Botschafter des Heils in Christo 1877

Was ist eine Sekte?

Der Ausdruck „Sekte“, eine Übersetzung des griechischen Wortes „hairesis“ findet sich sechsmal in der Apostelgeschichte 1 und bezeichnet eine Lehre oder ein System auf philosophischem oder religiösem Gebiet, dargestellt durch diejenigen, die gemeinschaftlich diese Lehre oder dieses System angenommen haben. Die Bezeichnung dieses Wortes hat in unseren Tagen einigermaßen eine Veränderung erfahren, da der größte Teil der Christenheit sich den Namen „katholische, d. h. allgemeine Kirche“ beigelegt hat. Jede religiöse Körperschaft, jede christliche Versammlung, welche nicht dieser so genannten katholischen Gemeinschaft angehört, wurde von diesem Augenblick an durch dieselbe als eine Sekte betrachtet. Dadurch aber hat das Wort eine falsche Deutung bekommen.

Alle christlichen Körperschaften werden oft „Sekten“ genannt, sobald sie sich von den Christen im Allgemeinen, oder von denen trennen, welche diesen Namen tragen. Jedoch trägt das Wort „Sekte“ an und für sich schon mehr oder weniger eine Missbilligung dessen, von dem man ausgegangen ist, zur Schau, indem die, welche einer Sekte angehören, durch eine besondere Lehre oder unter einem besonderen Namen vereinigt sind. Man kann nicht sagen, dass diese Anschauungsweise ganz falsch ist; die Anwendung kann falsch sein, nicht aber der Begriff selbst. Das, was für uns von Wichtigkeit ist, besteht darin, zu untersuchen, was uns das Recht gibt, eine Vereinigung von Christen eine „Sekte“ zu nennen. Da nun das Wort „Sekte“ auf christliche Versammlungen oder Körperschaften angewandt wird, so muss man, um richtig zu urteilen, den wahren Grundsatz kennen, nach welchem die Christen sich vereinigen dürfen. Alles, was nicht auf diesen Grundsatz gestellt ist, ist tatsächlich eine „Sekte“.

Obgleich die Anwendung, welche seitens der so genannten Katholiken von dieser Wahrheit gemacht wird, höchst falsch und verkehrt ist, so ist es dennoch nicht weniger wahr, dass die Einheit der Kirche oder der Versammlung für die Christen – sei es die Einheit aller, als Personen in der Welt dargestellt (Joh 17), sei es die Einheit des durch den Heiligen Geist gebildeten Leibes Christi (Apg 2; 1. Kor 12), – von höchster Bedeutung ist.

So betet, nach Johannes 17, der Herr, hinschauend auf die durch das Wort der Apostel an Ihn Glaubenden, zum Vater: „Auf dass sie alle in uns eins seien, auf dass die Welt glaube, dass du mich gesandt hast“ (V 21). Dieses ist die praktische Einheit der Christen in der Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn. Die Apostel mussten durch die Wirkung eines und desselben Geistes eins sein in der Gesinnung, in den Gedanken und Handlungen, gleich wie der Vater und der Sohn in der Einheit der göttlichen Natur (V 11); danach mussten die durch ihr Wort an Ihn Glaubenden eins sein in der Gemeinschaft des Vaters und des Sohnes (V 21); und endlich werden wir vollkommen sein in der Einheit der Herrlichkeit. Doch auch jetzt schon müssen wir diese Einheit offenbaren, auf dass die Welt glaube (V 21). Überdies hat der auf Pfingsten herniederkommende Heilige Geist alle die Gläubigen zu einem Leib getauft und sie als Leib mit Christus, dem Haupt, vereinigt, um auf der Erde diese Einheit zu offenbaren (1. Kor 12,13). Man sieht deutlich, dass das 12. Kapitel des ersten Korintherbriefes durch die Erklärung: „Wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit; wenn ein Glied verherrlicht wird, so freuen sich alle Glieder mit“, – die Stellung der Gläubigen hier auf Erden bezeichnet: denn im Himmel kann man nicht leiden. Und der Heilige Geist fügt hinzu: „Ihr aber seid der Leib Christi, und Glieder in Sonderheit“ (V 26–27).

Das ganze Kapitel behandelt dieselbe Wahrheit; aber die angeführten Stellen beweisen zur Genüge, dass von der Versammlung auf Erden die Rede ist. Wir haben hier also die durch den Heiligen Geist gewirkte wahre Einheit, und zwar die Einheit der Gläubigen unter einander und die Einheit des Leibes.

Es ist der Sektengeist, worin man die Gläubigen auf einer anderen und nicht auf dieser Grundlage der Einheit vereinigen will; es ist der Sektengeist, wenn man dieses oder jenes Bekenntnis zur Grundlage macht, oder wenn man diejenigen, welche gewisse Wahrheiten in derselben Art und Weise ans Licht stellen, mittelst dieser Formel zu einem Leib stempeln will. Eine solche Einheit wurzelt nicht in dem Grundsatz der Einheit des Leibes oder der Vereinigung der Gläubigen. Wenn einzelne Personen sich in dieser Weise zu einer Genossenschaft vereinigt haben und sich unter einander als Glieder dieser Vereinigung anerkennen, so bilden sie in der Tat eine „Sekte;“ weil der Grundsatz einer solchen Versammlung nicht die Einheit des Leibes Christi ist, und weil die Glieder derselben sich nicht – obwohl sie es sein mögen – als Glieder des Leibes Christi, sondern als Glieder einer besonderen Genossenschaft vereinigen. Alle Christen sind Glieder des Leibes Christi und machen ein Auge, oder eine Hand, oder einen Fuß dieses Leibes aus. Mitglied irgendeiner Kirche zu sein, ist ein Begriff, der in der Heiligen Schrift nirgends gefunden wird. Der Heilige Geist stellt die Versammlung auf Erden als einen Leib dar, wovon Christus das Haupt ist (Eph 1; Kol 1).

Jeder Christ ist ein Glied dieses Leibes, nämlich des Leibes Christi. Die Mitgliedschaft einer besonderen Genossenschaft ist ein ganz anderer Begriff. Die Feier des Abendmahls ist der Ausdruck dieser Einheit, wie wir dieses in 1. Korinther 10,17 finden, so dass, wenn eine christliche Genossenschaft das Recht, am Tisch des Herrn zu sitzen, nur ihren Gliedern als solchen zuerkennt, hierdurch eine Einheit anerkannt wird, die in der Tat mit der Einheit des Leibes Christi im Widerspruch steht. Es ist möglich, dass dieses aus Unkenntnis getan wird; es ist möglich, dass diese Christen es nie begriffen haben, was die Einheit des Leibes Christi ist, und dass es Gottes Wille ist, diese Einheit auf Erden zu offenbaren; aber tatsächlich bilden sie eine Sekte und leugnen die Einheit des Leibes Christi. Es gibt viele, die Glieder des Leibes Christi, aber keine Glieder dieser Genossenschaft sind; und ihr Abendmahl ist, obwohl die Glieder in einer frommen Gesinnung daran teilnehmen, nicht der Ausdruck der Einheit des Leibes Christi, sondern nur der Einheit dieser Genossenschaft.

Nun aber stellt sich eine Schwierigkeit vor unser Auge. Die Kinder Gottes sind zerstreut. Viele fromme Brüder sind Glieder der einen oder der anderen Genossenschaft, oder klammern sich an den einen oder den anderen Punkt der Wahrheit, und vielleicht stehen sie sogar bezüglich ihres Gottesdienstes in mancher Hinsicht mit denen, die von der Welt sind, in Verbindung. Ach, wie viele gibt es, die gar keine Vorstellung von der Einheit des Leibes Christi haben, oder die die Notwendigkeit, diese Einheit auf Erden zu offenbaren, durchaus nicht anerkennen! Doch dieses alles macht die Wahrheit Gottes nicht kraftlos. Sie, die sich als Glieder einer Genossenschaft oder einer Vereinigung versammeln, sind, wie bereits gesagt, grundsätzlich nichts anders als eine Sekte. Wenn ich alle Christen als Glieder des Leibes Christi anerkenne, wenn ich sie liebe und sie – vorausgesetzt, dass sie in der Wahrheit und Heiligkeit wandeln und den Herrn aus reinem Herzen anrufen (2. Tim 2,19–22) – am Tisch des Herrn mit Freuden empfange, dann – wenn ich auch nicht alle Kinder Gottes zusammen zu bringen vermag – wandle ich nicht im Sektengeist; denn ich wandle nach dem Grundsatz der Einheit des Leibes Christi, und ich strebe nach der praktischen Vereinigung der Gläubigen. Wenn ich mich mit anderen Gläubigen vereinige, um einfach als Glied des Leibes Christi, und nicht als Glied irgendeiner kirchlichen Gemeinschaft, am Tisch des Herrn zu sitzen, – wenn ich in der Tat in der Einheit des Leibes bereit bin, alle Christen, die in der Gottseligkeit und in der Wahrheit wandeln, an der Feier des Abendmahls Teil nehmen zu lassen, dann bin ich kein Glied irgendeiner Sekte, sondern ich bin nur ein Glied des Leibes Christi. Aber jede Vereinigung auf irgendeinem anderen Grundsatz, und zwar um eine kirchliche Körperschaft zu bilden, ist Sektiererei. Der Grundsatz ist sehr einfach. Die Schwierigkeiten in der Verwirklichung desselben sind wegen des wirklichen Zustandes, worin sich die Versammlung Gottes befindet, durchaus nicht gering. Doch Christus ist für alles völlig genügend, und wenn wir zufrieden sind, in den Augen der Menschen gering zu erscheinen, dann ist die Sache so schwierig nicht.

Eine Sekte ist also eine kirchliche Körperschaft, die sich nach einem anderen Grundsatz, als dem der Einheit des Leibes Christi vereinigt. Eine solche religiöse Körperschaft ist systematisch eine Sekte, wenn die, welche einen Teil derselben ausmachen, als deren Glieder betrachtet werden. Auch wandelt man im Sektengeiste, wenn man nur gewisse Personen anerkennt und zulässt. Wir sprechen hier nicht von der Zucht, welche in der Mitte des einen Leibes Christi ausgeübt wird, sondern von dem Grundsatz, nach welchem man sich vereinigt. Das Wort Gottes spricht nicht von der Mitgliedschaft irgendeiner Kirchengemeinschaft, sondern nur von den Gliedern des Leibes Christi. Diese Glieder nun sind berufen, die Einheit zu offenbaren, und zwar dadurch, dass sie zusammen wandeln. Wir können auf Matthäus 18,20 hinweisen, als auf eine köstliche Ermunterung in diesen Tagen der Zersplitterung, in dieser bösen Zeit des Endes, wo der Herr uns verheißen hat, in der Mitte zu sein überall, wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind.

Inmitten der um uns herrschenden Verwirrung besitzen wir auf dem Weg, der uns zu gehen verordnet ist, einen Leitfaden in den Worten: „In einem großen Haus aber sind nicht allein goldene und silberne Gefäße, sondern auch hölzerne und irdene; und die Einen zur Ehre, die Anderen aber zur Unehre. Wenn sich nun jemand von diesen reinigt, der wird ein Gefäß zur Ehre sein, geheiligt, nützlich dem Hausherrn, zu jedem guten Werk bereitet. Die jugendlichen Lüste aber fliehe; strebe aber nach Gerechtigkeit, Glauben, Liebe, Frieden mit denen, die den Herrn anrufen aus reinem Herzen“ (2. Tim 2,20–22). J. N. D.

Fußnoten

  • 1 Außer in der Apostelgeschichte finden wir diesen Ausdruck auch noch in Galater 5,20, in 2. Petrus 2,1 und in 1. Korinther 11,19, in letzterem Fall aber durch „Parteiungen“ übersetzt.
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