigen Gebrauchs des Ausdrucks: „moralisches Gesetz.“ Gott gab seinen Geschöpfen in vergangenen Zeiten eine andere Richtschnur für ihren Gehorsam, als Er uns gegeben hat. Er gab ihnen das Gesetz Moses, und zwar war dieses das einzige Gesetz, was Er je gegeben hat (mit Ausnahme des Verbots im Paradies, von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen zu essen) Wir aber haben eine ganz andere Richtschnur für unseren Wandel empfangen. Den Juden waren wegen ihrer Herzenshärtigkeit Gebote gegeben worden, die Christus abschaffte. Und in Hebräer 7,18–19 lesen wir: „Denn es ist eine Abschaffung des vorhergehenden Gebots, seiner Schwachheit und Nutzlosigkeit wegen; denn das Gesetz hat nichts zur Vollendung gebracht.“ Desgleichen hören wir den Herrn in seiner Bergpredigt mehrmals wiederholen: „Ihr habt gehört, dass gesagt ist ... ich aber sage euch ...“ Diese Stellen zeigen schon zur Genüge, dass die Behauptung: es sei unmöglich, dass ein heiliger, gerechter, guter und vollkommener Gott den Menschen verschiedene Lebensregeln geben könne, mit den offenbaren Tatsachen und Erklärungen der Schrift im Widerspruch steht. Gott gab ein Gesetz und hob es wieder auf, weil es nichts zur Vollendung brachte. Er führte eine bessere Hoffnung ein, durch welche wir Ihm nahen können. Wohl wusste Christus die beiden großen Grundsätze jenes Gesetzes ans Licht zu ziehen: „Gott zu lieben über alles und seinen Nächsten wie sich selbst“ – Grundsätze, an welchen „das ganze Gesetz und die Propheten hängen“, und welche die Vollkommenheit des Geschöpfs darstellen. Aber selbst diese Grundsätze sind in keiner Weise der Abdruck des göttlichen Charakters; und es ist nur Betrug, in abstrakter Weise von der Liebe, als geboten im Gesetz, zu sprechen. Ich stelle es völlig in Abrede, dass das Gesetz, der Abdruck des göttlichen Charakters sei. Es ist vielmehr der absolute, vollkommene Ausdruck dessen, was das Geschöpf sein sollte, und was demselben als ein Gesetz gegeben werden musste. Auch glaube ich, dass die Engel im Himmel es erfüllen und in der Erfüllung desselben gesegnet und glücklich sind. Aber weil es eben die Vollkommenheit eines Geschöpfs ausdrückt, so ist es nicht der Abdruck des göttlichen Charakters. Kann Gott – ich spreche mit aller Ehrfurcht – seinen Nächsten lieben wie sich selbst? Oder kann Er gar (in dem Sinn, wie es das Gesetz von einem Geschöpf in Bezug auf Gott rechtlich verlangt) sich selbst lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit allen seinen Kräften? Ich sage nochmals, dass diese beiden Gebote die Vollkommenheit eines glückseligen Geschöpfs ausdrücken und nicht der Abdruck des Charakters Gottes sind. Ein solcher Gedanke ist grundfalsch.
Zudem wird uns in den beiden Geboten nicht die Vollkommenheit oder die Natur der göttlichen Liebe dargestellt, wie sie gegen uns in ihrer eigenen Vortrefflichkeit erwiesen ist. Die von dem Gesetz geforderte und gebotene Liebe ist eine Pflicht, die den Beziehungen entspringt, in welchen die Gegenstände der Liebe zu uns stehen, und kraft welcher dieselben ein Anrecht auf unsere Liebe haben. Gott kann folglich beanspruchen, dass wir Ihn über alles lieben und unseren Nächsten wie uns selbst. Diese Liebe ist das passende Maß der Erfüllung einer Pflicht, die vollkommen glücklich macht, indem Gott selbst der entsprechende Beweggrund derselben ist. Die Vortrefflichkeit der Liebe Gottes hingegen, die in besonderer Weise von uns erkannt und gegen uns erwiesen ist, besteht darin, dass sie in uns keinen Beweggrund, keinen Anlass, keinen würdigen, sondern im Gegenteil einen äußerst unwürdigen Gegenstand fand. Gott liebte den Sünder; Er sandte seinen Sohn, als wir tot in Sünden waren, auf dass wir durch Ihn leben sollten. „Hierin ist die Liebe: nicht dass wir Gott geliebt haben, – dies ist es, was das Gesetz verlangte – sondern dass Er uns geliebt und seinen Sohn gesandt hat als eine Sühnung für unsere Sünden“ (1. Joh 4,10). Mit einem Wort: „Gott erweist seine Liebe gegen uns, indem Christus, da wir noch Sünder waren, für uns gestorben ist“ (Röm 5,8). Die vom Gesetz gebotene Liebe setzt voraus, wie dies nach dem Gesetz nicht anders sein kann, dass Ansprüche darauf vorhanden sind; hingegen besteht das Wesen der göttlichen Liebe, wie sie sich gegen uns offenbart hat, darin, dass wir gar keine Ansprüche darauf zu machen haben. Die einzig mögliche Ähnlichkeit mit einer solchen Liebe, die ein Anrecht voraussetzt, (doch es geziemt sich nicht, das hier einzuführen) findet man indem Ausdruck: „der Vater liebt den Sohn“, oder: „deshalb liebt mich mein Vater.“ Aber dies geht unendlich weit über unseren Standpunkt und unsere Begriffe hinaus, und wenn uns da in irgendeiner Weise Zutritt gewährt wird, wie es, Gott sei Dank, der Fall ist, so ist es nur durch die unumschränkte Gnade, die uns einen Platz in Ihm und mit Ihm gegeben hat. Das Gesetz ist nicht der Ausdruck des göttlichen Charakters, sondern die vollkommene Richtschnur für ein Geschöpf und kann deshalb der Natur der Sache nach nicht auf Gott angewandt werden, weil Er nicht in dem Verhältnis eines Geschöpfs steht; denn das Gesetz ist nur der Ausdruck für das, was solchen Verhältnissen angemessen ist. Es ist der Ausdruck dessen, was wir Gott schuldig sind, und kann also nicht der Ausdruck des Charakters Gottes sein. Adam war unter ein Gesetz gestellt, welches von ihm keine Kenntnis des Guten und Bösen, oder des Rechts und Unrechts in sich selbst forderte. In dem Essen der verbotenen Frucht gab es an und für sich nichts Böses, ausgenommen insofern es untersagt war. Die Frucht war in sich selbst weder gut noch böse, aber indem der Mensch sie aß, erlangte er die Kenntnis des Guten und Bösen; und somit wurde die Sünde und das Gewissen zusammen eingeführt. Gott gestattete dem Menschen nicht, als Sünder aus dem Paradies zu gehen und diese Welt zu beginnen, ohne ein Gewissen mit sich zu nehmen. Der Mensch mag es verdorben und verhärtet haben; aber es war da, um verdorben und verhärtet zu werden. Deshalb macht der Apostel in Bezug auf die Nationen, wenn er in Römer 2,14–15 von ihrer Verantwortlichkeit spricht, seinen Schluss auf Grund ihres Gewissens, wenn auch nicht auf dieses allein; aber er spricht nicht, wie nach dieser Stelle oft angenommen wird, von einem auf die Herzen der Nationen geschriebenen Gesetz. Denn wenn es wäre, so würden sie unter dem neuen Bunde sein. Nicht das Gesetz, sondern das eigentümliche Werk desselben, welches ihr natürliches Gewissen überführt oder verurteilt, ist auf ihre Herzen geschrieben, – dasselbe Werk, das auch im Gesetz gefunden wird.
Es wird oft gesagt, dass Adam in Gerechtigkeit und Heiligkeit geschaffen sei. Dies ist aber ganz irrig. Er war in Unschuld geschaffen. Der neue Mensch hingegen, den wir anzuziehen berufen sind, ist in wahrhaftiger Gerechtigkeit und Heiligkeit geschaffen worden – Christus und nicht Adam (Eph 4,34). Es ist eine ganz neue Schöpfung; und auch wir sind, wenigstens nach der Erklärung der Schrift, aufs Neue geschaffen in Christus Jesus. Ebenso lesen wir in Kolosser 3,10, dass wir „den neuen Menschen angezogen haben, der erneuert wird zur Erkenntnis nach dem Bild dessen, der ihn erschaffen hat.“ Die gewöhnlichen Darstellungen dieses Gegenstandes verwechseln Christus und Adam – die neue und die alte Schöpfung. Adam war unschuldig und hatte keine Erkenntnis des Guten und Bösen; das ist das bestimmte Zeugnis der Schrift, der wesentliche Teil in der Geschichte des Falles Er konnte deshalb nicht Gerechtigkeit oder Heiligkeit besitzen, da diese die Erkenntnis des Guten und Bösen voraussetzen. Wenn Gott erklärt: „Der Mensch ist geworden wie unser einer, zu erkennen Gutes und Böses“, so ist es augenscheinlich, dass er beides vorher nicht kannte. Daher ist die gewöhnliche Behauptung, dass Adam gerecht und heilig, dass er nach dem Bild Gottes in Gerechtigkeit und Heiligkeit geschaffen sei, ganz irrig. Durch den Fall erlangte der Mensch eine Erkenntnis des Guten und Bösen – eine Erkenntnis, welche ihm den verschiedenen Verhältnissen, in welche er gestellt ist, entsprechende Pflichten auferlegt; oder besser gesagt, wodurch er von Recht und Unrecht ein Verständnis hat, das seinem Zustand angemessen ist. Diese Pflichten hält das mosaische Gesetz im Grund aufrecht, wenn auch nicht in all ihren Einzelheiten nach der ursprünglichen Anordnung Gottes. So schuf z. B. Gott von Anfang der Schöpfung Mann und Weib, damit sie ein Fleisch seien, unzertrennlich; aber wegen der Herzenshärtigkeit des Menschen wurde durch Moses die Ehescheidung eingeführt. Von Adam bis auf Moses waren die Menschen nicht unter Gesetz gestellt, aber sie hatten die Erkenntnis des Guten und Bösen und waren folglich verantwortlich – sie waren sich selbst ein Gesetz. Aber wir dürfen dies nicht mit einem offenbarten oder gegebenen Gesetz verwechseln, weil ein von Gott offenbartes oder gegebenes Gesetz die ausdrückliche Autorität des Gesetzgebers enthält; und der unter demselben stattfindende Ungehorsam macht sich der bestimmten Verletzung der Autorität des Gesetzgebers schuldig. Wenn also auch von Adam bis auf Moses die Sünde in der Welt war, so gab es doch keine Übertretung, denn wo kein Gesetz ist, da ist keine Übertretung. Deshalb sagt der Apostel in Römer 5,14 indem (er auf Hosea 6,7 anspielt, wo von Israel gesagt wird: „Sie haben den Bund übertreten wie Adam“): „Der Tod herrschte von Adam bis auf Moses, selbst über die, welche nicht gesündigt hatten in der Gleichheit der Übertretung Adams.“ Israel hatte wie Adam das Gesetz gebrochen; es hatte nicht nur gesündigt – nicht nur getan, was das Gewissen verurteilte, sondern die im Auflegen des Gesetzes ausgeübte Autorität Gottes verletzt.
Es ist der größte Missgriff, wenn man (in Bezug auf die Unterweisung des Apostels über die Stellung des Christen zum Gesetz) zwischen dem moralischen und dem Zeremonialgesetz den Unterschied macht, den man zu machen versucht. Sicherlich gibt es einen Unterschied; denn es ist augenscheinlich, dass durch die Übertretung oder völlige Beiseitesetzung des Zeremonialgesetzes kein Mensch schuldig wird, während er durch alles schuldig wird, was sein natürliches Gewissen als unrecht verurteilt, selbst wenn er es ohne ein Gesetz getan hat. Denn in diesem Fall ist der Mensch sich selbst ein Gesetz, allein man darf dieses nicht unter dem Ausdruck „moralisches Gesetz“ mit einem gegebenen Gesetz verwechseln. Doch der Apostel geht viel tiefer in die Frage ein und zeigt, was die Wirkung eines jeden Gesetzes (als eines Grundsatzes der Beziehungen) ist, sobald ein Sünder damit zu tun hat. Deshalb wirft er beide, das moralische und zeremonielle Gesetz zusammen; nicht aber, weil er sich um den Unterschied nicht kümmert, sondern weil er eine andere Frage behandelt. Denn er gebraucht das Gesetz, um den Menschen von der Sünde zu überführen und ihn zu töten, sobald es als recht und gut betrachtet und als geistlich erkannt wird; und er zeigt, dass der Gläubige, der es also erkennt, durch den Tod und die Auferstehung von demselben befreit ist, dass er sich aber, wenn er es von neuem auf sich anwendet, unter eine verhängnisvolle Verantwortlichkeit begibt. Das Gesetz, als ein Ganzes betrachtet, ist ein System, in welches man durch die Beschneidung eingeführt wurde, und nach dessen Ausspruch der Mensch, wenn er nicht alles tat, was darin geschrieben stand, verflucht war. Nach der Beweisführung des Apostels war das Gesetz eine abgesonderte, bestimmte Anordnung Gottes, nach welcher das Leben in Folge des Gehorsams verheißen war. Dieser Grundsatz charakterisierte seine ganze Natur und die darauf gegründete Gerechtigkeit – zuerst Gehorsam, dann in Folge dessen Leben und Gerechtigkeit.
Das Evangelium ruht auf einem ganz entgegengesetzten Grundsatz. Es gibt weder das Leben als eine Folge des Gehorsams, noch wird auf diesem Weg oder nach diesem Grundsatz die Gerechtigkeit erlangt. Führt man also das Gesetz ein, nachdem man die göttliche Gerechtigkeit durch den Glauben zu der seinigen gemacht hat, so wirft man dadurch diese über den Haufen und vernichtet sie. Deshalb setzt der Apostel nicht bloß die Zeremonien bei Seite, sondern widersteht überhaupt, wie wir gesehen haben, der Einführung des Gesetzes, nachdem Christus gekommen ist. Ohne Zweifel verschwanden die Zeremonien als die Schatten der zukünftigen Güter, deren Körper Christi ist (Kol 2,17); aber der Apostel erörtert die für den Christen so verderbliche Anwendung des so genannten moralischen Gesetzes – die Anwendung der zehn Gebote oder der steinernen Tafeln, indem er deren gesetzmäßigen Gebrauch: den Menschen dadurch zu überführen und zu verurteilen, bezeichnet. Er setzt die Haushaltung des Gesetzes bei Seite, wobei er zwar zunächst an die zehn Gebote denkt; dennoch aber verbindet er das ganze System mit denselben. Sie sind unzertrennlich, Teile eines großen Ganzen, dessen Ende Israel nicht anschauen konnte, und was abgeschafft werden sollte. Das Gesetz war gegeben, damit man durch dasselbe das Leben habe, allein es erwies sich in Folge des sündigen Zustandes des Menschen zum Tod. Stellt man nun den Menschen, nachdem die Erlösung vollbracht ist, wieder unter das Gesetz, so zerstört man dadurch zwar nicht den Menschen, aber die Erlösung selbst, und führt endliches Verderben ein. Hören wir, was der Apostel in 2. Korinther 3 sagt: „Wenn aber der Dienst des Todes in Buchstaben, in Steine eingegraben, in Herrlichkeit ward, so dass die Kinder Israel das Angesicht Moses nicht unverrückt ansehen konnten wegen der Herrlichkeit seines Angesichts, die hinweggetan wird; wie wird nicht vielmehr der Dienst des Geistes in Herrlichkeit sein? ... Denn wenn das, was hinweggetan wird mit Herrlichkeit war, wie vielmehr wird das Bleibende in Herrlichkeit bestehen! Weil wir nun eine solche Hoffnung haben, so gebrauchen wir große Freimütigkeit und tun nicht gleich wie Moses, der eine Decke über sein Angesicht legte, auf dass die Kinder Israel nicht anschauen möchten das Ende dessen, was hinweggetan wird.“ Außer dem Gegensatz von Gesetz und Evangelium haben wir hier zwei miteinander in Vergleich gestellte Dinge. Man wird bei sorgfältiger Prüfung dieses Kapitels finden, dass dasselbe keine Trennung der steinernen Tafeln oder der zehn Gebote, betrachtet als eine Handlung von Seiten Gottes, von allem übrigen, was Moses gegeben hat, zulässt. Der Apostel spricht von den steinernen Tafeln, dem Dienst des Todes, und von dem ganzen System, das Moses empfing und das die Herrlichkeit seines Angesichts begleitete, als einem Ganzen. Jeder Unterschied, den man irgendwie zwischen den ersten zerbrochenen und den zweiten in die Lade niedergelegten Tafeln macht, ist nichtig. Als Moses zum ersten Mal vom Berg hinabstieg, leuchtete sein Angesicht nicht, wohl aber, als es zum zweiten Mal geschah. Israel hat nie die ersten Tafeln empfangen; denn Moses hatte sie bei seinem Hinabsteigen unten am Berg zerbrochen. Folglich sind gerade diejenigen, welche in die Lade gelegt wurden – das, was nach 2. Korinther 3 den Tod brachte – abgeschafft worden. Wir dürfen die Wichtigkeit dieser Tatsache nicht unterschätzen; denn obwohl der Apostel in bestimmter Weise vom Gesetz redet, so hilft doch der Dienst der Gnade nicht aus dem Zustand des Fluches heraus, wenn man sich nach empfangener Gnade von neuem unter das Gesetz stellt. Wohl hatte Gott Gnade (ich sage nicht Erlösung) offenbart, als Moses zum zweiten Mal auf den Berg stieg, dennoch aber stellte Er Israel wieder unter das Gesetz, weil Moses keine Versöhnung tun konnte (Siehe 2. Mo 32–33). Und eben dieses, dass der Mensch nach Offenbarung der Gnade, als das Gesetz in die Lade gelegt war, von neuem unter das Gesetz gestellt wurde, nennt der Apostel Verdammnis und Tod. Denn nur Israel ist in dieser bestimmten Weise unter das Gesetz gestellt worden (wiewohl unter der gnädigen Nachsicht der souveränen Barmherzigkeit) und hatte also entweder das Leben in Folge des Gehorsams, oder das Austilgen aus dem Buch Gottes zu erwarten – aber dieses war Verdammnis und Tod. Israel hat die ersten Tafeln nie empfangen, sie sind nie ins Lager gekommen. Nachdem Gott zu ihnen aus der Mitte des Feuers geredet hatte, machten sie das goldene Kalb; und das Angesicht Moses leuchtete, wie gesagt, nicht im Geringsten, als er zum ersten Mal vom Berg hinabstieg. Und die zweiten Tafeln, oder das der empfangenen Gnade und einstweiligen Vergebung folgende Gesetz war nichts anders als Tod und Verdammnis.
Bezüglich der Erlangung des Lebens durch das Gesetz, wie es durch Moses dargestellt wird, sagt der Apostel: „Denn Moses beschreibt die Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz ist: ‚Der Mensch, der diese Dinge getan hat, wird durch sie leben.‘“ (Röm 10,5) Das will sagen: Moses stellt die Erlangung der Gerechtigkeit und des Lebens durch das Gesetz vor, während Paulus dies der Gerechtigkeit aus Glauben entgegenstellt. Deshalb sagt der Apostel in Römer 7 gemäß seiner Erfahrung: „Das Gebot, das zum Leben gegeben, dasselbe erwies sich mir zum Tod.“ Der Leser möge auch das 7. und 8. Kapitel des Hebräerbriefes zu Rat ziehen, wo der Apostel auf der Abschaffung des vorhergehenden Gebots wegen seiner Schwachheit und Nutzlosigkeit, weil es „nichts zur Vollendung brachte“, besteht, und wo er sagt, dass der erste Bund (denn ein Bund war es immerhin) von Sinai mangelhaft war, und folglich ein neuer mit Israel gemacht werden mühte. Kein Christ wird voraussetzen, dass er die Freiheit habe, zu töten oder zu stehlen; dies bedarf keiner Erwähnung. Aber enthält er sich des Mordes oder des Diebstahls, weil es im Gesetz verboten ist? Ich bin überzeugt, dass jeder wahre Christ mit „nein“ antworten wird, obgleich er das Verbot als völlig richtig anerkennt. Derjenige, der nur deshalb keinen Mord begeht, weil es im Gesetz verboten ist, würde damit beweisen, dass er kein. Christ sei. Zudem möchte ich noch darauf aufmerksam machen, dass die Apostel das Gesetz nirgendwo als die große Standarte des Christen bezeichnen, noch dass alle die von ihnen auferlegten Pflichten auch nur den geringsten Teil des Gesetzes ausmachen; denn diese Pflichten fließen aus der Gnade, und Gnade ist nicht Gesetz. Wir dürfen daher das Gesetz nicht mit den Pflichten (die im Gesetz unvollkommen und im Christentum vollkommen dargestellt sind) gegen Gott und unseren Nächsten verwechseln – mit den Pflichten, welche die Erkenntnis der Liebe Gottes in Christus den übrigen hinzufügt, die selbst soweit gehen, dass wir berufen sind, Nachahmer Gottes zu sein, sowie Er sich in Gnade in Christus offenbart hat. Als ich unter dem Gesetz war, herrschte die Sünde über mich; aber die Gnade Gottes – nicht das Gesetz – ist erschienen und unterweist mich, nüchtern, gerecht und gottselig in dem jetzigen Zeitlauf zu leben (Tit 2,11–12). Und gerade deshalb, weil ich durch die Gnade besser unterwiesen bin, und sie mir sowohl die Kraft als auch die Richtschnur für den Wandel darreicht, bedarf ich kein Gesetz. Unter der Gnade sind wir von Gott gelehrt, einander zu lieben nach der Natur, die wir als Gläubige besitzen, und in dem Geist, der uns gegeben ist. Indem ich daher meinen Nächsten liebe, wie mich selbst, erfülle ich das Gesetz – nicht dadurch, dass ich das Gesetz, sondern die durch die Gnade gewirkte Liebe habe und nicht mehr unter dem Gesetz bin.
Dass das geschriebene Wort von Anfang bis zu Ende der Führer dieser neuen Natur ist und sie im Gehorsam leitet, ist eine segensreiche Wahrheit; dass ferner, wenn ich aus Gott geboren bin, (und dies geschieht nicht durch das Gesetz, weil das Gesetz kein Leben geben kann) das Leben gebildet, geleitet, unterwiesen, ja sogar beherrscht wird durch jedes Wort, das aus dem Mund Gottes geht, und besonders durch die Worte Christi, welche der tatsächliche Ausdruck dieses Lebens in seiner eigenen Vollkommenheit in dem Menschen sind, das erkenne ich von ganzem Herzen an. Aber dies ist nicht das Gesetz. Das Wort sagt mir, dass ich mit Christus auferstanden bin und zu suchen habe, was droben ist, wo der Christus ist, sitzend zur Rechten Gottes; dass ich ein Brief Christi bin, der durch den Geist des lebendigen Gottes in mein Herz eingegraben ist, im Gegensatz zu dem in steinerne Tafeln eingegrabenen Gesetz.
Nun aber beruft man sich, um die Christen unter das Gesetz zu stellen, auf die Bergpredigt und führt namentlich die Stelle in Matthäus 5,17 als Beweis an, dass der Herr das Gesetz aufgerichtet habe. Allein ich halte dafür, dass die Worte des Herrn hier völlig missverstanden werden. Ich glaube nicht, dass das Gesetz oder die Autorität desselben vernichtet ist; vielmehr glaube ich, dass jene, die unter dem Gesetz gesündigt haben, durch dasselbe gerichtet werden. Ich glaube ferner, dass es später unter dem neuen Bunde (von dem wir das Wesentlichste im Geist, nicht dem Buchstaben nach besitzen) in das Herz der Kinder Judas und Israels geschrieben sein wird. Es wird nicht vergehen, bis es seine Erfüllung gefunden hat. Ich denke nicht im Entferntesten daran, dass Christus das Gesetz bei Seite gesetzt habe, denn das hieße die Autorität Gottes bei Seite setzen. Christus kam, um das Gesetz zu erfüllen, und Er hat in seinem Tod die Autorität desselben besiegelt; aber Zugleich hat Er auch durch seinen Tod mit seiner Stellung unter dem Gesetz ein Ende gemacht; denn es hat Autorität über den Menschen, solange er lebt. Christus ist des Gesetzes Ende – die Erfüllung und das Ende desselben für einen jeden, der glaubt. Wir sind nicht unter dem Gesetz, weil wir mit Christus gestorben und auferweckt sind. Es findet seine Anwendung auf den Menschen im Fleisch; aber wir sind nicht im Fleisch, sondern im Geist, in dem auferstandenen Christus. Der Apostel sagt; „Wenn ihr mit Christus den Elementen der Welt gestorben seid, was unterwerft ihr euch den Satzungen, als lebtet ihr noch in der Welt?“ (Kol 2,20) Im Fleisch muss ein Mensch entweder unter dem Gesetz (und dies ist tatsächlich der Tod und der Fluch, weil das Fleisch sündig ist) oder gesetzlos sein, was sicher nicht besser ist; aber in Christus ist er weder das Eine, noch das Andere. Er wird durch den Geist in den Gehorsam Christi geleitet.
Wir müssen uns indessen erinnern, dass das Reich der Himmel zurzeit, wo der Herr die Bergpredigt hielt, noch nicht gekommen war. Die Erlösung wird darin nicht er wähnt. Das Reich der Himmel war nahegekommen, und der Herr bezeichnet die Charaktere derer, die hineingehen würden; aber Er offenbart nichts von dem, was einem Christen, als zur Kirche gehörend, mitgeteilt ist. Dass dies nicht bloß meine eigenen Gedanken sind, wird dem Leser sofort klarwerden, wenn er die Verse prüft, die der oben angeführten Stelle folgen, wo der Herr die Anwendung von dem gibt, was Er vorhergesagt hat: „Denn ich sage euch: wenn nicht eure Gerechtigkeit vorzüglicher ist denn die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Reich der Himmel eingehen.“ Das Reich der Himmel sollte aufgerichtet werden, doch war es weder für Gesetzlose, noch für Pharisäer, sondern für die Armen Am Geist und ähnliche Personen. Diese Stelle aber enthält keine Beschreibung des Zustandes und der Verantwortlichkeiten derer, die mit Christus gestorben und auferweckt sind. Es ist nicht die Sprache des Evangeliums, zu Sündern zu sagen: „Wenn nicht eure Gerechtigkeit Vorzüglicher ist ... so werdet ihr nicht in das Himmelreich eingehen“, obwohl dies dem Grundsatz nach immer wahr bleibt. Es handelt sich hier um den demütigen, gottesfürchtigen, bekehrten Überrest; dieser, und nicht der Gesetzlose, noch der Stolz wird ins Reich eingehen. Wohl wird bei der Aufrichtung des Reiches den Sündern unumschränkte Gnade verkündigt werden; aber dennoch ist es sicher, dass derjenige, welcher wirklich in dasselbe eingeht, eine praktische Gottseligkeit haben wird, die dem hier beschriebenen Charakter entspricht, weil er eine neue Natur empfangen hat. Auch dienen die hier gegebenen Vorschriften unstreitig zu seiner Leitung und sind ihm angemessen, weil sie Christus angemessen sind und seiner Gesinnung entsprechen, aber sie stellen ihn nicht unter Gesetz. Deshalb ist die Annahme, dass die Worte des Herrn: „Ich bin nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen“, eine an die Christen gerichtete Aufforderung zur Erfüllung des Gesetzes seien, ein falscher Schluss. Die Christen sind mit Christus da vereinigt, wo Er jetzt ist; und der Apostel erklärt ausdrücklich in Römer 10,4: „Christus ist des Gesetzes Ende, jedem Glaubenden zur Gerechtigkeit.“ Nicht als ob das Gesetz selbst abgeschafft sei, aber wir sind nicht unter demselben. Das Gesetz ist gut, wenn es jemand gesetzmäßig gebraucht; aber es ist nicht für Gerechte, sondern für Gottlose und Sünder gegeben, also keinesfalls für den Christen (1. Tim 1,9). Man kann es benutzen, um den Sünder von der Sünde zu überführen, ihn unter das Urteil des Todes und der Verdammnis zu bringen, die Übertretung überströmend und die Sünde überaus sündig zu machen; aber für den Gläubigen ist Christus alles, während jedes Wort Gottes gut ist, wenn es nur richtig angewandt wird.
Sollte jemand fragen: „Hat denn Paulus selbst in 1. Korinther 9,21 nicht gesagt: Ich bin in oder unter dem Gesetz Christi?“ so antworte ich: „Nein, im Griechischen steht nicht: unter dem Gesetz Christi, wie einige übersetzen, sondern Christus gesetzmäßig unterworfen.“ Die Worte in Galater 6,2: „und also erfüllt das Gesetz des Christus“ sind ein klares Zeugnis gegen die Einführung des Gesetzes in Bezug auf die Christen. Die Galater wollten sich dem Gesetz unterwerfen, nachdem sie Christus erkannt hatten; der Apostel aber war entschieden dagegen und wusste kaum, ob er sie noch als Christen anerkennen sollte. Er grüßt sie weder im Anfang noch am Ende des Briefes und behandelt ihren Zustand schärfer als alle die Gräuel in der Versammlung zu Korinth. Wie es scheint, war dieser gesetzliche Zustand der Galater die Ursache, dass sie einander bissen und fraßen (Gal 5,15); und der Apostel ruft ihnen zu: „Einer trage des anderen Last.“ Er sagt gleichsam: Wenn ihr ein Gesetz wünscht, so erfüllt das Gesetz des Christus – tut, was Er tat; das wird euch besser anstehen. Er wollte sie nicht unter das Gesetz zurückführen, sondern gerade das Gegenteil.
Es verrät auch in der Tat eine unvollkommene, eine sehr unvollkommene Einsicht in Bezug auf Christus, wenn man in seinem Wandel nur die Erfüllung des Gesetzes sieht. Gottes Gnade und des Menschen Verpflichtungen, als solche, sind nicht dasselbe; auch beschränkte sich der Gehorsam Christi nicht auf die Erfüllung des Gesetzes, wie ich schon früher bewiesen habe. Letzteres verbot die Sünde; aber es konnte dem Sohn Gottes nicht gebieten, sich für Sünder hinzugeben. Diese ganze Anschauung in Bezug auf das Leben Christi scheint mir eine äußerst oberflächliche zu sein. Wohl ist es wahr, was Jakobus 4,17 steht: „Wer nun Gutes zu tun weiß, und tut es nicht, dem ist es Sünde;“ aber in dem Leben Christi, der für die Seinen starb, sowie in dem Leben dessen, der Ihm nachfolgt – der das Leben für die Brüder lässt – nur die Erfüllung des moralischen Gesetzes zu sehen, ist eine schriftwidrige und traurige Verwirrung der Ausdrücke.
Vielleicht möchte sich jemand auf die Psalmen, wie z. B. auf den 19. und den 119. Psalm berufen, um durch die Art und Weise, in welcher diese vom Gesetz, sowie von der Wonne der Heiligen am Gesetz sprechen, den Ausdruck „moralisches Gesetz“ zu rechtfertigen. Allein die hier beschriebene „Wonne der Heiligen am Gesetz“ scheint mir den stärksten Beweis vom Gegenteil zu liefern. Nach meiner Auffassung will dies viel mehr sagen, als dass das moralische Gesetz eine Lebensregel sei. Im 19. Psalm wird die ganze Kraft des Wortes Gottes hervorgehoben als das Mittel zur Wiederherstellung der Seele und zur Belehrung der Unkundigen. Einige Stellen verweisen auf die Zeit, wo das Gesetz in die Herzen der Kinder Israel eingeschrieben sein wird – das wahre Verlangen eines gottesfürchtigen Israeliten; andere sprechen von dem Vertrauen auf die Verheißungen und von den Drohungen des Wortes Gottes, von seinen Gerichten in der Welt. Vers 8 ist die rechtfertigende Antwort auf den gegen das Wort gerichteten Tadel der Menschen: „Die Befehle Jehovas sind richtig, erfreuend das Herz.“ Kurz, wir haben hier das Wort Gottes als die Zuversicht und den Leiter des Heiligen in Israel, nicht aber als die Lebensregel eines Christen. Das, worauf ich bestehe, ist nicht die Meinung, dass Gott sein Wort jetzt nicht benutzt, um in jeder Weise auf die Seelen zu wirken, sondern dass Er es nicht als Gesetz benutzt. Im 19. Psalm ist nicht von dem Gesetz als Lebensregel die Rede, sondern das Wort Gottes wird dort „Gesetz“ genannt: „Das Gesetz Jehovas ist vollkommen, wiederherstellend die Seele.“ Augenscheinlich spricht diese Stelle von dem damals unter dem Namen „Gesetz“ bekannten Worte Gottes in einem viel weiteren Sinne, als von einer bloßen Lebensregel. Ebenso sagt Christus, indem Er eine Stelle aus den Psalmen anführt (Joh 10,34): „Ist es nicht in eurem Gesetz geschrieben?“ Dieser Ausdruck war die hauptsächliche und charakteristische Bezeichnung, unter welcher das Wort Gottes damals bekannt war (Fortsetzung folgt).