Botschafter des Heils in Christo 1878
Das Buch der Erfahrung - Teil 1/5
Kapitel 1
In dem Brief an die Epheser, sowie in derjenigen an die Kolosser zeigt uns Gott unseren Platz mit Christus; in dem Brief an die Philipper hingegen sehen wir den Gläubigen durch diese Welt gehen, als Christ in derselben wandeln. Es handelt sich darin nicht um Lehre, sondern wir sehen den Gläubigen in der Kraft des Geistes Gottes dem Kampfpreis entgegeneilen: denn das wahre Kennzeichen des Christen ist, dass er den Wettlauf ganz und gar in dieser Kraft des Geistes vollbringt. Daher wird in diesem Brief nicht von der Sünde gesprochen – das Wort „Sünde“ kommt nicht ein einziges Mal vor – auch nicht vom Kampf im eigentlichen Sinn des Wortes. Nicht als ob der, welcher läuft, den Preis schon erlangt habe, aber er tut stets nur eins: er jagt in der Kraft des Geistes Gottes hin zu dem Kampfpreis. Er hat ihn noch nicht ergriffen, jedoch sein einziges Bestreben ist, ihm entgegen zu eilen. Er ist über alles erhaben, was in ihm und was in der Welt ist, ja völlig erhaben über alle Umstände.
Der Brief an die Philipper ist der Brief der Erfahrung, aber einer Erfahrung gemäß der Kraft des Geistes Gottes. Wir lernen in derselben, dass, obgleich wir fehlen, es dennoch möglich ist, in der Kraft des Geistes Gottes zu wandeln – nicht als ob das Fleisch verändert sei, oder man dem Gedanken Raum geben dürfe, das Ziel sei erreicht (denn hienieden gibt es keine Vollkommenheit); wohl aber ist es möglich, stets in einer Weise zu handeln, die mit unserer Berufung, Christus in der Herrlichkeit zu erreichen, übereinstimmt. Da gibt es kein Streben nach stufenweisen Fortschritten in der Welt; der Christ wird betrachtet als erhaben über jede Art von Umständen, Widerwärtigkeiten und Schwierigkeiten, er sieht seinen Pfad über diesem allem.
Das Vorhandensein eines Pfades für uns beweist, dass wir den Ort, wohin Gott den Menschen gestellt, verlassen haben; der Pfad zeigt an, dass wir nicht daheim sind. Es ist gesegnet, in der Wüste einen Weg zu haben, und dieser Weg ist selbstredend Christus. Adam bedurfte keinen Weg; er hätte ruhig in Eden bleiben können, wenn er Gott gehorsam gewesen wäre. Wir aber sind von Ägypten ausgezogen und noch nicht in Kanaan angelangt, wir eilen dem Ziel entgegen. Zahllose Dinge kommen auf dem Weg zum Vorschein; das Einzige jedoch, was uns zu tun obliegt, ist zu laufen. Bei jedem Schritt gewinnen wir mehr von Christus, so wie wir von einer Lampe, die am Ende eines langen Weges brennt, immer mehr Licht empfangen, je näher wir kommen: die Lampe selbst haben wir nicht erreicht, wohl aber nimmt das Licht derselben für uns mit jedem Schritt zu. Wir sind von der Herrschaft des eignen Ichs gänzlich befreit und werden durch einen Beweggrund geleitet, der über den Umständen steht, so dass dieselben, obgleich wir nicht unempfindlich gegen sie sind, keinen Einfluss auf uns ausüben.
„Ich danke meinem Gott bei aller meiner Erinnerung an euch, indem ich allezeit in jeglichem meiner Gebete für euch alle das Gebet mit Freuden tue wegen eurer Teilnahme an dem Evangelium von dem ersten Tag an bis jetzt“ (V 3). Die Philipper hatten regen Anteil am. Evangelium genommen und ein liebendes Herz gezeigt. Wie unaufhörlich war der Apostel im Flehen für sie alle! So oft er betete, erwähnte er ihrer. Er trug die Versammlung Gottes auf dem Herzen und ebenso jeden einzelnen Heiligen. Er dachte an all das Gute unter ihnen und dankte Gott dafür. Welch ein Interesse hatte er für die Heiligen! Stets waren seine Gedanken mit ihnen beschäftigt. Sogar zu den Korinthern sagt er: „Ich danke meinem Gott allezeit euretwegen“ (1. Kor 1,4).
Woran Christus denkt, daran sollten auch wir denken. Wenn Christus mein Leben und durch den Geist die Quelle meiner Gedanken ist, so werde ich in allen Dingen seine Gedanken haben; denn alsdann ist das vorhanden, was Christus angemessen ist. Ich habe mich inmitten der Umstände so zu verhalten, wie Christus sich verhalten würde: das ist das christliche Leben. Es ist nie notwendig für uns, irgendetwas Böses zu tun – nie notwendig, irgendwie nach dem Fleisch zu handeln; wenn auch das Fleisch vorhanden ist, warum sollte ich meine Gedanken durch dasselbe leiten lassen? Ich werde es nicht tun, wenn ich mit Christus erfüllt bin, denn Er ist es, der mir die Gedanken einflößt.
Wenn ich in den Sinn und in die Gedanken Christi eingegangen bin, so werde ich nicht ertragen können, in den Heiligen Böses zu erblicken; ich wünsche sie Christus ähnlich zu sehen. Christus wirkt jetzt in den Herzen der Heiligen – „auf dass er sie heiligte, sie reinigend durch die Waschung mit Wasser durch das Wort“ (Eph 5,26), – und es geziemt mir, mit Ihm in demselben Geist zu wandeln; aber dies vermag ich nur dann, wenn bei mir selbst alles in Ordnung ist. Christus gibt sich zuerst selbst für die Seinen hin, und dann ist Er damit beschäftigt, sie zu reinigen und so darzustellen, wie Er sie haben will; das sollten auch unsere Herzen durch die Fürbitte zu tun begehren. Die Kraft dazu ist reichlich vorhanden, obwohl unser Standpunkt ein höchst niedriger ist. Der Herr kann seine Gnade jetzt ebenso sehr entfalten, wie in den herrlichsten Tagen des Apostels. Zurzeit, da man David nachjagte „wie einem Rebhuhn auf den Bergen“, gab es viel mehr Ursache zur Freude als inmitten all der Herrlichkeit Salomos: in den Tagen der Leiden Davids war die Macht des Glaubens vorhanden. Wir sollen mit allen Heiligen „völlig erfassen“ (Eph 3,19). Wir schmälern unsere Segnung, wenn wir nicht alle einschließen. Wir sind mit Christus dazu befähigt, und wenn wir mit Ihm wandeln, so müssen wir ihretwegen in Frieden sein. Die Fürbitte für die Heiligen befähigt denjenigen, der sie ausübt, alles Gute zu sehen, das in ihnen ist. Dies beweisen uns die Briefe, mit Ausnahme derjenigen an die Galater, in welcher der Apostel nicht von dem spricht, was er loben konnte. Er greift hier von vorn herein das Böse an, weil die Galater sich von der Grundlage des Christentums abwandten. Würden wir mehr für die Heiligen beten, so würden wir mehr Freude an ihnen haben, und unser Mut in Betreff ihrer würde zunehmen. Es ist immer verwerflich, wenn wir hinsichtlich der Heiligen den Mut verlieren, wiewohl es möglich ist, dass wir in die Lage des Propheten Jeremias kommen, zu welchem der Herr sprach: „Bitte nicht für dieses Volk“ (Kap 7,16). Der Herr ist stets gegenwärtig, und an seiner Liebe wird es nie fehlen; wir dürfen daher mit Freude, Trost und Mut auf dieselbe rechnen. Selbst nachdem der Apostel zu den Galatern gesagt hatte: „Ich bin euretwegen in Verlegenheit“, fügte er, indem er sogleich seinen Blick auf Christus richtete, hinzu: „Ich habe Vertrauen zu euch im Herrn“ (Gal 4,20; 5,10). Er sah die Heiligen unter dem sorgsamen Auge Christi, der stets bereit war, sie zu segnen. In wie weit betrachten wir alle Heiligen mit dem Herzen Christi und sind also getröstet und ermuntert, weil wir wissen, dass dort Gnade genug für sie vorhanden ist? „Indem ich eben dessen in guter Zuversicht bin, dass der, welcher in euch angefangen hat ein gutes Werk, es vollführen wird bis auf den Tag Jesu Christi“ (V 6); und wie wir weiter unten lesen: „damit ihr tadellos und lauter seid, unbescholtene Kinder Gottes ...“
„Weil ihr mich im Herzen habt und sowohl in meinen Banden als in der Verantwortung und Bestätigung des Evangeliums ihr alle meine Mitteilhaber der Gnade seid“ (V 7). Wir fühlen nur sehr schwach, wie wirklich die Einheit des Geistes ist; wir haben die Verwirklichung derselben in hohem Grad verloren, wiewohl wir sie als eine Wahrheit anerkennen. Es ist eine Einheit durch eine lebendige Macht, die sich in jedem Heiligen findet, so dass, wenn ein Glied leidet, die anderen Glieder nicht nur mitleiden sollen, sondern notwendigerweise mitleiden. Der Leib mag in einem solch unempfindlichen Zustand sein, dass er nur sehr wenig fühlt; und doch, angenommen der Heilige Geist wäre in Indien sehr wirksam, würden dadurch nicht die Heiligen hier in Europa belebt werden? Ebenso verhielt es sich in Bezug auf Paulus: als die Heiligen für ihn beteten und Gott ihn stärkte, stieg Lob und Dank aus aller Mund empor (vgl. auch 2. Kor 1,11). – Die Wirksamkeit des Heiligen Geistes übt ihren gesegneten Einfluss auf alle Hörenden aus. Als aber der Apostel sagen musste: „Alle haben mich verlassen“, (zwar hatten sie nicht Christus verlassen, allein es fehlte ihnen der Mut, sich der Gefahr preiszugeben) da setzte er seinen Weg allein fort. Wir wissen gar wohl, dass wenn unser Körper einen Schmerz empfindet, alle unsere Nerven darunter leiden; wir können nicht so gut arbeiten wie sonst. Es kann sogar eine Lähmung unserer Geistesnerven eintreten, so dass wir beinahe alles Gefühl verloren haben, aber gänzlich kann dieses nicht zerstört werden.
Im 8. Verse gelangen wir zu dem der Brief eigentümlichen Charakter. Der Apostel war nicht vergesslich; er erinnert sich eines jeden, wenn auch noch so geringen Beweises der Liebe gegen ihn und sieht in seinen Gebeten, dass sie alle Erkenntnis und geistliche Einsicht erlangen möchten, um das zu tun, was sich zu tun geziemte – um zu verstehen, worin sich ein Ding vom anderen unterschied – damit sie Kenner des christlichen Pfades würden, indem sie nicht nur nicht in Sünde fielen, sondern die nötige Einsicht hätten, um in den vorliegenden Umständen gerade das Richtige zu tun; denn unser Maßstab ist die Befriedigung des Herzens Christi, und es geziemt uns nicht, bei dieser oder jener Sache zu sagen: „Ich sehe nichts Böses darin.“ Der Apostel wünschte, dass die Philipper die Dinge jetzt so unterschieden, wie sie am Tag Christi im Licht erscheinen werden. Er sagt mit anderen Worten: „Ich wünsche, dass ihr an den Herrn Jesus denkt und wisst, was sein Herz erfreut.“ Denn alsdann genießt man durch die wirksame Energie des Geistes Gottes die Wonne, Christus zu gefallen, und man erfreut sich an den Dingen, die vor Ihm so wohlgefällig sind.
Beachten wir ferner, wie Paulus über den Prüfungen seiner vierjährigen Gefangenschaft (er war zwei Jahre in Cäsarea und zwei in Rom) erhaben ist: „Ich will aber, dass ihr wisst, Brüder, dass meine Umstände mehr zur Förderung des Evangeliums geraten sind.“ Er hätte sagen können: Wäre ich nicht nach Jerusalem gegangen, hätte ich dort den Juden, die mich veranlassten, dieses und jenes zu tun, nicht Gehör gegeben, so könnte ich noch frei umhergehen und das Evangelium predigen. Doch er spricht nicht so, und ich möchte bei dieser Gelegenheit bemerken, dass nichts törichter ist als auf Nebenursachen zu blicken. Es ist wohl möglich, dass wir nicht weise gehandelt haben; allein derjenige, welcher über den irdischen Dingen lebt, weiß, dass alle Dinge uns zum Guten mitwirken müssen: „Ich weiß, dass mir dies zur Seligkeit ausschlagen wird durch euer Gebet und durch Darreichung des Geistes Jesu Christi.“ Wir lernen hieraus ferner, dass es eine wachsende Tätigkeit und Energie des Geistes Gottes gibt, welche der Apostel „die Darreichung“ nennt, so dass, wenn wir auch nicht eine abermalige Ausgießung des Heiligen Geistes in der Weise erwarten können, wie sie bereits stattgefunden hat, wir dennoch auf die Darreichung des Geistes und auf seine durch das Wort dienende Gnade rechnen dürfen und sollen (Fortsetzung folgt).