Botschafter des Heils in Christo 1877
Der Morgenstern
Viermal lesen wir im Wort Gottes vom Morgenstern, und zwar in Jesaja 14,2. Petrus 1; Offenbarung. 2 und 22. Die erste dieser angegebenen Stellen steht, wie wir deutlich wahrnehmen können, im Gegensatz zu den drei letzten; es ist darin nicht von Christus, sondern von seinem Widersacher die Rede. In den drei anderen Stellen wird uns Jesus als der Morgenstern, der in himmlischer vollkommener Gnade einst erscheinen wird, dargestellt und Zugleich als der Herr offenbart, der alle Rechte über alle Dinge besitzt.
Dies ist von großer Bedeutung für uns, weil seine Anerkennung als „Herr“ Einfluss hat auf unseren Wandel und denselben so zu sagen bildet. Ich kann die vollkommene Gnade kennen und dennoch schlecht wandeln, wenn ich nicht verstehe, dass mein Heiland Zugleich auch mein Herr ist. Wenn verstanden wird, dass Christus nicht nur Heiland, sondern auch Herr ist und demgemäß alle Rechte auf uns hat, so begreift man auch, dass der eigene Wille nicht ausgeübt werden darf, sondern dass man dem, welcher Herr ist, Gehorsam zu leisten verpflichtet ist. Diese beiden Wahrheiten: die vollkommene Gnade in Jesu als Heiland, und seine vollkommenen Rechte als Herr, können nicht getrennt werden; sie gehen zusammen. Jesus wird nie die Vollkommenheit seiner Gnade schwächen zum Nachteil seiner Rechte, noch wird Er sich jemals seine Rechte zum Nachteil seiner Gnade schmälern lassen.
In manchen Stellen der Schrift finden wir diese kostbare Wahrheit dargestellt. Aus den vielen Beispielen will ich nur einige hervorheben. In Lukas 10,9 sagt Jesus: „Heilt die Kranken“, – das ist Gnade; aber Er fährt weiter fort: „Sprecht: Das Reich Gottes ist nahe zu euch gekommen“, – dies drückt die Rechte seiner Person aus. Er ist es, der dieses Reich antreten wird, Er ist der König desselben. In Apostelgeschichte 20 finden wir ähnliches in der Rede des Paulus an die Ältesten zu Ephesus: „Ich achte nichts, noch halte ich mein Leben für mich selbst teuer, auf dass ich meinen Lauf mit Freuden vollende und den Dienst ... zu bezeugen das Evangelium der Gnade Gottes.“ Dann sagt er: „Und nun siehe, ich weiß, dass ihr alle, unter welchen ich, das Reich Gottes predigend usw.“ Wir sehen, dass sein Dienst diese zwei Seiten hat: die Verkündigung der Gnade Gottes und die Verkündigung des Reiches Gottes.
Ebenso sagt Paulus in Römer 1, er sei berufener Apostel, „abgesondert zum Evangelium Gottes“, und später, er habe empfangen Gnade und Apostelamt für seinen Namen „zum Glaubensgehorsam“ unter all den Nationen. Im „Evangelium Gottes“ sehen wir die Person Christi als Heiland, im „Glaubensgehorsam“ haben wir Ihn als Herr, dem sich alles zu unterwerfen hat. –
Ich sage, dass diese Seite der Wahrheit, die uns Jesus als Herrn in seinen Rechten zeigt, für uns von höchster Bedeutung ist. Nicht als ob ich irgendwie die Gnade in ihrer Vollkommenheit schwächen wollte. Keineswegs! Ich lasse sie an ihrem Platz. Auch will ich nicht unverständliche, neue und hohe Dinge lehren, sondern so einfach als möglich bleiben; aber ich wünsche, dass wir auch diese Seite der Wahrheit, nämlich dass Jesus Herr ist und demzufolge alle Rechte über uns hat, verstehen und beherzigen möchten. Wenn der Apostel z. B. sagt: „Alles, was immer ihr tut, alles tut im Namen“ – – in welchem Namen? Sagt er: im Namen des Heilands? Nein, sondern: „Alles tut im Namen des Herrn Jesus.“ Jesus hat nicht nur Gnade gebracht, Er ist auch unser Herr, dem wir unterworfen sind und dessen Rechte sowohl als dessen Gnade wir anerkennen und festhalten sollen. Wenn ich mich müde fühle und ich will nach meiner Wahl der Ruhe pflegen, so vollbringe ich das, was ich will, meinen eigenen Willen: weiß ich aber, dass ich mir nicht selbst angehöre, dass ich im Dienst des Herrn stehe, so werde ich fragen: „Was willst du, dass ich tun soll?“
Ich habe gesagt, dass diese zwei Seiten der Wahrheit, seine Gnade und seine Rechte, uns auch in den drei angeführten Stellen, welche vom Morgenstern sprechen, gezeigt werden.
Wir sehen in 1. Petrus 1, dass, bevor vom Morgenstern etwas gesagt wird, der Apostel vom Herrn redet, wie er Ihn und die mit Ihm waren, gesehen habe in der Herrlichkeit seines Reiches. Durch das, was sie sahen, wurde ihnen das prophetische Wort, welches von seinem Reich, seiner Macht und Herrlichkeit spricht, befestigt. Jesus ist der Mittelpunkt aller Prophezeiungen. Alle Verheißungen hinsichtlich dieses Reiches und seiner Herrlichkeit werden in Ihm und durch Ihn ihre Erfüllung finden.
In Offenbarung 2 finden wir wieder diese Seite der Wahrheit bestätigt. Bevor es heißt: „Ich will ihm den Morgenstern geben“, sagt der Herr: „Wer überwindet und meine Werke bewahrt bis ans Ende, dem will ich Gewalt geben über die Nationen, und er wird sie weiden mit eiserner Rute, wie Töpfergefäße Zerschmettert werden usw.“ Jesus wird nach Psalm 2 die Nationen zum Erbteil haben und zum Besitztum die Enden der Erde. Mit eisernem Zepter wird Er sie zerschmettern, wie Töpfergefäße sie zerschmeißen. Er ist der Herr, dem alles angehört, und Er wird denen, die überwinden, auch Teil an seiner Regierung geben.
In Offenbarung 22 sehen wir den, der sich als glänzender Morgenstern vorstellt, zuerst sich nennen: „Wurzel und Geschlecht Davids.“ Er ist nicht nur von David entsprossen, sondern ist selbst die Wurzel, aus welcher David hervorgegangen ist. Als solcher wird Er das Reich Davids einst in Besitz nehmen.
Wenn der Herr Jesus in der Vollkommenheit seiner himmlischen Gnade für die Seinen kommt, dann bringt Er den Tag der Offenbarung dieser himmlischen Gnade; da wird keine Frage hinsichtlich unseres Wandels erhoben werden. Kommt Er aber für die Welt, redet das Wort Gottes von der Erscheinung Christi, so ist Zugleich von unserer Verantwortlichkeit die Rede. Es ist nicht der Heiland, der bei seiner Erscheinung die Krone der Gerechtigkeit geben wird, sondern der „Herr, der gerechte Richter“ wird sie geben.
Das Teil des auf der Erde pilgernden Christen ist, wie wir aus 2. Petrus 1 sehen, nicht sowohl die Lampe, das prophetische Wort, sondern besonders der Morgenstern. Das prophetische Wort ist die Lampe, welche leuchtet in einem dunklen Ort. Um die Gegenstände in einem dunklen Zimmer zu erkennen, bedarf es einer Lampe. Das prophetische Wort ist diese Lampe für die Finsternis dieser Welt. Will ich in Bezug auf das, was mit dieser Welt geschieht, Licht haben, so greife ich zu dem prophetischen Wort. Der Christ aber hat mehr als dieses, er ist nicht in dem dunklen Zimmer, er ist außerhalb desselben und hat den Morgenstern. Er sieht in seinem Herzen durch den Glauben, da die Nacht weit vorgerückt ist, den Aufgang des Morgensterns. Als ich vor mehreren Jahren mich auf einer Reise befand, musste ich einmal mit der Eisenbahn eine Nacht durchfahren. Es war eine klare Sommernacht. Nachdem die Mitternachtsstunde vorüber war, sah ich plötzlich über den Bergen den prächtigen Morgenstern aufgehen in einem Glänze, der die ganze Gegend erhellte, fast wie das Licht des Mondes. Wer dieses nie gesehen, macht sich kaum einen Begriff von der Schönheit, der Pracht und dem Glanz dieses Sternes. Nun, auch wir sind über die Mitternachtsstunde hinüber; wenigstens ist der Ruf der Mitternachtsstunde: „Siehe, der Bräutigam!“ erschollen. Vielleicht nimmt dieser Ruf noch zu: aber die Nacht ist weit vorgerückt, der Tag ist nahe. Wir wandeln, so zu sagen, im Zwielicht des Morgensterns. Auf ihn schauen wir; unser Herz ist gerichtet auf ihn, wir sehen in unseren Herzen schon seinen Aufgang. Das Teil der Christen ist also mehr, als nur die Lampe; uns leuchtet der Morgenstern, wir wandeln durch den Glauben in dem Schein des himmlischen Lichtes.
In Offenbarung 2 haben wir mehr das persönliche Teil eines jeden, der inmitten des ihn umgebenden Verderbnisses treu bleibt und überwindet. Das Teil eines Überwinders ist nicht nur die Ankunft des Herrn, welche ihn dorthin führt, wo Er ist, sondern Er selbst ist sein Teil. „Ich will ihm den Morgenstern geben.“ Das persönliche Teil eines jeden Überwinders wird Er selbst sein, nichts Geringeres. Hier handelt es sich nicht um die Verschiedenheit der Belohnung für die Treue, nicht darum, ob einer fünf Städte oder eine erhält, sondern ein jeder wird Ihn selbst empfangen: „ich will ihm geben den Morgenstern.“
Aber es gibt noch etwas für die Kirche oder Versammlung, als solche. Dieser, seiner Braut, stellt Er sich als der glänzende Morgenstern vor. Lasst uns beachten, dass es nicht nur heißt: „Ich bin der Morgenstern“, sondern Er gibt seiner Versammlung eine Beschreibung von sich selbst: „Ich bin der glänzende Morgenstern.“ Er stellt sich seiner geliebten Braut vor in seiner Pracht, seinem Glanz und seiner Schönheit, und zieht so ihre Aufmerksamkeit auf sich hin. Und sogleich, wenn Er so sich vorstellt, antwortet der Geist und die Braut und sagen: „Komm!“ Und weil keiner ausgeschlossen ist, wird gesagt: „Wer es hört, der spreche: komm!“ –
In Jesaja 14 ist, wie schon bemerkt, auch die Rede von einem Morgenstern: aber welch ein Unterschied gegen den Morgenstern, von dem wir gesprochen haben: es ist der höllische Morgenstern! Es ist von jeher so gewesen, dass der Satan das nachmacht, was er bei Gott erblickt. Gott hat einen Sohn, der Mensch geworden ist; Satan rüstet den Menschen der Sünde aus, den Sohn des Verderbens. Gott hat eine Stadt: Jerusalem: Satan macht auch eine Stadt: es ist Babylon. Gott hat einen Morgenstern, auch Satan hat einen. Aber welch ein Gegensatz! Jesus erniedrigte sich selbst und ward dann erhöht in den Himmel; dieser aber erhöht sich selbst zum Himmel, über die Sterne Gottes: er wird in den Scheol hinabfahren zur Seite der Grube. Jesus wird die Seinen sich entgegen führen in die himmlische Herrlichkeit; dieser wird bei seinem Hinabfahren den Scheol in Bewegung setzen, seiner Ankunft entgegen.