Botschafter des Heils in Christo 1878
"Wir werden verwandelt nach demselben Bild"
Der erste Grundsatz des Christentums stellt, während er die Verantwortlichkeit des Menschen, der für sich selbst Rechenschaft geben soll, auf die feierlichste Weise anerkennt, den Christen auf einen anderen und ganz verschiedenen Boden. Dass es einen Mittler, eine dritte Person, zwischen Gott und dem Menschen gibt, ist der Haupt Grundsatz und die Grundlage aller christlichen Wahrheit. Ein anderer hat sich verantwortlich gemacht; Er hat die Sache des Menschen, der nicht zu Gott kommen konnte, übernommen und eine Annahme für ihn bewirkt.
Als Ergebnis dieser Tatsache werden in 2. Korinther 3 zwei Dinge ins Licht gestellt. „Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“, die Freiheit der Gnade, und wir werden „ein Brief Christi“, nicht (von uns selbst, denn ohne Zweifel sind wir in uns selbst ein recht besudelter Brief) eine Abschrift Christi, „geschrieben mit dem Geist des lebendigen Gottes.“ Dies sind wir, nicht nur sollten wir es sein. Obwohl wir in uns selbst höchst unvollkommen und mangelhaft sind, so sagt doch der Geist von dem Christen, dass er eine Abschrift Christi ist.
Der naturgemäße Gedanke mancher Seele ist nun dieser: „Wenn dem also ist, so weiß ich nicht, was ich von mir denken soll; ich sehe diese Abschrift nicht in mir.“ – „Nein; du hast auch nicht nötig, sie zu sehen. Moses sah sein eigenes Angesicht nicht strahlen; er sah Gottes Angesicht strahlen, aber in Bezug auf sein eigenes sahen es andere.“
Die Herrlichkeit Jehovas, so wie sie in Moses Angesicht gesehen ward, erschreckte das Volk; sie konnten jene Herrlichkeit nicht ertragen. Jetzt aber sehen wir dieselbe mit „aufgedecktem“, unverhülltem „Angesicht“ in Christus (V 18) und sind doch nicht im Geringsten erschrocken. Wir finden Freiheit, Trost und Freude in ihrem Anschauen; wir betrachten sie, und anstatt uns zu fürchten, freuen wir uns. Woher kommt dieser so große Unterschied? Es ist „der Dienst des Geistes“ (V 8) und „der Gerechtigkeit“ (V 9). Ich sehe den lebendigen Christus in der Herrlichkeit; nicht Christus hienieden (so köstlich dies auch war), sondern Christus zur Rechten Gottes; und obwohl diese Herrlichkeit in den Himmeln ist, so kann ich sie dennoch unverrückt anschauen. All diese Herrlichkeit (und Er ist inmitten der Herrlichkeit und Majestät des Thrones Gottes) erschreckt mich nicht, weil diese wundervolle Wahrheit hinzukommt, dass diese Herrlichkeit Gottes im Angesicht eines Menschen ist, der meine Sünden getilgt und zum Beweis dieser Tatsache jenen Platz eingenommen hat (Heb 1,3). Ich würde mich vor seiner Stimme gefürchtet und gleich den Kindern Israel gesagt haben: „Lass Gott nicht mit mir reden“ (2. Mo 20,19), oder gleich Adam mit schuldbeladenem Gewissen versucht haben, mich zu verbergen (1. Mo 3,8). Jetzt aber spreche ich nicht also; im Gegenteil, lasst mich seine Stimme hören. Ich kann die Herrlichkeit Christi jetzt nicht sehen, ohne zu wissen, dass ich errettet bin. Wie kommt es, dass Er jetzt dort zur Rechten Gottes ist? Er ist ein Mensch, der hienieden mit Zöllnern und Sündern verkehrte – Er war der Freund von solchen Menschen, und solche wählte Er zu seinen Gefährten. Er ist ein Mensch, welcher der Sünde wegen den Zorn Gottes erduldet hat; Er ist ein Mensch, der meine Sünden an seinem Leib auf das Holz getragen hat; (ich rede die Sprache des Glaubens) Er ist dort, als der, welcher hienieden inmitten der Umstände war und dem die Sünde zugerechnet wurde, und doch sehe ich gerade in seinem Angesicht die Herrlichkeit Gottes. Ich sehe Ihn dort in Folge der Hinwegnahme meiner Sünde, weil Er meine Erlösung vollbracht hat. Ich könnte Christus in der Herrlichkeit nicht sehen, wenn noch eine Spur oder ein Flecken von Sünde zurückgeblieben wäre. Je mehr ich die Herrlichkeit sehe, desto mehr sehe ich die Vollkommenheit des von Christus vollbrachten Werkes und der Gerechtigkeit, in welcher ich angenommen bin. Jeder Strahl dieser Herrlichkeit wird im Angesicht dessen gesehen, der meine Sünden als seine eigenen bekannt hat und für sie am Kreuz gestorben ist – im Angesicht dessen, der Gott auf Erden verherrlicht und das Werk vollbracht hat, das Ihm vom Vater zu tun gegeben war. Die Herrlichkeit, die ich sehe, ist die Herrlichkeit der Erlösung. Weil Er hinsichtlich der Sünde Gott auf der Erde verherrlicht hat – „ich habe dich verherrlicht auf der Erde, das Werk habe ich vollbracht, welches du mir gegeben hast, dass ich es tun sollte“ (Joh 17,4), – so hat Gott Ihn bei sich selbst droben verherrlicht.
Wenn ich Ihn in jener Herrlichkeit sehe, so sehe ich, anstatt meiner Sünden, die köstliche Tatsache, dass sie nicht mehr vorhanden sind. Ich weiß, dass meine Sünden auf den Mittler gelegt, dass sie auf dem Kopf des Bockes Asasel bekannt und weggetragen worden sind (3. Mo 16). Gott ist hinsichtlich meiner Sünden in so vollkommener Weise verherrlicht worden, (d. h. durch das, was Christus für meine Sünden getan hat) dass gerade dieses Christus das Recht verschafft hat, zur Rechten Gottes zu sein. Ich fürchte mich nicht, Christus dort anzuschauen. Wo sind meine Sünden jetzt? Wo sind sie zu finden? Im Himmel oder auf Erden? Ich sehe Christus in der Herrlichkeit. Einst wurden sie auf dem Haupt dieses Gesegneten gefunden; aber sie sind verschwunden und nie mehr zu finden. Würde ich, umso zu sprechen, einen toten Christus sehen, so könnte ich befürchten, dass meine Sünden wieder gefunden würden; da aber Christus in der Herrlichkeit lebt, so sucht man vergebens. Er, der sie alle getragen, ist zum Thron Gottes aufgenommen worden, und dort kann keine Sünde sein; und die praktische Folge davon ist, dass ich in sein Bild verwandelt bin. „Wir alle aber, mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anschauend, werden verwandelt nach demselben Bilde von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, als durch den Herrn, den Geist.“ Der Heilige Geist nimmt die Dinge Christi und offenbart sie der Seele: das ist die Kraft der gegenwärtigen praktischen Gleichförmigkeit mit Christus. Ich habe meine Wonne an Ihm; ich nähre mich von Ihm; ich liebe Ihn. Diese Offenbarung Christi durch den Heiligen Geist ist für meine Seele das Muster und bildet sie Christus gemäß. Nicht nur lerne ich die Herrlichkeit lieben, sondern ich liebe Christus selbst; Ihn bewundere ich, an Ihm habe ich meine Wonne, sein Fleisch esse ich, sein Blut trinke ich, – hat man sich da zu wundern, dass ich Ihm gleich bin? Auf diese Weise wird der Christ ein Brief Christi; er redet für Ihn, er erkennt Ihn an, er handelt für Ihn. Er trachtet nicht danach, reich zu werden; er besitzt Reichtümer in Christus, unausforschliche Reichtümer. Er hat kein Verlangen nach den Vergnügungen der Welt; er „hat Lieblichkeiten zur Rechten Gottes immerdar.“
Sagt dein Herz noch: „Ach, ich sehe diese Abschrift nicht in mir und kann sie nicht sehen.“ Es ist wahr, aber du siehst Christus, und ist das nicht besser? Das von Gott bestimmte Mittel meines Wachstums zur Ähnlichkeit Christi ist nicht, dass ich auf mich selbst, sondern dass ich auf Christus blicke. Wenn ich das Werk eines großen Künstlers nachbilden will, wird es mir gelingen, wenn meine Augen stets auf meine Kopie gerichtet sind, und ich mich im Bedauern über den verfehlten Versuch verliere? Gewiss nicht; wohl aber wenn ich auf mein Vorbild blicke, wenn meine Augen darauf gerichtet bleiben, wenn ich den verschiedenen Punkten nachspüre und in den Geist der Sache eindringe. Welch ein Trost ist das! Da der Heilige Geist meiner Seele Christus in der Herrlichkeit als die Versicherung meiner Annahme offenbart hat, so kann ich diese Herrlichkeit ohne Furcht und darum unverwandt und unverhüllt anblicken und der Fülle ihres Glanzes mich erfreuen. Stephanus (Apg 7), der voll des Heiligen Geistes war, konnte unverwandt gen Himmel schauen (ohne Zweifel geschah es bei ihm mit mehr als gewöhnlicher Kraft), und die Herrlichkeit sehen und Jesus, stehend zur Rechten Gottes; und sein Angesicht leuchtete wie das Angesicht eines Engels. Betrachten wir sein Sterben, so sehen wir, dass er gleich seinem Meister für seine Mörder betet. Stephanus starb, indem er sagte: „Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht zu.“ Christus sprach sterbend: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Wir sehen in ihm den Ausdruck der Liebe Christi zu seinen Feinden. Durch den Heiligen Geist war er, und zwar auf eine sehr gesegnete Weise, in dasselbe Bild verwandelt.
Die Seele, in Bezug auf Gott in völliger Freiheit, blickt voll Friede und Glück auf die Herrlichkeit Gottes im Angesicht Jesu Christi, und weil sie diese Herrlichkeit sieht und ihren „Abdruck“ kennt (Heb 1,3), so wandelt sie in heiligem Vertrauen vor Gott. Anstatt bei Satan und in der Welt Satans glücklich und frei zu sein, hat der Christ einen Abscheu vor Satan, weil er sich selbst kennt. Voll von Ruhe in der Gegenwart Gottes, wird er erfüllt mit der Gesinnung, die dieser Gegenwart entspricht, und wird der „Brief Christi“ für die Welt, indem er allen, gegenüber kundgibt, dass er dort gewesen ist. Welch ein Unterschied ist das! Mochten wir uns immer mehr seiner rühmen, in dessen Angesicht all diese Herrlichkeit entfaltet ist – des Lammes, das für uns gestorben und das uns mit seinem eigenen, kostbaren Blut von unseren Sünden gereinigt hat! J. N. D.