Botschafter des Heils in Christo 1877
Außerhalb des Lagers - Teil 1/2
Welch eine wichtige Übereinstimmung und welch einen bemerkenswerten Gegensatz bilden diese Worte zu denen in Hebräer 10, die wir soeben betrachtet haben! Auch hier ist von dem Heiligtum die Rede. Das Blut des Sündopfers ist ins Heiligtum getragen: und darum haben wir, die Glaubenden, Freimütigkeit zum Eintritt in das Heiligtum. Aber die, welche in das Heiligtum eingehen, müssen hinausgehen außerhalb des Lagers. Welch ein Gegensatz! Keine zwei Plätze sind in moralischer Weise so weit voneinander getrennt, als der Platz im Heiligtum und derjenige außerhalb des Lagers. Im Heiligtum wohnte die Herrlichkeit Gottes; außerhalb des Lagers ward das Sündopfer verbrannt, zum Zeichen, dass Gott gegen die Sünde einen Abscheu hat und mit dem Sünder keine Gemeinschaft machen kann. Und dennoch werden, wie weit diese Plätze auch voneinander geschieden sein mögen, dieselben hier zusammengebracht. Welch eine Gnade! Der Sünder ist zu Gott gebracht; der Heilige verlässt die Welt. Der Platz des Gläubigen ist im Heiligtum und außerhalb des Lagers; auf beiden Plätzen finden wir Jesus: im Heiligtum mit seinem Blut; außerhalb des Lagers mit seinem Segen. Welch reiche Schätze breiten daher die oben angeführten Worte vor unseren Augen aus! Verweilen wir etliche Augenblicke bei ihnen mit tiefer Andacht.
Wie überall in dem Brief an die Hebräer, müssen wir auch hier, um uns die Worte des Apostels zu erklären, die Einrichtungen des Alten Testaments ins Gedächtnis zurückrufen. Das Blut des als Sündopfer geschlachteten Stiere ward durch den Hohepriester in das Heiligtum getragen, und der Leib desselben außerhalb des Lagers verbrannt. Niemand durfte davon essen, weder der Priester, noch der, welcher das Opfer darbrachte. Es gab freilich etliche Sündopfer, wovon die Priester essen mussten; 1 (siehe 3. Mo 6,26.29) „Aber alles Sündopfer, von dessen Blut in das Zelt der Zusammenkunft gebracht worden, um im Heiligtum Versöhnung zu tun, soll nicht gegessen werden; es soll mit Feuer verbrannt werden“ (3. Mo 6,30). Eine flüchtige Prüfung der Ursache wird uns die tiefe Bedeutung dieser Bestimmung verstehen lassen. Dieser als Sündopfer geschlachtete Stiere wurde zum Träger der Sünden gemacht. Mit den Sünden beladen, wurde er getötet, zum Zeichen, dass der Sünder den Tod verdient hatte. Das Blut dieses Stiere aber wurde in das Heiligtum getragen, während der mit den Sünden beladene Leib außerhalb des Lagers, fern von dem Angesicht und der Wohnung Gottes, verbrannt wurde, zum Beweis, dass der Herr nicht in der geringsten Beziehung zu dem Sünder zu stehen vermag.
Wohlan, geliebter Leser, dieses Vorbild hat in Jesu seine Erfüllung gefunden. „Darum hat auch Jesus“, sagt der Apostel, „auf dass er durch sein eigenes Blut das Volk heiligte, außerhalb des Tores gelitten.“ Ja, Jesus, der Sohn Gottes, der Heilige und Vollkommene, die Wonne des Vaters und die Freuds des Himmels, ist der Träger unserer Sünden geworden und ist für uns zur Sünde gemacht. Außerhalb des Tores hat Er gelitten. Gott ließ Ihn außerhalb des Lagers bringen, um Ihn dort zu einem Opfer für unsere Sünden zu machen. Richten wir unseren Blick auf das Kreuz. Dort sehen wir Ihn in der Mitte zweier Mörder. Von Gott und Menschen verlassen, umgibt Finsternis den Hochgelobten. Er neigt das Haupt und stirbt. Sicher war der Herr Jesus auch in diesem Augenblick die Wonne des Vaters. Vergessen wir dieses nicht. Alle Opfer des alten Bundes fanden in Ihm ihre Erfüllung. Er war sowohl Brandopfer, als Sündopfer, sowohl Speisopfer, als Schuldopfer. Was in Schatten und Vorbildern durch besondere Opfer vorgestellt werden musste, finden wir vereinigt in seinem einen Opfer. Sein fleckenloses, heiliges, vollkommenes, Gott wohlgefälliges Leben endigte in seiner vollkommenen Hingabe in den Tod. Er verherrlichte Gott in allem. Er war gehorsam bis zum Tod des Kreuzes: und wie ein duftender Wohlgeruch stieg dieses Opfer zu Gott empor. Dieser Tod setzte seinem ganzen Leben die Krone auf. In Ihm wurde Gott durch den Menschen verherrlicht. Und darum können wir überzeugt sein, dass es keinen Augenblick gab, in welchem Jesus vor Gott angenehmer war, und in welchem das Auge Gottes mit mehr Wohlgefallen auf Ihm ruhte, als gerade diesen Augenblick, wo Er sich hingab in den Tod, um auf diesem Weg den Willen des Vaters zu vollbringen und unsere Erlösung zu bewirken. In dieser Weise betrachtet, ist Er das Brandopfer. Ein duftender Wohlgeruch stieg von dem Kreuz zu Gott empor. Aber zu gleicher Zeit war Er das Sündopfer. War Er nun als Brandopfer ein duftender Wohlgeruch für Gott, so musste Gott vor Ihm, als dem Sündopfer, das Angesicht verbergen. Sobald Er – und dieses geschah während der Finsternis – mit unseren Sünden beladen und für uns zur Sünde gemacht war, wurde Er von Seiten Gottes als der Sündenträger behandelt und demzufolge von Gott verlassen. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Wie abscheulich ist die Sünde in den Augen Gottes! Der Leib des Sündopfers musste außerhalb des Lagers verbrannt werden; und darum musste auch Jesus, wollte Er anders ein Opfer für unsere Sünden werden, außerhalb des Tores leiden. Er wandelte während seines ganzen Lebens in der Gemeinschaft Gottes. So oft der Himmel geöffnet wurde, bezeugte Gott sein ganzes Wohl gefallen an Ihm. „Der Vater erhört mich allezeit“, sagte der Herr. Dieses geschah selbst in Gethsemane, ja sogar in den ersten Stunden auf dem Kreuz. Doch sobald Jesus zur Sünde gemacht und mit unseren Sünden beladen war, veränderte sich alles. Gott verbarg sein Antlitz; der Schrei Jesu fand keine Antwort; Finsternis umgab Ihn, Er war von Gott verlassen. Das war unser Platz, Geliebte! Vergessen wir es nicht. O wenn wir erlöst sind und uns der Gnade Gottes rühmen dürfen, dann lasst uns nicht vergessen, wodurch wir erlöst sind. Es hat unaussprechlich viel gekostet. Der Kaufpreis war unendlich groß. Die Gnade herrscht durch die Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit Gottes hat Ihn getroffen, der sich an unseren Platz gestellt hat. Er litt, was wir verdient hatten. Unsere Sünde hat Gott, wenn Er uns erlösen wollte, gezwungen, seinen geliebten Sohn in den schmählichen Kreuzestod hinzugeben. Sind wir davon wirklich durchdrungen, dann werden wir die Sünde hassen und fliehen. Wer würde mit einem Blick auf das Kreuz, wo Jesus so unaussprechlich viel gelitten, in Betreff der Sünde gleichgültig sein können?
Doch Zugleich fühlen wir uns innig verbunden mit Ihm, der dieses alles für uns tat. O wie sehr muss der Herr Jesus uns geliebt haben, umso viel für uns leiden zu können! Nicht nur verließ Er die Herrlichkeit droben, um Mensch zu werden; nicht nur entäußerte Er sich seiner Herrschaft im Himmel und auf Erden und wurde ein Knecht, sondern Er gab sich selbst – sein eigenes teures Leben hin. Er tat es nicht gezwungen; Er tat es freiwillig. Freilich, Er kam, um den Willen des Vaters zu tun; Er wurde durch den Vater gesandt; der Vater hat seines eigenen Sohnes nicht geschont sondern hat Ihn für uns alle dahingegeben. Doch Er kam auch freiwillig. Es war seine Speise, den Willen des Vaters zu tun. Er gab sich selber hin. Gleich einem Lamm ließ Er sich zur Schlachtbank führen. Für die vor Ihm liegende Freude, nämlich uns bei sich im Himmel zu haben, erduldete Er das Kreuz und achtete der Schande nicht. Wenn wir daran denken und uns darin vertiefen, dann fühlen wir uns unwiderstehlich zu Ihm hingezogen: ja dann lernen wir mit Paulus sagen: „Ich achte alles für Verlust wegen der Vortrefflichkeit der Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn.“ –
Und welches sind nun die Folgen dieses Werkes Christi? „Darum hat auch Jesus, auf dass Er durch sein eigenes Blut das Volk heiligte, außerhalb des Tores gelitten.“ Der Leib des Sündopfers ward außerhalb des Lagers verbrannt; aber das Blut wurde zur Versöhnung ins Heiligtum getragen. Wohlan, so hat es auch Jesus getan. Um durch sein Blut das Volk zu heiligen, hat Er außerhalb des Tores gelitten, ja, durch sein eigenes Blut alle, die durch Ihn zu Gott gehen, geheiligt, d. h. abgesondert von der Sünde und sie zu Gott gebracht. Er unterwarf sich der Strafe, die wir verdient hatten; Er war unter dem Gericht, welches über uns hätte kommen müssen. Er starb an unserem Platz. Seine Auferweckung ist der Beweis, dass die Gerechtigkeit Gottes vollkommen befriedigt ist. Und das Blut, welches Er als Sündopfer vergoss, trug Er als Hohepriester ins Heiligtum, so dass auch wir jetzt eintreten können. Aber darum können auch wir von dem Sündopfer essen. Völlig gereinigt von der Sünde und in die Gegenwart Gottes gebracht, können wir Jesus als Sündopfer genießen und mit Ihm in Gemeinschaft sein. „Wir haben einen Altar, von welchem kein Recht haben, zu essen, die der Hütte dienen.“ Sie, die Diener der Hütte, die Priester, durften nicht von dem Sündopfer essen; denn dasselbe musste ganz verbrannt werden. Aber wir dürfen, davon essen. Weil das große Versöhnungsopfer für die Sünde dargebracht ist, und wir, von der Sünde befreit, auf immerdar vollkommen gemacht sind, so können wir mit Ihm, der das Sündopfer für uns geworden ist und außerhalb des Tores gelitten hat, Gemeinschaft machen. Er, der außerhalb des Tores gelitten hat und dort von Gott gerichtet ist, befindet sich jetzt im Heiligtum: und durch Ihn sind auch wir dort. Auch dieses zeigt uns aufs Neue den großen Unterschied zwischen uns und den Heiligen des Alten Testaments. Sie durften von dem Sündopfer nicht, essen, und wir dürfen es. Sie hatten nur die Erinnerung an die Abscheulichkeit der Sünde und an die Strenge des Gerichts Gottes, ohne die Gewissheit, dass die Gerechtigkeit Gottes völlig befriedigt war, während wir nicht nur wissen, wie Gott über die Sünde und den Sünder denkt, sondern auch, dass die Versöhnung zu Wege gebracht ist und wir für immer in der Gegenwart Gottes sind.
Der Tisch des Herrn ist der Ausdruck dieser unserer Stellung. In dem gebrochenen Brot und in dem Kelch wird uns Jesus vorgestellt, der sich selbst für uns dahingegeben und sein Blut für uns vergossen hat. „Dieses ist mein Leib, der für euch gegeben, dieses ist mein Blut, das für euch vergossen ist zur Vergebung der Sünden“ – sprach der Herr. Und durch das Essen dieses Brotes und durch das Trinken dieses Kelchs bekennen wir, Gemeinschaft zu haben mit dem Leib und Blut des Herrn (1. Kor 10). Unter den Zeichen des Brotes und des Kelchs steht Jesus vor uns, sowie Er sich als Sündopfer in den Tod gegeben hat. Also wird es auch im Himmel sein. Wir werden dann freilich kein Brot und keinen Kelch, sondern Jesus selbst in unserer Mitte haben. Rings um den Thron versammelt, werden wir Ihn, als das geschlachtete Lamm, mit seinem menschlichen Leib – der zwar verherrlicht sein, aber stets die Zeichen seines Leidens und Sterbens tragen wird – in unserer Mitte stehen sehen und Ihn dort vollkommen genießen.
Wie gesagt, ist der Tisch des Herrn der Ausdruck dieser Gemeinschaft; jedoch dürfen wir uns unter dem Tisch des Herrn nicht den Altar vorstellen, wovon der Apostel spricht. Der Apostel bedient sich, wie man aus dem Zusammenhang ersieht, der bildlichen Sprache. Seine Absicht ist, den großen Unterschied zwischen den Priestern des Alten Bundes und uns ins Licht zu stellen, und er muss deshalb über die Einrichtungen der Stiftshütte sprechen. Ich weiß wohl, dass man aus dem Tisch des Herrn einen Altar gemacht hat; aber nichts ist von der Absicht Jesu weiter entfernt. Von einem Opfern zur Versöhnung ist keine Rede mehr; und ein Altar ohne Opfer ist ein Unding. Das stets vollgültige Opfer ist gebracht worden: und der Tisch des Herrn ist die Darstellung dieses vollbrachten Opfers. Auch denke man nicht, dass wir nur am Tisch des Herrn das Sündopfer genießen; o nein, wir stehen fortwährend damit in Verbindung. Jesus kann als der Gekreuzigte, als das Opfer für unsere Sünden, stets vor unseren Augen stehen und durch uns genossen werden. Aber das Abendmahl ist der Ausdruck, die sichtbare Darstellung davon; und in diesem Charakter ist es von unschätzbarem Wert.
Doch, geliebte Brüder, wo finden wir diesen gestorbenen Jesus, mit dem wir Gemeinschaft haben, und den wir genießen? „Im Himmel“, werdet ihr sagen, und ihr habt Recht. Ja, Er ist im Himmel: Er war tot; aber Er lebt jetzt und hat uns den Eingang in den Himmel geöffnet. Aber vergeht nicht, dass Er außerhalb des Tores gelitten hat, und dass uns dieses den Platz anweist, den wir hienieden einzunehmen haben. Ist uns durch sein Leiden und Sterben der Eingang in den Himmel geöffnet, so zeigt uns die Stätte, wo Er litt, unsere Verwerfung von Seiten der Erde. Sein Tod bereitete uns eine Stadt dort oben; der Platz, wo Er gestorben, macht uns los von einer Stadt hienieden. „Deshalb lasst uns zu Ihm hinausgehen außerhalb des Lagers, seine Schmach tragend; denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern wir suchen die zukünftige.“
Um Christus genießen und wahre Gemeinschaft mit Ihm haben zu können, müssen wir das Lager verlassen. Im Lager ist Er nicht; Er hat außerhalb des Tores gelitten. Dieses musste, um ein Opfer für unsere Sünden werden zu können, nach dem bestimmten Ratschluss Gottes also sein. Man vergesse nicht, dass die Welt Ihn verworfen hat. In der Welt ward Er verachtet, verhöhnt und schließlich getötet. Und du, der du sein Jünger bist, möchtest in dieser Welt bleiben wollen? – in einer Welt, die deinen Erlöser verwarf und ermordete? Könntest du wünschen, mit der Welt auf gutem Fuß zu bleiben und sie so hoch als möglich zu schätzen? Solltest du dich da zu Haus fühlen können, wo dein Jesus nicht ist? Bedenke doch, dass du nicht von der Welt bist, gleich wie Er nicht von der Welt ist, dass Er dich von der Welt auserwählt hat, und zwar zu welch hohem Preis! Ach, welch eine Schmach für Christus, welch eine Verachtung seiner Leiden, wenn du dich – in welcher Weise es auch sein mag – vereinigst und eins machst mit der Welt, welche Ihn hasst und Ihm in großer Feindschaft gegenübersteht, die einst ihr „Kreuzige Ihn!“ gerufen hat und bald wegen ihres an dem Sohn Gottes begangenen Mordes zur Rechenschaft gezogen werden wird! (Schluss folgt)
Fußnoten
- 1 Dieses bedeutete ein völliges Einswerden mit der Sünde. Der Priester musste die Sünde anderer auf sich nehmen und vor Gott bringen. Und da es dazu eines höheren Maßes priesterlicher Kraft bedurfte, um die Sünde anderer zu der seinigen zu machen, durfte nur „alles Männliche unter den Priestern“ davon essen. So können auch wir als Priester, so wir anders geistlich genug, sind, die Sünden anderer vor Gott bekennen und für sie Vergebung von Gott erflehen.