Botschafter des Heils in Christo 1877
Die Belagerung von Samaria
Samaria war die Hauptstadt des Königreichs Israel oder der zehn Stämme. Gebaut durch Omri, einen ihrer gottlosen Könige, wurde sie der Königssitz seines Sohnes Ahab, von welchem gesagt wird, dass er seine Seele verkauft habe, um zu tun, was böse war in den Augen Jehovas. Wegen seiner Gottlosigkeit wurde über ihn und sein Haus das Gericht ausgesprochen, welches jedoch Gott in seiner Langmut nicht in den Tagen Ahabs, sondern erst in den Tagen des ebenso schuldigen Thronfolgers in Ausführung brachte.
In dem vor uns liegenden Schriftabschnitt finden wir Joram, den Sohn Ahabs. Derselbe scheint in seiner Gottlosigkeit und in seinem Widerstand gegen Gott nicht so weit gegangen zu sein, wie sein Vater oder wie sein Bruder Ahasja. Er tat die Säule Baals, die sein Vater gemacht, hinweg. „Nur an den Sünden Jerobeams blieb er hängen: er wich nicht davon“ (Kap 3,3). Augenscheinlich war es seine Eigengerechtigkeit, welche ihn drängte, sich auf äußere Formen des Gottesdienstes zu stützen; denn hätte ihn die Gottesfurcht einer Seele beherrscht, welche die Gnade und Treue Gottes kennt, so würde er sich nicht damit begnügt haben, nur die von seinem Vater eingeführten groben Formen des Götzendienstes zu beseitigen, sondern würde sicher die „goldenen Kälber Jerobeams“, vernichtet haben, durch deren Anbetung sich die zehn Stämme von ihrem Gott getrennt hatten. Solange das Volk in dieser schrecklichen Sünde voranging, war nichts im Stande, das Missfallen Gottes abzuwenden; und so geschah es, dass in den Tagen dieses selbstgerechten Königs, der in den Augen der Menschen weit besser als viele seiner Vorfahren war, die ersten Tropfen der herannahenden Zornflut Gottes nieder zu fallen begannen. Wir werden aus dem Verlauf unserer Geschichte sehen, von wie geringem Wert eine äußere Gottesfurcht ist.
Wir finden hier aufs Neue den Beweis, wie trage das Herz des Menschen ist, um zu glauben, dass Gott einen Abscheu gegen die Sünde hat. Die Schrift verbirgt uns diese Wahrheit nicht. Freilich ist Gott langsam zum Zorn und seine Langmut groß über uns; aber wenn Er sich einmal zum Gericht erhebt, dann werden „sich stolze Helfer unter Ihn beugen“ (Hiob 9,13). Das Wort Gottes offenbart uns nicht jene falsche Nachsicht, welche die fahr verblümt oder hinwegleugnet, bis es zum Entrinnen zu spät ist. Nein, es sind unzweideutige und feierliche Ausdrücke, wenn wir lesen: „Gott ist ein gerechter Richter, und Gott zürnt den ganzen Tag“ (Ps 7,11). „Es werden umkehren zum Scheol die Gesetzlosen, alle Nationen, die Gottes vergessen“ (Ps 9,17). „Wenn ihr nicht Buße tut, so werdet ihr alle auf dieselbe Weise umkommen“ (Lk 13,3). „Denn es wird offenbart Gottes Zorn vom Himmel über alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen, welche die Wahrheit in Ungerechtigkeit besitzen“ (Röm 1,18). „In der Offenbarung des Herrn Jesus vom Himmel, mit den Engeln seiner Macht, in flammendem Feuer, um Vergeltung zu geben denen, die Gott nicht kennen, und denen, die dem Evangelium unseres Herrn Jesus Christus nicht gehorchen, welche Strafe leiden werden, ewiges Verderben vom Angesicht des Herrn und von der Herrlichkeit seiner Stärke“ (3.Thes 1,7–9). Ja, lieber Leser, Gott ist langsam zum Zorn; Er ist „langmütig, da Er nicht will, dass irgendwelche verloren gehen“ (2. Pet 3,9); aber seine Rache ist umso fürchterlicher, weil es die Rache dessen ist, der mit der Vergeltung bis zum Ende hin gezögert hat. „Weil ich gerufen, und ihr euch geweigert, meine Hand ausgestreckt, und niemand darauf geachtet, und ihr verworfen habt all meinen Rat und meine Zucht nicht gewollt: so will auch ich bei eurem Untergang lachen; ich will spotten, wenn euer Schrecken kommt“ (Spr 1,24–26). Weil das Gericht zögert, bilden sich die Menschen ein, dass es nimmer kommen werde. Aber Gott sagt: „Solches hast du getan, und ich schwieg: du dachtest, ich sei ganz wie du. Ich will dich strafen und es ordentlich unter deine Augen stellen“ (Ps 50,21). Und wie voll Gnade ist die Warnung, die unmittelbar diesen Worten folgt: „Merkt doch dieses, die ihr Gottes vergesst, damit ich nicht zerreiße und sei kein Retter da!“ (V 22)
Aber nicht nur offenbaren die warnenden Aussprüche der Schrift den Abscheu Gottes gegen die Sünde und seinen Entschluss, sie zu bestrafen, sondern es werden uns auch viele Beispiele, wo Gott durch sichtbare, zeitliche Gerichte seinen Hass gegen die Sünde kundgibt, vor Augen gestellt. Er hat nicht das Gift der Lüge der Schlange im Herzen der Menschen wirken lassen, ohne Zugleich ein Gegengift zu geben. Die Sintflut, die Verwüstung Sodoms, die Plagen Ägyptens, die Ausrottung der Kanaaniter – alles dieses bezeugt, dass die Sünde nicht ungestraft bleiben kann. Vor allem aber liefert uns die Geschichte Israels beachtenswerte Beispiele dieser Art. Auch die Belagerung von Samaria ist eins von diesen. Viele Jahrhunderte vorher hatte Gott sein Volk Israel auf die Folgen der Empörung wider Ihn aufmerksam gemacht. Er hatte von Plagen und Trübsalen gesprochen, die sie, wenn sie ungehorsam wären, treffen würden; ja, Er hatte ihnen sogar vorausgesagt, dass ihr Unglück sie dahintreiben werde, das Fleisch ihrer Kinder zu essen. „Die Weichlichste unter dir und die Üppige, die nicht versuchte, ihre Fußsohle auf die Erde zu setzen vor Üppigkeit und vor Weichlichkeit, deren Auge wird scheel sehen auf ihre Kinder, die sie geboren hat, denn sie wird sie im Geheimen aufessen, in Mangel an allem, in der Belagerung und in der Bedrängnis, wenn dich dein Feind bedrängen wird in deinen Toren“ (5. Mo 29,56–57). Und ist diese angekündigte schreckliche Strafe nicht erfüllt? Gewiss, sie ist, wie wir in dem Abschnitt unserer Betrachtung lesen, buchstäblich erfüllt worden (2. Kön 6,29). Gott richtet nicht bloß seine Drohungen an die Menschen, sondern führt sie auch aus, wenn die Zeit des Gerichts gekommen ist. Und hat Er nicht das ewige Verderben als die unausbleibliche Folge des fortdauernden Unglaubens und Beharrens in der Sünde angekündigt? Er wird sicher diese Drohung erfüllen. Man täusche sich nicht mit dem Gedanken, dass seine Liebe Ihn verhindern werde, sie auszuführen. Er ist wahrhaftig: und Er würde nimmer ein solches Gericht über die Widersacher des Evangeliums ausgesprochen haben, wenn es nicht die einfache, nackte Wahrheit wäre. Gott bewahre jeden unserer Leser vor einer solch falschen, verderblichen Vorstellung von der Gnade Gottes!
Und gerade die Erfüllung der in 5. Mose 28 angekündigten Dinge war es, die den wahren Charakter der Scheinfrömmigkeit des Königs ins Licht stellte. Er war kein offenbarer Gotteslästerer; er war auch nicht gleichgültig angesichts der Leiden seines Volkes, vielmehr suchte er durch seine Bußübungen und durch sein Fasten den Herrn zu bewegen, die Drangsale hinweg zu nehmen. Diese Drangsale waren aber auch in der Tat nicht gering. „Und es war eine große Hungersnot in Samaria, und siehe, sie belagerten es, bis ein Eselskopf achtzig Silberlinge galt, und ein viertel Kab Taubenmist fünf Silberlinge“ (V 25). Und das war noch nicht das Schlimmste. „Und es geschah, als der König auf der Mauer einherging, da schrie ein Weib ihn an und sprach: Hilf, mein Herr König! Und er sprach: Jehova hilft dir nicht, woher sollte ich dir helfen? von der Tenne oder von der Kelter?“ – Wie sehr drücken diese ironischen Worte die Bitterkeit seines Herzens aus! Befand er sich doch selbst fast am Rand der Verzweiflung. Dennoch aber fragte er das Weib nach der Ursache ihrer Klage, und sie antwortete ihm: „Dieses Weib sprach zu mir: Gib deinen Sohn, und wir wollen ihn heute essen, und meinen Sohn wollen wir morgen essen. Und wir kochten meinen Sohn und aßen ihn, und ich sprach zu ihr am anderen Tage: Gib deinen Sohn, dass wir ihn essen. Da verbarg sie ihren Sohn“ (V 28–29). Diese haarsträubende Mitteilung macht deutlich offenbar, was in dem Herzen des Königs ist. „Er zerriss seine Kleider – er ging aber auf der Mauer einher – und das Volk sah, und siehe, es war ein Sack auf seinem Leib unter dem Oberkleid“ (V 30). Ach, pharisäische Frömmigkeit und Eigengerechtigkeit kann wehklagen und fasten, kann eine traurige Miene aufsetzen und sich viele Dinge auflegen, um dadurch die Gunst Gottes zu erlangen. So war es auch bei Joram. Solange noch ein Schimmer Hoffnung übrigblieb, vermochte er den Schein von Gottesfurcht aufrecht zu erhalten; aber sobald sich seine Gebete als fruchtlos erwiesen, sein Sitzen in Sack und Asche keinen Vorteil brachte, die Belagerung fortdauerte und die Hungersnot ihren höchsten Gipfel erreichte, da warf er sich der Verzweiflung in die Arme und offenbarte sich als ein öffentlicher Feind des Gottes, dem er bisher zum Schein gehuldigt hatte.
Gott selbst war außer seinem Bereich: aber es gab jemanden, von dem er wusste, dass er völlig eins war mit dem Namen und der Sache Gottes; und an diesem – dem Propheten Elisa – beschoss er den Zorn zu stillen, der in seinem Herzen gegen Gott entbrannt war. „So soll mir Gott tun und so fortfahren, wenn der Kopf Elisas, des Sohnes Schafats, heute auf ihm bleibt!“ (V 31) Der König war sich bewusst, dass dieser Prophet zu jener Zeit in Samaria und wohl auch in ganz Israel bei Gott in der nächsten Nähe war: und darum beschloss er, sich an ihm zu rächen. Elisa, der in seinem Haus sitzt, benachrichtigt die um ihn sitzenden Nettesten von dem Kommen des königlichen Boten und teilt Zugleich mit, dass der Schall der Tritte des Königs hinter demselben sei. Kaum aber hat er seine Worte vollendet, so erscheint auch schon der angekündigte Bote und sagt: „Siehe, das Unglück ist von Jehova; was soll ich noch auf Jehova harren?“ (V 32–33) Der König hatte von sich die Meinung, Gott gedient zu haben; jetzt aber, wo der Leidenskelch bis zum Überfließen gefüllt ist, wirft er das sich selbst auferlegte Joch ab und schiebt öffentlich alle Schuld auf Gott, anstatt sich zu beugen in der demütigen Erkenntnis, dass er alles Elend verdient habe. „Das Unglück ist von Jehova; was soll ich noch auf Jehova harren?“ Mit anderen Worten: „Ich dachte Ihn mit meinen Gebeten und meinem Fasten erweicht zuhaben: aber ich sehe nun, dass Er unerbittlich ist; das Unglück kommt von Ihm: aber ich werde mich rächen.“
Wie gering ist die Entfernung zwischen der Eigengerechtigkeit und dem Ermorden des Volkes Gottes! Wie finden wir Kam, den ersten Menschen, der seine Hände befleckte mit dem Blut seines Bruders? War er ein offenbar ungläubiger, ein gottloser Mann? Keineswegs: vielmehr war er auf seine Art ein Anbeter Gottes. Er hatte seinen Altar und brachte Gott sein Opfer. Und was verleitete ihn zu dem Mord seines Bruders? – Die Täuschung in den Erwartungen seiner Eigengerechtigkeit. Als er sah, dass das Opfer seines Bruders angenommen, sein eigenes aber verworfen wurde, ersann und vollführte er die entsetzliche Tat.
Ebenso dachte Joram in der uns vorliegenden Geschichte sich durch das, was er sein „Harren auf Jehova“ nannte, bei Gott angenehm zu machen; aber als er erfuhr, dass die züchtigende Hand Gottes immer schwerer und schwerer auf ihm ruhte und sich nirgends eine Aussicht auf eine Veränderung kundgab, da ließ er die Maske fallen, und der religiöse Mann streckte seine Hand zum Mord aus; in seinem Hass gegen den Gott Elisas verschwört er sich, an dem Propheten Rache nehmen zu wollen.
Nichtsdestoweniger teilt uns die Schrift noch einen höheren Grad menschlicher Bosheit mit. Der König Israels kannte, wie gesagt, niemanden, der näher bei Gott war, wie der Prophet Elisa. Aber in der Fülle der Zeiten sandte Gott seinen Sohn und kam in Ihm dem Menschen so nahe, dass alles, was in eines Menschen Herz gegen Gott war, unmittelbar gegen Ihn ausgesprochen werden konnte. Und welcher Empfang harrte des Sohnes Gottes? Als Er in seiner unaussprechlichen Liebe und Gnade Mensch ward, ja sich bis zum Knecht der Menschen erniedrigte, um der Arzt ihrer Wunden, der Tröster in ihren Trübsalen zu sein, – als Er, Gutes tuend, umherging, alle die Siechen und die vom Teufel Besessenen heilte, – wie wurde Er von denen, welchen Er diente, aufgenommen? Wie haben – um den Vergleich vollkommen zu machen – vor allen die religiösen Menschen jener Tage Ihn behandelt? Wie empfingen sie den hochgelobten Sohn Gottes? Wie beantworteten sie die unaussprechliche Liebe, die Ihn trieb, um in ihrer Mitte zu wohnen? Er selbst sagt uns dieses in den ernsten, feierlichen Worten: „Sie haben gesehen und gehasst beide, mich und meinen Vater“ (Joh 5,24). Sie selbst aber drücken ihre Antwort aus in dem Ruf: „Weg, weg! Kreuzige Ihn!“ Von Wut entbrannt forderten sie sein Blut. „Und sie nahmen Jesus hin und führten Ihn fort.“
Wie aber begegnete Gott diesen Ergüssen der menschlichen Bosheit? Welche Antwort gab Er auf diese Äußerungen des gegen Ihn entbrannten Menschenhasses? Ließ Er die Donnerschläge seiner Rache auf das Haupt des Königs Joram fallen, als dieser seine Hand ausstreckte, um den Propheten zu ermorden? Verfolgte Er die, welche seinen eingeborenen Sohn ermordet hatten, sofort mit der Rute seines Zornes? O nein, in beiden Fällen bewahrheitete sich das Wort: „Wo aber die Sünde überströmend geworden, ist die Gnade noch überschwänglicher geworden“ (Röm 5,20). Ja, Gott beantwortete die Wut Jorams mit der Offenbarung seiner überreichen Güte und Gnade. „Da sprach Elisa: Hört das Wort Jehovas! So spricht Jehova: Morgen um diese Zeit wird ein Maß Feinmehl einen Schekel gelten und zwei Maß Gerste einen Schekel im Tor von Samaria“ (Kap 7,1). Es ist, als ob der Herr hätte sagen wollen: „Jetzt, nachdem dein Charakter ans Licht getreten und es klar erwiesen ist, dass du ein offenbarer Feind Gottes bist, kann ich handeln nach der Freiheit meiner eigenen überschwänglichen Gnade und sofort der ausgehungerten Stadt in Überfluss meine Gaben darreichen. Solange du fastetest und einen Sack auf deinem Leib trugst, würde eine solche Dazwischenkunft deine Selbstgerechten Handlungen gebilligt haben; aber jetzt, wo du im Begriff bist, meinen Propheten zu ermorden, kann ein solcher Irrtum nicht mehr stattfinden. Die Errettung der Stadt kann allein den Reichtum meiner Gnade verherrlichen, und die Gnade wird ihren freien Lauf haben.“
Doch wie herrlich dieser Triumph der Gnade auch sein mag, was ist sie im Vergleich mit jener Gnade, die am Kreuz Christi zur Schau gestellt wird? Nie zuvor war die Feindschaft des Menschen gegen Gott in einer solchen Weise offenbar geworden, als in dem Tod Christi. Wenn jemand eine Geschichte liest, in welcher die Grausamkeit und Gottlosigkeit eines Menschen gegen seine Mitgeschöpfe offenbar gemacht wird, so hört man ihn vielleicht mit Entrüstung sagen: „Wie ist es möglich, dass Gott in seiner Langmut eine Welt dulden kann, in der solche Gräuel geschehen?“ Und doch schaute Gott einmal aus dem Himmel, und sein Auge sah den Mord seines viel geliebten Sohnes. Dieselbe Barmherzigkeit, die Er anderen erwiesen hat, wird von Seiten der Menge als eine Beschimpfung gegen Ihn benutzt. „Andere hat Er gerettet; sich selber kann Er nicht retten“, rufen sie Ihm höhnend zu. Ja, so war die Schreckensszene auf welche das Auge Gottes herniedersah. Und was folgte darauf? Etwa die unmittelbare Vertilgung der Mörder seines Sohnes, die sofortige Zertrümmerung der von ihnen repräsentierten Welt? O nein. Es war auf dem Kreuz, wo die größte Feindschaft des Menschen gegen Gott durch die Ausströmung der vollkommensten Liebe Gottes beantwortet wurde. Das durch Menschenhände vergossene Blut wurde als eine Sühnung für des Menschen Sünde angenommen, und Gott ließ verkündigen, dass ein jeder, welcher sein Vertrauen auf dieses kostbare Blut sehe, Vergebung der Sünden und ewiges Leben empfangen und teilhaben werde an den Segnungen und an der Herrlichkeit mit dem Herrn Jesus Christus.
Wer vermochte die hier entfaltete Gnade zu schildern! Wenn Jorams öffentliche Feindschaft wider Gott es klarwerden ließ, dass die Errettung Samarias nur aus „Gnaden“ und nicht aus „Werken“ möglich war, so ist sicher die Versöhnung für eine Welt, die sich des Mordes des viel geliebten Sohnes Gottes schuldig gemacht hat, erst recht der Ausdruck einer unvergleichlichen, unumschränkten Gnade. „Gott war in Christus, die Welt mit sich selbst versöhnend.“ Und selbst nachdem die Welt die Friedensangebote Gottes durch die Ermordung seines fleischgewordenen Sohnes beantwortet hatte, sandte Er, anstatt unmittelbar Rache zu nehmen, eine neue Gesandtschaft aus, welche rief: „So sind wir nun Gesandte für Christus, als ob Gott durch uns ermahnte. Wir bitten an Christi Statt: Lasst euch versöhnen mit Gott.“ Dieses ist nicht eine bloße Fortsetzung oder Wiederholung jener Angeboten, die vor dem Tod Christi geschehen waren, sondern die Vergebung der Sünden ist gerade auf diese Tatsache gegründet. Die Menschen in ihrer Bosheit waren das Werkzeug der Ermordung Christi; aber das, was das Evangelium uns verkündigt, ist der Anteil Gottes an diesem wunderbaren Ereignis. Denn „Ihn, der Sünde nicht kannte, hat Er für uns zur Sünde gemacht, auf dass wir würden Gottes Gerechtigkeit in Ihm“ (2. Kor 5,19–21). Ja, wahrlich, nun kann gesagt werden: „Wo die Sünde überströmend geworden, da ist die Gnade noch überschwänglicher geworden.“
Doch wir kehren zu unserer Betrachtung zurück. Der Mann Gottes hatte angekündigt, dass binnen vierundzwanzig Stunden ein Überfluss an Lebensmitteln in Samaria sein sollte. Und was für Menschen waren es, die zuerst von diesem Überfluss Gebrauch machten? Es waren vier Männer, die außerdem, dass sie mit ihren Mitbürgern das Elend der Belagerung zu erdulden hatten, auch noch an ihren eigenen Leibern eine Qual mit sich herumtrugen, welche sie mehr noch als alle anderen das Gewicht dieses Elends fühlen ließ. Sie befanden sich in einem verzweiflungsvollen Zustand, und sie fühlten dieses. Sie waren aussätzig und mithin von allen übrigen Stadtbewohnern getrennt. Sie saßen am Eingang des Tores; und es ist leicht zu begreifen, dass, da selbst die ekelhafteste Speise so außergewöhnlich hoch im Preis stand, man sicher an die unglücklichen Aussätzigen nicht dachte oder sie mit Nahrungsmitteln versah: „Und es waren vier Männer, Aussätzige, am Eingang des Tores, und sie sprachen einer zum anderen: Was bleiben wir hier, bis wir sterben? Wenn wir sprechen: Lasst uns in die Stadt gehen, so ist der Hunger in der Stadt, und wir sterben daselbst: und wenn wir hier bleiben, so sterben wir auch. Und nun kommt und lasst uns zum Lager der Syrer fallen; wenn sie uns leben lassen, so leben wir, und wenn sie uns töten, so sterben wir“ (V 3–4).
Wie wunderbar sind die Wege Gottes! Man kann mit Recht sagen: „Wo der Mensch endet, da fängt Gott an.“ Auch der Glaube hat dort seinen Anfang; und wie wenig der Glaube auch die Triebfeder zu dem Entschluss dieser Aussätzigen sein mochte, so haben wir doch in ihrem verzweifelten Vornehmen eine treffende Aufklärung der Bewegungen, die dem Glauben oft vorangehen und das Geleit geben. Die gewöhnlichen Hilfsmittel waren erschöpft; sowohl ein längeres Verweilen, als auch ein Eintreten in die Stadt stellten nichts anders als einen gewissen Tod in Aussicht. Dagegen bot ein Besuch des Lagers der Syrer doch noch irgendeine Möglichkeit der Errettung; und war dieses nicht der Fall, so war das Schlimmste, was sie treffen konnte, der Tod, dem sie, wenn sie blieben oder in die Stadt gingen, unabweislich verfallen gewesen wären. Welch ein treues Gemälde der Gefühle, mit denen so mancher beladene, zitternde und verzweifelnde Sünder zu den Füßen Jesu niedergesunken ist, als wollte er gleich diesen Aussätzigen sagen: „Ich kann nichts mehr als umkommen; und wenn dieses, so komme ich zu den Füßen Jesu um.“
Aber nie ist jemand hier umgekommen. Gott war diesen armen, mit dem Tod ringenden Aussätzigen vorausgegangen und hatte in dem Lager der Syrer ein Werk vollbracht, welches zum Mittel der Errettung Samarias dienen sollte. Während alle Bewohner der Stadt ratlos waren und der König sich der Verzweiflung in die Arme geworfen hatte, hatte Gott selbst für sie gekämpft, indem Er die Syrer ein Getöse hören und sie glauben ließ, dass ein mächtiger Feind ihnen auf den Fersen sei. Und dieses hatte sie mit einer solchen Furcht erfüllt, dass sie in wilder Flucht ihre Zelte verlassen und selbst ihre Schätze und ihre Speisevorräte zurückgelassen hatten, um nur ihr nacktes Leben zu retten. Die Aussätzigen wussten davon nichts, als sie ihren verzweifelten Entschluss fassten, in das Lager der Syrer zu gehen. Ohne Zweifel hatte Gott diesen Entschluss in ihnen geweckt. Er wusste, dass die Belagerer aus einander getrieben und in die Flucht gejagt waren. Die Aussätzigen wussten, dass es im Lager der Syrer einen Speisevorrat zur Stillung ihres Hungers gab; und es war ja möglich, dass der Feind Mitleiden mit ihnen habe und sie am Leben lasse. Freilich konnte auch der Tod ihr Los sein. Aber wie wunderbar! Das Lager war leer. Die Lebensmittel waren vorhanden, während die Syrer die Flucht ergriffen hatten. Der Kampf war bereits gekämpft, der Sieg errungen; und statt der Feinde, die sie zu fürchten hatten, fanden sie Zelte, angefüllt mit Vorräten, um ihre gegenwärtigen Bedürfnisse zu befriedigen und auch noch für die Zukunft Überfluss zu haben, ohne dass die Gegenwart auch nur eines einzigen Feindes ihnen den Besitz streitig gemacht hätte.
Der einzige Unterschied zwischen den Aussätzigen und einem armen Sünder, der seine Zuflucht zu Jesu nimmt, besteht darin, dass jene von Seiten Gottes keine Versicherung ihrer Rettung im syrischen Lager besaßen, während der Sünder das Wort Gottes vor sich hat, welches ihm versichert, dass in Christus, und zwar in Christus allein, eine völlige Errettung zu finden ist. Ach, wie wenige gibt es, die ihre Zuflucht zu Christus nehmen, bis sie, so zu sagen, durch das Gefühl ihres vollkommenen Elends und ihres verzweiflungsvollen Zustandes, worin sie sich befinden, dazu gezwungen werden! Wie viele unter denen, die diese Zeilen lesen, können es bezeugen, dass, solange ihnen noch irgendeine Hoffnung auf sich selbst oder auf etwas in der Umgebung übrigblieb, sie sich weigerten zu Christus zu kommen! Solange der Mensch noch sein Vertrauen setzen kann auf seine Werke, auf seine Buße, auf seine religiösen Verrichtungen, findet die Vorstellung des Evangeliums bei ihm kein aufmerksames Ohr. Erst dann, wenn er die Erfahrung macht, dass sein Zustand hoffnungslos ist, dass alle Stützen der Eigengerechtigkeit morsch und nutzlos sind – wenn er nichts sieht als seine Sünden in der Vergangenheit, sein böses Herz in der Gegenwart, ein unausbleibliches Gericht in der Zukunft, einen gerechten, allwissenden Richter über sich, und einen klaffenden Abgrund des Elends unter sich, ohne dass irgendwo eine rettende Hand sich zeigt, dann erst ruft er sich zu: „Ja, ich bin hoffnungslos, elend und unter dem Zorn eines ewigen Richters; aber spricht denn nicht Gott von einer Erlösung in Christus? Und sagt Christus nicht selbst: ‚Wer zu mir kommt, den will ich nicht hinauswerfen?‘ O dann gibt es auch noch Hoffnung für mich, denn ich erkenne, dass mich nur eine freie, vollkommene Gnade erretten kann.“
Und wie furchtsam sich auch eine Seele heranwagt um sich auf Christus und auf das Zeugnis, welches Gott von Ihm gegeben, zu stützen, so wird sie doch nie beschämt werden; und welch eine Fülle von Freude genießt sie, wenn sie erfährt, dass kein Grund zur Furcht mehr vorhanden ist! Ja, sie hat mehr gefunden, als sie gesucht hat! Sicher, alle Erwartungen werden weit übertroffen, sobald wir im Glauben zu Christus gekommen sind. Wir vertrauen dann auf ein Werk, welches lange vorher vollbracht, auf einen Sieg, der lange vorher errungen worden ist; und wir sehen uns als Teilhaber alles dessen, was Christus getan hat und was Er ist. Weder der König, noch die Bewohner, noch selbst die Aussätzigen wussten etwas von dem, was außerhalb der Stadt im syrischen Lager vorgegangen war; nur Gott wusste alles: und auf dieses Wissen war das Zeugnis des Propheten gegründet, dass binnen vierundzwanzig Stunden in der ausgehungerten Stadt Überfluss sein sollte. Und so war es auch uns unbekannt, was Gott in Christus getan. Ja selbst für die, welche Augenzeugen der Kreuzigung waren, blieb die volle Bedeutung und das große Gewicht dieser Tatsache verborgen. Und dennoch war es auf dem Kreuz, wo alles, was uns im Weg stand, hinweggetan worden ist. Dort wurde das glorreiche Werk vollbracht, wodurch jedem Sünder, der durch Gnade an Jesus glaubt, eine ewige Erlösung zu Teil wird.
Als die vier Aussätzigen an das Ende des Lagers der Syrer kamen – „da war kein Mensch daselbst“ (V 5) Statt der Feinde, die sie gefürchtet hatten, „gingen sie in ein Zelt und aßen und tranken und nahmen von dannen Silber und Gold und Kleider und gingen hin und verbargen es“ (V 8). Ebenso ist es, wenn ein mühseliger und beladener Sünder sich in die Arme Jesu wirft und das Zeugnis Gottes über seinen Sohn annimmt. Er wird dann erfahren, dass alle Feinde durch Ihn vernichtet und überwunden sind, und dass er mit Ihm nur die Beute des von Ihm errungenen Sieges zu teilen hat.
Fürchtest du das Gesetz noch? „Christus hat uns losgekauft vom Fluch des Gesetzes, indem Er ein Fluch für uns geworden ist“ (Gal 3,13). Fürchtest du den Zorn Gottes über die Sünde? Christus hat sie an unserer statt getragen. Seine Sprache am Kreuz war: „Alle deine Wogen und deine Wellen sind über mich hingegangen“ (Ps 42,7). Drückt die Sünde dich nieder? „Er ist einmal in der Vollendung der Zeitalter offenbart worden zur Abschaffung der Sünde durch das Schlachtopfer seiner selbst“ (Heb 9,36). Denkst du mit Furcht an den Tod? „Er hat durch den Tod zunichtegemacht den, der die Macht des Todes hat, das ist den Teufel, und befreite alle, die durch Furcht des Todes während des ganzen Lebens der Knechtschaft unterworfen waren“ (Heb 2,14–15). Erfüllt die Heiligkeit Gottes dich mit Schrecken? Gott hat das Versöhnungsblut Christi angenommen, und Er ist durch dieses herrliche Opfer so vollkommen befriedigt und verherrlicht, dass Er Jesus aus den Toten auferweckt und Ihn zu seiner Rechten gesetzt hat. Gott selbst ist es, welcher von dem Wert des allgenügsamen Blutes Christi Zeugnis ablegt, indem Er erklärt, dass dieses Blut reinige von aller Sünde. „Gott ist es, welcher rechtfertigt“ (Schluss folgt).