Botschafter des Heils in Christo 1877
Im Heiligtum
„Da wir nun, Brüder, Freimütigkeit haben zum Eintritt in das Heiligtum durch das Blut Jesu, den neuen und lebendigen Weg, den Er uns eingeweiht hat durch den Vorhang, das ist sein Fleisch, und einen großen Priester über das Haus Gottes, so lasst uns hinzutreten mit wahrhaftigem Herzen, in voller Gewissheit des Glaubens, die Herzen besprengt und also gereinigt vom bösen Gewissen und den Leib gewaschen mit reinem Wasser“ (Heb 10,19–22).
Herrliche Worte! Wessen Herz klopft nicht in heiliger Freude, wenn anders diese unendliche Gnade Gottes kennen gelernt worden ist? Wir haben Freimütigkeit, um in das Heiligtum, in den Himmel selbst, in die unmittelbare Gegenwart Gottes einzugehen. Ein armer, verlorener Sünder, ein unreines, schuldiges Geschöpf, ein Feind Gottes, ein Sklave Satans ist für die Heiligkeit des Hauses Gottes, für die Gegenwart des heiligen und gerechten Gottes fähig gemacht. Welch ein Gedanke! Nimmer würde ein solcher in dem Herzen eines Menschen aufgekommen sein. Er ist zu erhaben, zu wunderbar. Aber, Gott sei gepriesen! Es ist dennoch eine Wahrheit. Gott hat es gesagt; Er kann nicht lügen. Er bezeugt es uns; Er selbst hat dieses Wunder verrichtet. Was bei dem Menschen unmöglich ist, das ist bei Ihm möglich. Uns bleibt nichts übrig als ein Amen auf seine Zusicherungen, auf seine Verheißungen zu sagen. Wo Er spricht, da geziemt es sich für uns, zu glauben und anzubeten. Um dieses aber in Wirklichkeit tun zu können, bedarf es unserseits eines klaren Verständnisses der Gedanken des Herrn. Nichten wir daher unsere ganze Aufmerksamkeit auf die oben angeführten Worte und prüfen wir ihre herrliche Bedeutung unter der Leitung des Heiligen Geistes.
Wir haben Freimütigkeit, um in das Heiligtum einzugehen. Diese Freimütigkeit war nicht das Teil der Gläubigen des Alten Testaments. Sie durften den Vorhof nicht überschreiten. Zwar wohnte Gott inmitten seines Volkes Israel, aber Er wohnte in einem unzugänglichen Orte. Die Stiftshütte bestand aus zwei Abteilungen, aus dem Heiligen und dem Allerheiligsten; und ringsum war der Vorhof. In dem Allerheiligsten, zwischen den Cherubim der Herrlichkeit, die den Versöhnungsdeckel überschatteten, wohnte der Herr. Niemand durfte diese Stätte betreten, weder das Volk, noch selbst die Priester. Nur einmal des Jahres betrat der Hohepriester das Allerheiligste jedoch nicht um anzubeten, sondern um Versöhnung zu tun; und darum ging er nicht ohne Blut, welches er für sich selbst und für die Verirrungen des Volkes darbrachte zum Zeichen (Heb 9,7), dass sie von Rechtswegen den Tod verdient hatten und durch die Heiligkeit des Herrn vertilgt werden mussten. Die Wohnung Gottes war also für den Menschen verschlossen; der Weg zum Heiligtum war noch nicht offenbart (Heb 9,8). Der Tod würde die unvermeidliche Folge gewesen sein, wenn jemand es gewagt hätte, in der Gegenwart Gottes zu erscheinen. Und nicht nur dieses, sondern es konnte auch niemand Gott nahen ohne Vermittlung der Priester. Der Israelit, selbst der gläubige Israelit blieb im Vorhof; weiter durfte er nicht kommen. Zwischen ihm und der Wohnstätte Gottes war nicht nur der Vorhang, sondern auch eine Schar von Priestern, mittelst welcher sein Nahen zu Gott allein möglich war. Er mühte Opfer darbringen; aber das Opfern konnte nicht durch seine, sondern durch die Hand der Priester geschehen. Welch ein Unterschied zwischen ihnen und uns! Wir haben Freimütigkeit, um in das Heiligtum einzugehen. In welches Heiligtum? In die Stiftshütte? O nein; dieses Heiligtum war nur ein Gegenbild des wahrhaftigen; und dieses wahrhaftige Heiligtum ist der Himmel (Heb 9,24). Wir haben Freimütigkeit, um in die unmittelbare Gegenwart Gottes zu treten. Kein Vorhang hindert uns – der Vorhang ist zerrissen. Kein Priester steht ferner zwischen uns und Gott; wir selbst sind Priester; Gott, der da wohnt in einem unzugänglichen Licht, ist für uns zugänglich geworden.
Wie nun aber ist dieses möglich geworden? Was bei dem Menschen unmöglich ist, das ist bei Gott möglich. Das sollte schon genug sein, um uns völlig zufrieden zu stellen; allein Gott selbst gibt uns darüber Aufschluss, wie und warum dieses möglich ist. Wir haben Freimütigkeit zum Eintritt in das Heiligtum durch das Blut Jesu; ja, durch das Blut Jesu. Warum war die Wohnstätte Gottes für den Menschen verschlossen? Weil der Mensch ein Sünder ist. Gott ist „zu rein von Augen, um das Böse zu sehen“ (Hab 1,13). Solange also die Sünde nicht weggetan ist, kann niemand in der Gegenwart Gottes erscheinen. Die Sünde aber war unter dem alten Bunde nicht hinweggetan. Wie viele Millionen Opfer auch gebracht wurden, wie viel Blut auch strömen mochte, – die Sünden wurden dadurch nicht ausgelöscht: denn das Blut der Stiere und Böcke konnte unmöglich die Sünde hinwegnehmen. Im Gegenteil war das fortdauernde Blutvergießen der Beweis, dass die Sünden noch nicht beseitigt waren. Es gab alljährlich ein Erinnern der Sünden. Kein Israelit hatte oder konnte das Bewusstsein haben, dass alle seine Sünden ausgelöscht seien. Selbst wenn er die Überzeugung hatte, dass diese oder jene Sünde, die er vor Gott bekannt hatte, vergeben war (siehe u. a. Ps 32 und 51), so wusste er doch keineswegs, dass alle seine Sünden vergeben waren. Wir aber haben dieses Bewusstsein. Das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, reinigt uns von aller Sünde. Was das Blut der Stiere und Böcke nicht vermochte, das hat das Blut Jesu getan. „Siehe, ich komme, um deinen Willen, o Gott, zu tun“, sagte Er: und diesen Willen hat Er vollbracht. Er gab sich selbst hin zu einem Opfer für die Sünde. Mit unseren Sünden beladen und zur Sünde gemacht, ging Er in den Tod. Es floh sein Blut. Als ein fleckenloses Lamm gab Er für uns sein Leben in den Tod. Und sein Blut ist völlig genügend. Gott nahm es an; ja, was noch mehr sagt, Gott gab es; denn Er hat seines eigenen Sohnes nicht geschont, sondern Ihn für uns alle dahingegeben. Nach diesem Opfer folgt kein anderes. In Israel musste alljährlich Versöhnung geschehen, ein Beweis, dass sie noch nicht vollbracht war. Jetzt aber ist eine ewige Versöhnung zuwegegebracht, Jesus stirbt nicht zum zweiten Mal; ja es bedarf dessen auch nicht; denn „durch ein Opfer hat Er auf immerdar vollkommen gemacht, die geheiligt werden.“ Die Sünden aller, welche glauben, sind für immer hinweggetan. Keine einzige ist unversöhnt geblieben. Das Blut Jesu hat sie alle ausgelöscht. Darum haben wir Freimütigkeit zum Eintritt in das Heiligtum durch das Blut Jesu. Was uns den Eintritt versagte, ist beseitigt. In den Augen Gottes sind wir rein, so rein, wie das Blut Jesu uns machen kann.
Doch noch mehr. Wir gehen ins Heiligtum durch das Blut Jesu auf einem neuen und lebendigen Wege; auf einem neuen Wege gegenüber dem alten Wege des alten Bundes, und auf einem lebendigen Wege gegenüber dem toten Wege des Gesetzes. Das Gesetz ist, wie Paulus in 2. Korinther 3 sagt, der Dienst des Todes. Diesen neuen und lebendigen Weg hat Jesus für uns eingeweiht, geöffnet, zugänglich gemacht durch den Vorhang, das ist sein Fleisch. In dem Brief an die Hebräer bezieht sich alles auf die Schatten des Alten Testaments. Der Vorhang schied den Menschen von Gott. Durch diesen Vorhang bezeugte Gott, dass Er den Menschen in seiner Gegenwart nicht dulden konnte. Der Zustand, worin sich der Mensch befand, war die Ursache davon. Der Mensch war ein Sünder, und die Gerechtigkeit Gottes forderte dessen Bestrafung. Sollte Gott bleiben, wie Er ist, so musste diese Gerechtigkeit befriedigt werden. Jesus, der nicht nur ohne Sünden war, sondern an welchem, selbst da Er als Mensch auf Erden wandelte, Gott seine ganze Wonne hatte, gab sich hin in den Tod. Er unterwarf sich der Strafe. Alle Wogen des Zornes Gottes gingen über Ihn. Was wir verdient hatten, trug Er, der nichts verdient hatte, als Ehre und Herrlichkeit. Also wurde Er im Gericht unser Stellvertreter. Die Hand Gottes traf Ihn. Der Zorn Gottes kam hernieder auf sein Haupt; und auf diesem Weg befriedigte Er die Forderungen Gottes. Darum auch, als Jesus starb, zerriss der Vorhang in zwei Stücke von oben bis unten; und also hatte Gott selbst den Zugang zu seiner Wohnung dem Menschen geöffnet. Was Ihn verhinderte, um mit dem Menschen Gemeinschaft machen zu können, war durch den Tod Jesu aus dem Weg geräumt. Teurer Heiland! Wie unaussprechlich viel hast du für uns getan, welch ein herrliches Werk hast du für uns vollbracht! Ja, Zerrissen ist der Vorhang und der Himmel offen,
Das Leben und die Herrlichkeit sind unser Los.
Der Zorn, den wir verdient, hat dich für uns getroffen, O Gottes Lamm, dein' Lieb' ist groß! Dein Werk ist jetzt vollbracht! Du hast dein Blut getragen
Ins inn're Heiligtum, wo du jetzt für uns bist;
Wo du uns immerdar vertrittst in allen Lagen,
Bis jedes Glied verherrlicht ist. Aber noch mehr. Wir haben nicht nur Freimütigkeit zum Eintritt in das Heiligtum durch das Blut Jesu, den neuen und lebendigen Weg, durch den zerrissenen Vorhang hindurch, sondern wir haben auch einen großen Priester über das Haus Gottes. Welch herrliche Wahrheiten treten hier ins Licht! Nachdem der Herr auf dem Kreuz ein Opfer geworden war, ist Er Hohepriester im Himmel geworden. Auf Erden war Er kein Hohepriester; denn dann hätte Er vom Stamm Levi sein müssen, sondern Er ist Hohepriester im Himmel. „Wir haben einen großen Hohepriester, der durch die Himmel gegangen ist“ (Heb 4,14). „Die Hauptsumme aber dessen, was wir sagen, ist: Wir haben einen solchen Hohepriester, der sich gesetzt hat zur Rechten des Thrones der Majestät in den Himmeln“ (Heb 8,1). „Denn der Christus ist nicht eingegangen in das mit Händen gemachte Heiligtum, sondern in den Himmel selbst, um jetzt zu erscheinen vor dem Angesicht Gottes für uns“ (Heb 9,24). „Wir haben einen großen Priester über das Haus Gottes.“ Sein eigenes als Opfer für uns vergossenes Blut brachte Er in das himmlische Heiligtum vor den Thron Gottes; und Gott nahm es an und war dadurch befriedigt. Jesus setzte sich als Hohepriester zur Rechten Gottes, und Gott krönte Ihn mit Ehre und Herrlichkeit. Welch ein Herrliches Zeugnis von der Vollkommenheit seines Werkes! Welch ein unumstößlicher Beweis von der Zufriedenheit Gottes bezüglich dieses seines Opfers! Er sitzt stets zur Rechten Gottes; und durch seine fortdauernde Dazwischenkunft halt Er unsere Beziehung zu Gott aufrecht und sichert uns für immer den Eingang in das Heiligtum. Und Er, der zur Rechten Gottes sitzt, ist Mensch. Als Sohn Gottes gehörte Ihm die Herrlichkeit von Rechtswegen; dennoch gab Er sie hin, um Mensch zu werden, und nachdem Er Gott auf Erden verherrlicht und das Werk vollbracht hat, kommt Er, der Mensch Christus Jesus, zum Vater und sagt: „Und nun verherrliche du mich, Vater, bei dir selbst mit der Herrlichkeit, die ich der dir hatte, ehe die Welt war“ (Joh 17,5). Und Gott hat Ihn verherrlicht und Ihm einen Platz gegeben zu seiner Rechten. Der Mensch ist also in der Herrlichkeit. Dort wird einmal unser Wohnplatz sein; und jetzt schon können wir in denselben durch den Glauben eintreten. Hinschauend auf diese Freude, nicht allein, sondern mit all den Seinen im Vaterhaus zu wohnen, hat Jesus das Kreuz erduldet und der Schande nicht geachtet.
Sicher hatte daher der Apostel volle Ursache zu sagen: „Da wir nun, Brüder, Freimütigkeit haben zum Eintritt in das Heiligtum usw.“ Ja, wir haben Freimütigkeit. Nichts steht uns im Weg, nichts hindert uns. Der Weg ist gebahnt. Das Haus steht offen; und wir sind für dieses Haus passend gemacht. Man merke es indessen wohl, dass der Apostel nicht sagt: „Da wir nun, Brüder, Freiheit haben“, sondern er sagt: „Da wir Freimütigkeit haben.“ Freiheit und Freimütigkeit sind zwei ganz verschiedene Begriffe. Wenn der König dich an seinen Hof lädt, so hast du Freiheit, um der Einladung Folge zu leisten. Warum? Nun, weil der König dich eingeladen hat. Aber vielleicht sagst du: „Ich kann nicht gehen; denn mein Anzug ist nicht passend für die Gegenwart des Königs.“ Du hast also volle Freiheit; aber es fehlt dir die Freimütigkeit. Die Freiheit ist eine Folge der Einladung des Königs: die Freimütigkeit aber hängt davon ab, ob du für den königlichen Hof paffend bist. Man denke an den verlorenen Sohn. Der Vater konnte ihn wohl in seine Arme nehmen und küssen, als der Sohn noch in seinen Lumpen vor ihm stand; aber er konnte ihn nicht in seinem Haus empfangen. Darum wurde derselbe erst für das Haus passend gemacht und erst dann zu dem Festmahl zugelassen. Wir haben also die Freiheit zum Eintritt in das Heiligtum, weil Gott es öffnete und uns zum Kommen einlädt: aber wir haben auch Freimütigkeit, weil wir durch das Werk Jesu – durch seinen Tod, seine Auferstehung und Himmelfahrt – für die Gegenwart Gottes passend gemacht worden sind. Wir sind gerade so, wie jemand sein muss, welchem der Eingang in den Himmel gestattet wird, und der sich dort zu Haus fühlt. Wir sind geheiligt, gerechtfertigt, verherrlicht. Wir sind durch ein Opfer für immer vollkommen gemacht. Nicht nur sind unsere Sünden ausgelöscht, sondern wir sind auch in den Zustand gebracht, der für die Gegenwart Gottes vollkommen geeignet ist.
Wir haben Freimütigkeit zum Eintritt in das Heiligtum. Der Himmel ist geöffnet. Im Alten Testament war der Himmel geschlossen. Gott war für den Menschen unzugänglich. Selbst in der Stiftshütte, wo Er sinnbildlich zwischen den Cherubim wohnte, war seine Wohnung geschlossen. Aber als Jesus auf die Erde kam, ward der Himmel geöffnet. Wie hatte dieses auch anders sein können? Wenn der Sohn Gottes, die Wonne des Vaters und die Freude des Himmels, die Erde als seine Wohnstätte wählt, so muss der Himmel sich öffnen. Es war das Bedürfnis des Vaters, sein ganzes Wohlgefallen an Ihm auszudrücken, der auf die Erde herabgestiegen war, um seinen Willen zu erfüllen. „Dieser ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen gefunden habe.“ Das war die Stimme, die aus dem Himmel kam. Und die Engel mussten auf– und niedersteigen auf den Sohn des Menschen (Joh 1,52). Er, der Gegenstand ihrer Freude und Anbetung, befand sich auf Erden, wie hätten sie ruhig im Himmel bleiben können? Ihre Augen waren auf Ihn gerichtet. Sie kamen, um sein Lob zu verkünden, um Ihm ihre Huldigung und Anbetung darzubringen, um sich seiner vollkommenen Schönheit, die Er auch als Mensch besaß, sowie seines unter allen Umständen vollkommenen Gehorsams gegenüber dem Willen des Vaters zu erfreuen, und um Ihm zu dienen und Ihn zu stärken. Welch eine herrliche Offenbarung der Gnade Gottes! Ja wahrlich, es war nichts natürlicher, als dass, da der Sohn Gottes auf Erden wandelte, der Himmel sich öffnete; aber weißt du auch, mein Leser, aus welchem Grund dieses geschah? Der Sohn Gottes kam aus dem Himmel und betrat diese Erde, um für uns den Himmel zu öffnen. Er unterwarf sich dem ganzen Elend und der Traurigkeit eines Lebens auf Erden, um uns den Weg ins Heiligtum droben zu bahnen.
Und Er hat diesen Weg gebahnt. Ja, Er ist in den Himmel zurückgekehrt. Er hat die Herrlichkeit empfangen, die Er vor Grundlegung der Welt besaß und auf welche Er als Sohn stets ein Recht hatte, aber Er hat die Herrlichkeit als Mensch empfangen – als Mensch ist Er durch Gott mit Ehre und Herrlichkeit gekrönt und zu seiner Rechten gesetzt. Und dieses ist nicht nur um seinet–, sondern auch um unsertwillen geschehen. Er sagte zu seinen Jüngern: „In dem Haus meines Vaters sind viele Wohnungen ... ich gehe hin, euch eine Stätte zu bereiten. Und wenn ich hingegangen und euch eine Stätte bereitet habe, so komme ich wieder und will euch zu mir nehmen, auf dass, wo ich bin, auch ihr seid“ (Joh 14,2–3). Ja, diese Stätte sollte nicht allein für Ihn, sondern auch für uns sein. Hören wir, wie Er zum Vater betet: „Vater, ich will, dass die du mir gegeben hast, auch bei mir seien, wo ich bin, auf dass sie meine Herrlichkeit schauen, die du mir gegeben hast“ (Joh 17,24). Man erinnere sich nur der Begebenheiten, die bei dem Kreuzestod Jesu stattfanden. „Und siehe, der Vorhang des Tempels zerriss in zwei Stücke von oben bis unten: und die Erde erbebte, und die Felsen zerrissen, und die Grüfte wurden aufgetan, und viele Leiber der entschlafenen Heiligen wurden auferweckt, und sie gingen nach seiner Auferweckung aus den Grüften und gingen in die heilige Stadt und erschienen vielen. Als aber der Hauptmann und die mit ihm Jesus bewachten, das Erdbeben sahen und das, was geschah, fürchteten sie sich sehr und sprachen: Wahrhaftig, dieser war Gottes Sohn!“ (Mt 27,51–54) Wir sehen hier also drei Beweise für die Kraft und Vollkommenheit des vollbrachten Werkes Jesu: 1. Der Eingang zu Gott war aufgeschlossen, der Himmel geöffnet – geöffnet für den durch den Tod Jesu von Sünde, Fluch und Gericht befreiten Menschen. 2. Die Grüfte wurden geöffnet und viele Leiber der Heiligen auferweckt, die nach der Auferweckung Jesu, als Zeugen seiner Auferstehung aus dem Grab, vielen in Jerusalem erschienen. Der Tod Jesu war der Weg zum ewigen Leben. Bei seiner Auferstehung aus den Toten traten Leben und Unverderblichkeit ans Licht und wurden allen Glaubenden mitgeteilt. 3. Der heidnische Hauptmann erkannte, erleuchtet durch den Heiligen Geist, in Ihm, der da starb, den Sohn Gottes und wurde also der Erstling in der langen Reihe derer, welche an den gekreuzigten Christus, als die Ursache und den Bewirker ihres Heils, glauben sollten.
Doch es ist uns noch mehr als dieses offenbart. Nicht nur Worte, sondern auch Tatsachen sind uns mitgeteilt. Wir sehen wirklich den Himmel geöffnet; und in dem geöffneten Himmel sehen wir Jesus – den Sohn Gottes und den Sohn des Menschen – sitzen zur Rechten Gottes. Es wird uns dieses nicht nur versichert und als ein Lehrsystem angekündigt, dass der Himmel, und zwar für den Menschen, für uns, geöffnet sei, sondern es wird uns durch Tatsachen bewiesen. Es haben Menschen diesen Himmel geöffnet gesehen, und Menschen haben in der unmittelbaren Gegenwart Gottes Eingang gefunden. Man erinnere sich des Mörders am Kreuz. An demselben Tage ging er mit Jesu vom Kreuz in das Paradies Gottes. Gibt es wohl einen stärkeren Beweis für die Kraft der Gnade Gottes, für die Vollkommenheit des Wertes Christi? Wir sehen einen Mörder am Kreuz, der die Strafe, die er trug, verdient hatte, und der noch in der Frühe des Morgens ein Lästerer Jesu gewesen war, noch an demselben Abend mit Ihm, der ihn erlöste, teilnehmen an der Freude des himmlischen Paradieses. – Man denke an Stephanus, den ersten Märtyrer der Christenheit. Sein Angesicht leuchtete in Folge der Gegenwart des Herrn wie das Angesicht eines Engels. Als ein Gegenstand des wütendsten Hasses der Juden zur Stadt hinausgeschleppt und mit Steinen beworfen, sinkt er auf seine Kniee; er sieht den Himmel geöffnet und Jesus, gleichsam bereit, um seinen Jünger zu sich aufzunehmen, zur Rechten Gottes stehen, und mit den Worten: „Herr Jesu, nimm meinen Geist auf!“ geht seine Seele zu Ihm, der ihn rief. Das war keine Vision, keine Erscheinung, nein, es war Wirklichkeit. Der Himmel war wirklich geöffnet; und Stephanus sah in der Tat Jesus in der Herrlichkeit des Himmels. – Und kurze Zeit nachher liegt wieder ein Mann auf den Knien am Boden; und auch sein Auge sieht in dem geöffneten Himmel Jesus zur Rechten Gottes. Freilich ist es hier eine ganz andere Szene; aber eine Szene, die uns dieselbe Wahrheit offenbart. Wir sehen hier keinen durch die Wut der Menschen zu Tod gesteinigten Märtyrer, sondern es ist der Zeuge des Todes des Stephanus, ein Verfolger der Versammlung, der, durch die Erscheinung des Herrn zerschmettert, auf der nach Damaskus führenden Landstraße am Boden liegt. „Saul, Saul! was verfolgst du mich?“ tönt es aus dem Himmel. Köstliche Worte, die es laut bezeugen, dass die Gläubigen auf Erden eins sind mit Ihm, der zur Rechten Gottes verherrlicht ist! Die leidenden Gläubigen und der verherrlichte Jesus bilden zusammen einen Leib, so dass ihre Verfolgung seine Verfolgung ist. Dort hat Saulus den Herrn gesehen; er hat Ihn gesehen, nicht wie die Zwölf Ihn sahen, sondern er hat Ihn gesehen im Himmel, mit Ehre und Herrlichkeit gekrönt (1. Kor 15). Und etliche Zeit nachher wurde Paulus in den dritten Himmel entrückt, wo er „unaussprechliche Worte hörte, die der Mensch nicht sagen darf.“ Wenn er dieses wunderbare Ereignis den Korinthern mitteilt, dann sagt er nicht: „Ich, Paulus, bin bis in den dritten Himmel entrückt worden“, sondern er sagt: „Ich kenne einen Menschen in Christus“ (1. Kor 12), um dadurch auszudrücken, dass ihm dieses Vorrecht zu Teil geworden, nicht weil er Paulus, sondern weil er ein Mensch in Christus war. Denn obwohl wir sonst niemanden kennen, der in den Himmel entrückt worden ist, so würde doch jeder Christ, gemäß seiner Stellung in Christus, jeden Augenblick von dieser Erde in den Himmel entrückt werden können. Und dieses wird tatsächlich mit allen Gläubigen geschehen bei der Ankunft des Herrn. In einem Nu, in einem Augenblick werden, nachdem der sterbliche Leib in den unsterblichen verwandelt worden, alle in den geöffneten Himmel eingehen und die für sie bereitete Statte im Vaterhaus einnehmen. Welch eine herrliche, glückselige Aussicht!
Der Himmel ist also geöffnet. Wir haben Freimütigkeit zum Eintritt in das Heiligtum. Daraus folgt selbstredend, dass es auf Erden kein Heiligtum mehr gibt. Solange ein Heiligtum auf Erden bestand, wohnte Gott hinter dem Vorhang, und der Weg zu Gott war noch nicht geöffnet. Aber da jetzt der Vorhang zerrissen, das irdische Heiligtum verwüstet und das himmlische Heiligtum geöffnet ist, so kann von einem Heiligtum Gottes auf Erden keine Rede mehr sein. Darum sagte der Herr Jesus zu dem samaritischen Weibe, dass die Stunde gekommen sei, in welcher die wahren Anbeter Gottes Ihn weder auf dem Berg Garizim, noch in Jerusalem anbeten würden. Die wahren Anbeter beten den Vater im Geist und in der Wahrheit an. Hier auf Erden ein Heiligtum aufrichten zu wollen und von einem Haus Gottes hienieden zu sprechen, ist ein zurückkehren zu den Schatten und Bildern des Alten Testaments und ein Verkennen der Vollkommenheit des Werkes Christi. Und dieses ist von dem Augenblick an geschehen, als man einen besonderen Stand von Priestern oder Gläubigen einführte. Alle Gläubigen sind Priester; alle haben Freimütigkeit zum Eintritt in das Heiligtum: niemand ist davon ausgeschlossen. Alle haben das Vorrecht, Gott ihre geistlichen Opfer darzubringen. Unsere Stellung bildet zu derjenigen des Alten Testaments geradezu einen Gegensatz. Das Volk Gottes befindet sich nicht mehr im Vorhof, sondern im Heiligtum, in der unmittelbaren Gegenwart Gottes. Ach, wie tief ist die Versammlung Gottes ihrem Standpunkt entrückt! Das allgemeine Priestertum der Heiligen ist so sehr in den Hintergrund geschoben, dass viele kaum wissen, ob es noch vorhanden ist. Überall hat man stolze Gebäude aufgerichtet und sie mit dem Namen von Gotteshäusern gestempelt; überall hat man einen besonderen Stand von Priestern oder Geistlichen eingeführt und dadurch die Gläubigen ihrer herrlichen Vorrechte beraubt. Ach, möchte das Auge der Kinder Gottes sich doch wieder über diesen Punkt öffnen! Möchte man doch wieder zu der Einfalt des Glaubens und der Wahrheit des Wortes Gottes zurückkehren! Wie viel größer würde dann der Genuss und die Freude, wie viel würdiger die Verherrlichung und Anbetung Gottes sein!
Doch es ist nicht genügend, dieses alles zu sehen und unsere Vorrechte zu kennen; wir müssen auch Gebrauch davon machen. Mag der Himmel geöffnet sein, mögen wir Freimütigkeit zum Eintritt in das Heiligtum haben, was wird es der Verherrlichung Gottes und unserer Freude nützen, wenn wir nicht wirklich eintreten. Darum ruft uns der Apostel ermahnend zu: „Da wir nun, Brüder, Freimütigkeit haben zum Eintritt in das Heiligtum durch das Blut Jesu, – so lasst uns hinzutreten mit wahrhaftigem Herzen, in voller Gewissheit des Glaubens, die Herzen besprengt und also gereinigt vom bösen Gewissen, und den Leib gewaschen mit reinem Nasser.“ Wir sind Priester Gottes, und darum erwartet uns Gott als Priester in seinem Heiligtum. Er will durch uns bedient und verherrlicht werden. Das ist sein Recht und unser Vorrecht. Tun wir es nicht, so entziehen wir Ihm das, was Ihm zukommt, und wir berauben uns selbst des Segens und der Freude, die in seinem Dienst genossen werden. Ja, geliebte Brüder, lasst uns hinzutreten! Lasst uns als Priester Gottes unsere Opfer darbringen – nicht mehr Opfer von Weihrauch und Wein, sondern Opfer des Lobes und der Danksagung, und auch Opfer des Wohltuns und des Mitteilens (Heb 13)! Machen wir Gebrauch von unseren herrlichen Vorrechten! Erfreuen wir uns der Gegenwart des Herrn! Wir befinden uns in einer Stellung, um es tun zu können. „Lasst uns hinzutreten“, sagt der Apostel, „die Herzen besprengt und also gereinigt vom bösen Gewissen, und den Leib gewaschen mit reinem Wasser.“ Auch dieses ist wieder eine Anspielung aus das Alte Testament. Ein jeder, welcher Priester wurde, musste in dem Wasser des kupfernen Gefäßes ganz gewaschen, dann mit der priesterlichen Kleidung bekleidet, mit Blut besprengt und mit Öl gesalbt werden. Dann konnte er den priesterlichen Dienst üben. Ebenso sind auch wir als Priester von Gott ganz gereinigt und zur priesterlichen Bedienung fähig gemacht. „Ihr seid abgewaschen, ihr seid geheiligt, ihr seid gerechtfertigt“, schreibt Paulus an die Korinther. Wir sind durch das Wort geheiligt oder abgesondert, mit Blut besprengt, mit den Kleidern des Heils und der Gerechtigkeit bekleidet und mit dem Heiligen Geist gesalbt. Glückseliges Vorrecht! O möchten wir doch einen völligen Gebrauch davon machen!
Geliebte Brüder! Lasst uns doch hinzutreten mit wahrhaftigem Herzen und in voller Gewissheit des Glaubens. Wir haben in der Tat dazu alle Ursache. Wir haben keinen Grund, um Zweifelnd fern zu stehen. Der Herr hat alles zuvor gesehen und für alles gesorgt. Wollt ihr dem Zeugnis Gottes keinen Glauben schenken? O ich weiß es wohl, dass es viele gibt, die es nicht anzunehmen wagen, denen die Segnungen Gottes zu groß, zu herrlich sind. Aber habt ihr wohl einmal darüber nachgedacht, dass ihr Gott zu einem Lügner macht, wenn ihr sein Zeugnis nicht annehmt? Das wollt ihr zwar nicht, ich weiß es wohl; aber ihr tut es dennoch. Wie oft zeigt ihr auf Abraham und David hin, um euch zu entschuldigen. Ach, tut es nicht; denn Abraham und David werden euch sonst einmal verurteilen. Sie glaubten dem, was Gott zu ihnen sprach; tut desgleichen! Glaubt, was Gott euch offenbart hat. Wenn ihr das tut, so verherrlicht ihr Gott, und ihr werdet euch unaussprechlich freuen. Ja, die Freude einer Seele, die in Bezug auf Jesus und sein Werk dem Zeugnis Gottes glaubt, ist nicht zu beschreiben. – Der Herr gebe uns allen ein wahrhaftiges, aufrichtiges Herz und eine volle Gewissheit des Glaubens, um in das himmlische Heiligtum einzutreten, wo Jesus der Hohepriester ist, und wo wir mit voller Freimütigkeit erscheinen dürfen – jetzt durch den Glauben, später in Wirklichkeit, um dann ungestört und ewig die Nähe und die Freude des Herrn zu genießen!