Botschafter des Heils in Christo 1877
Ein Wort über den freien Willen
Die Lehre von dem freien Willen ist ganz in Übereinstimmung mit den Anmaßungen des natürlichen Menschen, der sein gänzliches Verlorensein leugnet. Alle Menschen, welche keine tiefe Überzeugung von Sünde gehabt haben, und alle, bei denen diese Überzeugung eine Folge grober, äußerer Sünden ist, glauben sämtlich mehr oder weniger an einen freien Willen. Es ist dieses die Lehre der Wesleyaner oder Methodisten, die Lehre aller Philosophen: sie verändert den Haupt– und Grundsatz des Christentums und wirft ihn ganz über den Haufen.
Da Christus gekommen ist, um das Verlorene zu retten, so bleibt für den freien Willen kein Platz mehr übrig. Dieses soll indessen nicht heißen, dass Gott den Menschen verhindere, Christus anzunehmen; im Gegenteil setzt Er alle nur möglichen Mittel in Bewegung, um denselben zu Christus zu bringen. Aber selbst wenn Gott sich all dieser Mittel bedient und alles anwendet, was irgendwie Einfluss ausüben kann auf das Herz des Menschen, so dient dieses doch zu nichts anderem, als ans Licht zu stellen, dass der Mensch von diesem allem nichts wissen will, dass sein Herz so verdorben ist und sein Wille so entschieden dem Willen Gottes entgegensteht, dass nichts ihn bewegen kann, den Herrn anzunehmen und sich von der Sünde loszusagen. Wenn man unter dem freien Willen versteht, dass niemand den Menschen zwinge, den Herrn zu verwerfen, so hat man Recht. Aber wenn man damit andeuten will, dass der Mensch das Vermögen besitze, um zwischen dem Guten und Bösen zu wählen, so täuscht man sich über alle Maßen. Nein, der Mensch, der unter der Herrschaft der Sünde und mutwillig ein Sklave derselben ist, kann unmöglich seinen Zustand verlassen und dem Guten nachjagen, „weil die Gesinnung des Fleisches Feindschaft ist gegen Gott; denn sie ist dem Gesetz Gottes nicht untertan; denn sie vermag es auch nicht. Die aber, welche im Fleisch sind, können Gott nicht gefallen“ (Röm 8,7–8).
Und hiermit berühren wir den Grund der Frage: Wird der alte Mensch unterwiesen, verändert und geheiligt? Oder empfangen wir, um errettet zu werden, eine neue Natur? Die Schrift lehrt uns das Letztere. Der Mensch will das Erstere, indem er meint, durch Christus in seiner Stellung als Kind Gottes wiederhergestellt zu werden. Doch das ist keine Erlösung. Die Methodisten lehren solches. Sicher, es sind wahre Gläubige unter ihnen; und diese werden, trotz ihrer Lehre, durch Gott dazu gebracht zu fühlen, dass sie außer Christus verloren sind und erlöst werden müssen. Jedoch sind auch diese durch ihre Sucht, die Glieder ihrer Partei zu vermehren – eine Mischung von Liebe und von der natürlichen Gesinnung des Herzens – sowie durch ihr Vertrauen auf ihre eigene Kraft und durch ihre Furcht vor der unvermischten Gnade sehr von ihrer Lehre eingenommen und leugnen die gänzliche Verdorbenheit des Menschen.
Was mich betrifft, so sehe ich in der Schrift und erkenne in mir selbst den vollkommenen Fall des Menschen. Ich sehe, dass das Kreuz das Ende all jener Mittel ist, deren sich Gott bediente, um das Herz des Menschen zu gewinnen, und die den unwiderlegbaren Beweis geliefert haben, dass das menschliche Herz für Gott verschlossen ist. Gott hat alle seine Mittel erschöpft; und der Mensch hat gezeigt, dass er unverbesserlich schlecht ist. Das Kreuz Christi verurteilte den Menschen. Da diese Verurteilung indessen in der Art stattgefunden hat, dass ein anderer sie unverdienter Weise auf sich genommen, so bietet sie die Erlösung allen an, welche glauben. Für uns, die Glaubenden, liegt das Gericht, der Lohn der Sünde, hinter uns; das Lehen durch die Auferstehung ist die Folge davon. „Wir sind der Sünde gestorben, Gott aber lebend in Christus Jesus, unserem Herrn.“ Wenn man diese Wahrheit in Bezug auf den alten Menschen nicht festhält, so verliert das Wort Erlösung seine Kraft. Wenn man an eine Veredlung oder Verbesserung der alten Natur, an eine praktische Befreiung von einem moralischen Zustand denkt, so ist das keine Erlösung durch das vollbrachte Werk eines Anderen. Das Christentum lehrt den Tod des alten Menschen und dessen gerechte Verurteilung, und dann die durch Christus zuwege gebrachte Erlösung, sowie ein neues Leben, das ewige Leben, welches in seiner Person aus dem Himmel herniedergekommen ist und uns, wenn Christus durch das Wort Wohnung in uns zu machen beginnt, mitgeteilt wird. Die Pelagianer behaupten, dass der Mensch wählen könne, und dass, wenn dieses geschehen, der alte Mensch verbessert werde durch die Sache, welcher er sich angeschlossen habe. In diesem Fall aber würde der erste Schritt ohne die Gnade stattfinden: und es ist der erste Schritt, worauf hier alles ankommt.
Ich glaube, dass wir uns am Wort halten müssen. Jedoch möchte ich noch die Behauptung hinzufügen, dass die Lehre vom freien Willen, aus einem philosophischen und moralischen Gesichtspunkte betrachtet, eine falsche und ungereimte Theorie ist. Freier Wille ist ein Zustand der Sünde. Der Mensch muss keinen freien Willen haben und keine Wahl treffen wollen. Er muss gehorchen und im Frieden Gott genießen. Es muss seine Freude sein, in der Abhängigkeit Gottes zu leben. Es ist ein Zustand der Sünde, wenn er, getrennt vom Guten, wählen muss. Und überhaupt, wenn er das Gute wählen muss, so beweist dieses, dass er es nicht besitzt. Er befindet sich, solange er noch keinen Entschluss gefasst hat, außerhalb dessen, was in sich selbst gut ist. Jedoch ist es eine Tatsache, dass der Mensch geneigt ist, dem Bösen zu folgen. Welch eine Grausamkeit, dem Menschen, der sich bereits dem Bösen zugewandt hat, Pflichten vorzuschreiben! Philosophisch gesprochen, würde er gleichgültig sein müssen; denn anders hat er, was sein Wille betrifft, bereits gewählt. Doch wenn er vollständig gleichgültig ist, was wird ihn dann zu einer Wahl bestimmen? Ein Geschöpf muss einen Beweggrund haben; und einen solchen hat der Mensch nicht, wenn er gleichgültig ist. Ist er aber nicht gleichgültig, so hat er bereits gewählt.
Im Paradies war der Mensch frei; jedoch damals war er im Genüsse dessen, was gut war. Und wie gebrauchte er seinen Willen? Er übertrat das Gebot Gottes und wurde ein Sünder. Sobald er seine Abhängigkeit von Gott verlor, wurde er ein Knecht der Sünde. Er hat einen Willen und Begierden, und diese leiten ihn zu allem, was böse ist. Am Guten hat er kein Wohlgefallen. Gott hat ihn in jeder nur möglichen Weise auf die Probe gestellt und ihm die Wahl überlassen; jedoch keineswegs, weil er wählen kann, sondern um sein Gewissen von der Tatsache zu überzeugen, dass er in keinem einzigen Fall an dem Guten oder an Gott ein Wohlgefallen habe. Es ist in der deutlichsten Weise erwiesen, dass der Mensch ein Feind Gottes ist. J. N. D.