Botschafter des Heils in Christo 1877
Das Werk eines Evangelisten
Bei der Betrachtung unseres Gegenstandes können wir wohl nichts Besseres zu Grund legen, als einen Abschnitt aus der Missionsgeschichte eines der größten Evangelisten. Die oben angeführte Schriftstelle zeigt uns drei verschiedene Klassen von Hörern und ebenso die Art und Weise, wie der große Apostel der Nationen, geleitet durch den Heiligen Geist, ihnen begegnet. Wir haben zuerst den ernsten Sucher, zweitens den falschen Bekenner und drittens den verhärteten Sünder. Diesen drei Klassen begegnen die Arbeiter des Herrn überall und zu allen Zeiten, und deshalb können wir dankbar sein für eine inspirierte Mitteilung, welche uns die richtige Methode im Verkehr mit ihnen anweist. Es ist sehr wünschenswert, dass diejenigen, welche das Evangelium verkündigen, Erfahrung oder Geschicklichkeit besitzen, um den verschiedenen Seelenzuständen, die ihnen von Tag zu Tag vorkommen, auf die rechte Weise zu begegnen; und es gibt wohl kein wirksameres Mittel, um diese Geschicklichkeit zu erlangen, als das sorgfältige Studium der Beispiele, die uns durch den Heiligen Geist vor Augen gestellt werden.
Lasst uns nun zunächst einen Blick auf die Geschichte des ernsten Suchers werfen. Der stets tätige Apostel kam auf seinen Missionsreisen nach Troas und dort erschien ihm in der Nacht ein Gesicht: „Es war ein gewisser mazedonischer Mann, der dastand und ihn bat und sprach: Komm herüber nach Mazedonien und hilf uns! Als er aber das Gesicht gesehen hatte, suchten wir sogleich nach Mazedonien abzureisen, indem wir schlossen, dass der Herr uns gerufen habe, ihnen die gute Botschaft zu verkündigen. Wir fuhren nun von Mazedonien ab und liefen gerade in Samothraze ein und am folgenden Tage nach Neapolis und von da nach Philippi, welche die erste Stadt jenes Teiles in Mazedonien ist, eine Kolonie. In jener Stadt aber verweilten wir einige Tage. Und am Tag des Sabbats gingen wir hinaus vor das Tor an einen Fluss, wo es gebräuchlich war, das Gebet zu tun: und wir setzten uns nieder und redeten zu den Weibern, die zusammengekommen waren. Und ein gewisses Weib, Namens Lydia, eine Purpurkrämerin aus der Stadt Thyatira, welche Gott anbetete, hörte zu, deren Herz der Herr auftat, dass sie Acht gab auf das, was von Paulus geredet ward. Als sie aber getauft worden war und ihr Haus, bat sie und sagte: Wenn ihr urteilt, dass ich treu sei dem Herrn, so kehrt in mein Haus ein und bleibt. Und sie nötigte uns“ (Apg 16,9–15).
Hier haben wir ein rührendes Bild – etwas, das wert ist, bewundert und betrachtet zu werden. Es ist das Bild einer Seele, die durch die Gnade ein gewisses Maß von Licht erhalten hat, die dem gemäß lebt und ernstlich sucht, mehr zu erlangen. Lydia, die Purpurkrämerin, gehört zu derselben Klaffe, zu welcher auch der Eunuch aus Äthiopien (Apg 8) und der Hauptmann von Cäsarea gehörte (Apg 10). Alle drei erscheinen in der Heiligen Schrift als erweckte Seelen, die nicht befreit, nicht beruhigt und nicht befriedigt sind. Der Eunuch war von Äthiopien nach Jerusalem gereist, um dort etwas zu suchen, worauf seine geängstigte Seele ruhen konnte. Allein er hatte jene Stadt unbefriedigt verlassen und las mit Andacht und Ernst in dem gesegneten Buch der göttlichen Eingebung. Das Auge Gottes ruhte auf ihm: Er sandte seinen Diener Philippus, um ihm eben das zu verkündigen, was nötig war, seine Schwierigkeiten zu beseitigen und seine Fragen zu beantworten; und seine Seele fand die ersehnte Ruhe. Gott weiß einen Philippus und einen Eunuchen zusammenzubringen; Er weiß das Herz für die Botschaft zuzubereiten und die Botschaft für das Herz. Der Eunuch war ein Anbeter Gottes; aber Philippus wird zu ihm gesandt, um ihn zu unterweisen, Gott in der Person Jesu Christi zu sehen. Und dies war es, was er bedurfte. Es war ein Strahl des hellen Lichtes, der auf seinen ernsten Geist fiel, der sein Herz und sein Gewissen zur Ruhe brachte und ihn seinen Weg mit Freuden ziehen ließ. Er war aufrichtig dem Licht gefolgt, als es in seine Seele drang, und Gott gab ihm mehr.
So ist es immer; „dem, der hat, wird gegeben werden.“ Eine Seele, die aufrichtig das ihr geschenkte Licht benutzt, wird immer mehr Licht empfangen. Dies ist sehr tröstlich und ermunternd für alle, die mit aufrichtigem Herzen suchen. Wenn du, mein Leser, zu dieser Klasse gehörst, so fasse nur Mut. Wenn du einer von denen bist, in welchen Gott zu wirken angefangen hat, so sei versichert, dass Er, der angefangen hat, auch vollenden wird. Möge aber niemand seine Hände in den Schoß legen und gleichgültig sagen: „Ich muss warten, bis Gott mir mehr Licht gibt; ich kann nichts tun, meine Anstrengungen sind nutzlos; wenn Gottes Zeit kommt, werde ich bereit sein, bis dahin muss ich bleiben, wie ich bin.“ Dies waren nicht die Gedanken und Gefühle des äthiopischen Eunuchen. Er war einer von den ernsten Suchern; und alle ernsten Sucher werden glückliche Finder werden. Es kann nicht anders sein, denn „Gott ist denen, die Ihn suchen, ein Belohner“ (Heb 11,6).
Ebenso war es auch mit dem Hauptmann von Cäsarea. Er war ein Mann von derselben Gesinnung: er lebte dem ihm gegebenen Licht gemäß. Er fastete, betete und gab dem Volk Almosen. Es wird uns nicht erzählt, dass er die Bergpredigt gehört hatte: aber es ist bemerkenswert, dass er sich in drei Hauptzweigen der praktischen Gerechtigkeit übte, die durch unseren Herrn im 6. Kapitel des Evangeliums Matthäus dargestellt werden, nämlich im Almosengeben (V 2), im Gebet (V 5), und im Fasten (V 16). Kornelius richtete seinen Weg und sein Betragen nach der Richtschnur ein, die Gott ihm vorgezeichnet hatte. Seine Gerechtigkeit übertraf die der Schriftgelehrten und Pharisäer, und deshalb ging er in das Reich ein. Er war durch die Gnade wirklich ein Mann, der ernstlich dem Licht folgte, als es in seine Seele drang; und er wurde bis zu dem vollen Glänze des Evangeliums der Gnade Gottes geführt. Gott sandte dem Kornelius einen Petrus, wie Er dem Eunuchen einen Philippus gesandt hatte. Die Gebete und Almosen waren hinaufgestiegen in das Gedächtnis vor Gott; und Petrus wurde zu ihm gesandt mit der Botschaft einer vollkommenen Errettung durch einen gekreuzigten und auferstandenen Heiland.
Nun ist es wohl möglich, dass es gegenwärtig in der Christenheit Tausende von Personen gibt, die, eingeschläfert in der Wiege eines oberflächlichen, evangelischen Bekenntnisses und auferzogen in den geläufigen Formen einer selbstgenügsamen und den Weg zum Himmel leichtmachenden Religion, bereit sind, das gottesfürchtige Verhalten des Kornelius zu verurteilen und als eine Frucht der Unwissenheit und Gesetzlichkeit zu bezeichnen. Solche Personen haben aber wohl nie erfahren, was es heißt, einer Mahlzeit zu entsagen, oder eine Stunde in wirklichem, ernstem Gebet zuzubringen, oder die Hand zu wahrem Wohltun zu öffnen und den Bedürfnissen der Armen zu begegnen. Sie haben gehört und vielleicht gelernt, dass die Errettung nicht durch solche Mittel erlangt wird – dass wir durch Glauben ohne Werke gerechtfertigt werden – dass das Heil für den ist, der nicht wirkt, sondern an den glaubt, der den Gottlosen rechtfertigt. Alles dieses ist wahr: aber welches Recht haben wir, zu denken, dass Kornelius betete, fastete und dem Volk Almosen gab, um dadurch die Errettung zu erlangen? Durchaus keins – wenigstens wenn wir uns durch die Mitteilung der Schrift leiten lassen; und ein anderes Mittel haben wir nicht, um irgendetwas über diese wirklich ausgezeichnete und interessante Person zu wissen. Er wurde durch den Engel benachrichtigt, dass seine Gebete und Almosen hinaufgestiegen seien in das Gedächtnis vor Gott. Ist das nicht ein klarer Beweis, dass diese Gebete und Almosen nicht der Schmuck der Selbstgerechtigkeit waren, sondern einer Gerechtigkeit, die sich auf du Erkenntnis, die er von Gott hatte, gründete? Sicher, die Früchte der Selbstgerechtigkeit und Gesetzlichkeit wären nie in das Gedächtnis vor Gott hinaufgestiegen, noch hätte Petrus von einem rein gesetzlichen Menschen sagen können, dass er ein Mann sei, welcher Gott fürchtete und Gerechtigkeit wirkte.
Ja, mein Leser, Kornelius war ein durchaus ernster Mann. Er lebte dem gemäß, was er wusste, und er würde verkehrt gehandelt haben, wenn er weitergegangen wäre. Die Errettung seiner unsterblichen Seele, der Dienst Gottes und die Ewigkeit waren für ihn große, alles in Anspruch nehmende Wahrheiten. Er war keiner von jenen Gelehrten, die voll von geläufigen, geist– und wertlosen Reden, aber ohne Taten sind. Er gehörte einer ganz anderen Klasse an; er war ein Freund der Tat und nicht der Worte. Er war einer, auf dem das Auge Gottes mit Wohlgefallen ruhte.
Und so war es auch mit Lydia, der Purpurkrämerin von Thyatira. Sie befand sich mit dem Hauptmann und dem Eunuchen auf gleichem Standpunkt. Es ist in der Tat köstlich, diese drei teuren Seelen zu betrachten, und es ist außerordentlich erfrischend, solche offenen, energischen und ernsten Seelen mit vielen in unseren Tagen des gepriesenen Lichtes und der Aufklärung zu vergleichen – mit vielen, die den so genannten Heilsplan in ihrem Kopf und die Lehre von der Gnade auf der Zunge haben, aber die Welt im Herzen; deren einziger, alles in Anspruch nehmender Gegenstand vom Morgen bis zum Abend das eigene Ich ist – wahrlich, ein erbärmlicher Gegenstand!
Wir wenden uns jetzt zu der Lydia; und wir müssen bekennen, dass dies ein weit angenehmerer Gegenstand ist. Es ist klar, dass Lydia, ebenso wie Kornelius und der Eunuch, eine erweckte Seele war; sie war eine Anbeterin Gottes. Sie war gewiss sehr froh, dass sie ihren Purpurhandel ein wenig bei Seite setzen und sich zu einer Gebetsversammlung begeben konnte, wo geistlicher Vorteil zu erlangen war, und wo man sich mit besseren Dingen beschäftigte. Wir finden sie an dem Ort, wo einige gottesfürchtige, verwandte Seelen sich zu versammeln pflegten, um ihr Gebet zu verrichten.
Welch eine liebliche Szene! Es tut dem Herzen wohl, mit diesem tiefen Ernst in Berührung zu kommen. Sicherlich hat der Heilige Geist auch diese Erzählung, wie alle anderen, zu unserer Belehrung geschrieben. Sie ist uns als ein Beispiel vorgestellt, und wir tun wohl, es zu beachten. Wir sehen, wie Lydia die Gelegenheit zur Förderung ihrer Seele benutzte; sie brachte in der Tat die wirklichen Früchte des ewigen Lebens hervor, die wahren Triebe der neuen Natur. Sie legte nicht ihre Hände in den Schoß, um in strafbarer Nachlässigkeit und Trägheit zu warten, bis etwas Außerordentliches und geheimnisvolles von oben über sie kommen würde. Nein, sie ging in eine Gebetsversammlung – an den Ort, wo man Segen erwartete, und dort begegnete ihr Gott, wie Er sicherlich einem jeden begegnen wird, der in dem Geist der Lydia solche Zusammenkünfte besucht. Gott hält sich nie ferne von einem verlangenden Herzen. Er hat gesagt: „Sie werden nicht beschämt werden, die auf mich harren;“ und wie ein klarer und lieblicher Sonnenstrahl glänzt in der Heiligen Schrift jene wichtige und die Seele ermunternde Stelle: „Gott ist denen, die Ihn suchen, ein Belohner.“ Er sandte Philippus zu dem Eunuchen in der Wüste Gaza; Er sandte Petrus zu dem Hauptmann in der Stadt Cäsarea; Er sandte Paulus zu der Purpurkrämerin in den Vorstädten von Philippi; und Er wird auch dem Leser dieser Zeilen eine Botschaft senden, wenn er wirklich ein ernster Sucher des göttlichen Heils ist.
Es ist immer ein feierlicher Augenblick, wenn eine zubereitete Seele mit dem vollen Evangelium der Gnade Gottes in Berührung gebracht wird. Es mag sein, dass diese Seele eine lange Zeit in ernster und schmerzlicher Weise Ruhe suchte, ohne sie zu finden. Der Herr war durch seinen Geist beschäftigt, den Boden für den guten Samen zuzubereiten. Er machte die Furchen tief, damit der kostbare Same seines Wortes reichlich Wurzel schlagen und Früchte zu seinem Lob hervorbringen möchte. Der Heilige Geist ist nie eilig; sein Werk ist tief, sicher und gewiss. Seine Pflanzen sind nicht wie der Kürbis des Propheten Jonas, der in einer Nacht entstand und in einer Nacht verging. Alles, was Er tut, wird bestehen: gepriesen sei sein Name! Wenn Er eine Seele bekehrt und befreit, so wird das Siegel seiner eigenen ewigen Hand auf allen Teilen seines Werkes zu erkennen sein.
Auch für Lydia muss es ein Augenblick von hohem Interesse gewesen sein, als sie mit dem herrlichen Evangelium, das Paulus verkündigte, in Berührung kam (Apg 16,14). Sie war vollkommen für seine Botschaft zubereitet und sicherlich die Botschaft auch für sie. Er verkündigte ihr Wahrheiten, die sie nie gehört und woran sie nie gedacht hatte. Als eine gottesfürchtige und ernste Frau war sie gekommen, um anzubeten, um nach den Beschwerden der Woche Erfrischung für ihren Geist zu bekommen. Wie wenig dachte sie daran, dass sie in jener Versammlung den größten Prediger hören würde, der – einen ausgenommen – je gelebt hat, und dass sie die herrlichste Botschaft der Wahrheit vernehmen würde, die je sterbliche Ohren vernommen haben! Nie wichtig war es für Lydia, in jener denkwürdigen Versammlung gegenwärtig zu sein! Wie gut war es, dass sie es nicht machte wie so viele heutigen Tages, die des Sonntags nach einer Woche von Arbeit und Mühe in den Geschäften, Fabriken und Werkstätten oder auf dem Acker, nur an ihre leibliche Ruhe oder Ausspannung denken, die keine Sorge tragen für ihre Seelen, keine Sorge für die Ewigkeit und für Christus! Sie sind nur besorgt für sich selbst, für ihre Familie, für die Welt und für das Geld.
Lydia gehörte durchaus nicht zu dieser Klasse von Menschen. Ohne Zweifel betrieb sie mit Fleiß ihr Geschäft, wie das jeder aufrichtig Gesinnte tun wird. Aber sie benutzte den Sabbat nicht, um sich zu pflegen, oder mit dem, was sie in der Woche zu tun hatte, beschäftigt zu sein. Auch glauben wir nicht, dass sie zu jenen gehörte, die sogar ein Regenschauer abhalten kann, die Versammlung zu besuchen. Nein, Lydia war eine ernste Frau, welche fühlte, dass sie eine Seele hatte, die errettet werden musste, welche eine Ewigkeit vor sich sah und einen lebendigen Gott, dem sie dienen und den sie verherrlichen musste.
Möchte der Herr uns mehr solcher Lydias in unseren Tagen geben! Es würde dem Werk eines Evangelisten einen Reiz, ein Interesse und eine Erfrischung verleihen, wonach sich viele Arbeiter des Herrn vergeblich sehnen. Wir leben in einer Zeit schrecklicher Gleichgültigkeit bezüglich der göttlichen und ewigen Dinge. Männer, Frauen und Kinder sind eifrig genug, wenn es sich um ihren Verdienst, ihre Bestrebungen und Vergnügungen handelt; aber ach, wenn die Dinge Gottes, die Dinge der Seele und der Ewigkeit in Frage kommen, so ist der Anblick des Menschen der einer trägen Gleichgültigkeit. Aber der Augenblick kommt mit furchtbarer Schnelligkeit – jeder Pulsschlag bringt uns ihm näher – wo die trage Gleichgültigkeit sich in „Heulen und Zähneknirschen“ verwandeln wird. Würde dies tiefer gefühlt, so würden wir gewiss mehr solcher Lydias haben, mehr jener zubereiteten Seelen, die der Predigt des Evangeliums ein offenes Ohr leihen.
Welche Kraft und Schönheit liegt in den Worten: „Deren Herz der Herr auftat, dass sie Acht gab auf das, was von Paulus geredet ward!“ Lydia gehörte gewiss nicht zu denen, die christliche Versammlungen besuchen und anstatt an das, was von den Boten des Herrn verkündigt wird, an allerlei andere Dinge denken. Sie war nicht mit ihrem Purpur oder dessen Preis oder mit dem etwaigen Gewinn oder Verlust beschäftigt. Wie viele von denen, die bei einer Predigt des Evangeliums gegenwärtig sind, mögen wohl dem Beispiel der Lydia folgen? Ach, ich fürchte, dass ihre Zahl oft sehr gering sein wird. An das Geschäft, den Stand des Marktes, das Geld, das Vergnügen, die Kleider – kurzum an tausenderlei Dinge denkt man und beschäftigt sich damit, so dass das arme unstete und flüchtige Herz sich an den Enden der Erde befindet, anstatt Acht zu haben auf das, was geredet wird.
Dies ist höchst ernst, und sollte wirklich sehr beachtet und zu Herzen genommen werden. Viele, ach, sehr viele denken nicht an die Verantwortlichkeit, die mit dem Hören der Predigt des Evangeliums verbunden ist. Sie scheinen nicht im Geringsten berührt zu werden von der wichtigen Tatsache, dass das Evangelium einen unbekehrten Menschen nie da lässt, wo es ihn findet. Er wird entweder durch das Annehmen desselben errettet, oder durch das Verwerfen schuldiger werden. Viele besuchen vielleicht die Orte, wo das Evangelium verkündigt wird, nur aus. Gewohnheit, oder um das religiöse Gefühl zu befriedigen, oder weil sie gerade nichts anderes zu tun haben; viele auch, weil sie denken, dass das bloße Hingehen etwas Verdienstliches sei. Auf diese Weise hören Tausende die Predigten, in welchen Diener Christi, wenn auch nicht mit den Gaben, der Kraft und der Erkenntnis eines Paulus, die unendliche Gnade Gottes ans Licht stellendes Gottes, der seinen eingeborenen Sohn in die Welt gesandt hat, um uns von ewigem Verderben und Elend zu erretten. Die Kraft und Wirksamkeit des versöhnenden Todes des göttlichen Heilands, des Lammes Gottes, die erhabenen Wahrheiten der Ewigkeit, die furchtbaren Schrecken der Holle und die unaussprechlichen Freuden des Himmels – alle diese ernsten und feierlichen Dinge werden vorgestellt nach dem Maß der Gnade, die dem Boten des Herrn gegeben ist, und doch ist oft der Eindruck ein so überaus geringer. Denkt vielleicht jemand, seine Verwerfung des Evangeliums damit zu entschuldigen, dass er unfähig sei, es zu glauben? Will er sich auf den vor uns liegenden Fall berufen und sagen: „Der Herr öffnete Lydias Herz; und sobald Er bei mir dasselbe tun wird, werde ich auch sicher Acht geben, aber vorher kann ich nichts tun.“ Wir antworten, und zwar mit allem Ernst: Solch eine Entschuldigung oder Beweisführung wird dich am Tag des Gerichts sicher nicht befreien. Wir sind auch vollkommen überzeugt, dass du alsdann es nicht einmal wagen wirst, sie vorzubringen. Du machst einen falschen Gebrauch von der köstlichen Erzählung von Lydia. Wahr ist es, der Herr tat ihr das Herz auf; und Er ist auch bereit, das deinige aufzutun, wenn in dir nur ein kleiner Teil von dem Ernst der Lydia gefunden würde. Es ist ganz einfach und klingt sehr, schön, zu sagen: „Ich kann nichts tun.“ Aber wer hat dir das gesagt? Wo hast du das gelernt? Wir fragen dich in der Gegenwart Gottes: Kannst du zu Ihm aufblicken und sagen: „Ich kann nichts tun, – ich bin nicht verantwortlich?“ Ist denn das Heil deiner unsterblichen Seele die einzige Sache, in der du nichts tun kannst? Du kannst eine Menge Dinge im Dienst der Welt, deiner selbst und des Satans tun; aber wenn es sich um Gott, um deine Seele und die Ewigkeit handelt, dann sagst du mit kalter Gleichgültigkeit: „Ich kann nichts tun, – ich bin nicht verantwortlich.“ Doch damit wirst du dem schrecklichen Gericht nicht entrinnen. Deine ganze Beweisführung ist die Frucht einer einseitigen Theologie. Sie ist das Resultat der sehr verderblichen Urteile des menschlichen Geistes über gewisse Wahrheiten in der Schrift, die verdreht und ganz falsch angewandt werden. Aber es wird nicht Stich halten; und dies möchten wir dem Leser dringend ans Herz legen. Es ist von gar keinem Nutzen, in dieser Weise Schlüsse zu machen. Der Sünder ist verantwortlich, und alle Vernunftschlüsse, alle bezüglichen, obgleich scheinbar richtigen Einwürfe, die hervorgebracht werden konnten, sind nicht im Stande, diese sehr wichtige und ernste Tatsache zu beseitigen.
Deshalb bitten wir den Leser, gleich der Lydia ernstlich an das Heil seiner Seele zu denken, und jede andere Frage, jeden anderen Gegenstand, im Vergleich mit dieser einen so wichtigen Sache – dem Heil seiner unsterblichen Seele – für äußerst unwichtig zu halten. Dann kann er versichert sein, dass Gott, der den Philippus zu dem Eunuchen, Petrus zu dem Hauptmann und Paulus zu der Lydia sandte, auch ihm einen Boten und eine Botschaft senden und auch sein Herz auftun wird. Hierüber kann unmöglich ein Zweifel vorhanden sein, da die Schrift sagt: „Gott will, dass alle Menschen errettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen.“ Alle, welche verloren gehen, nachdem sie die Botschaft des Heils gehört haben – die köstliche Botschaft von der freien Liebe Gottes, von dem Tod und der Auferstehung eines Heilands – werden verloren gehen ohne einen Schatten von Entschuldigung, werden in die Hölle fahren mit ihrem Blut auf ihren eigenen schuldigen Häuptern. Dann werden ihre Augen geöffnet sein, um die Nichtigkeit aller Beweise zu sehen, wodurch sie sich in einer falschen Stellung zu stützen und sich selbst in Sünde und Weltlichkeit einzuschläfern suchten.
Doch lasst uns einen Augenblick bei dem verweilen, was von Paulus geredet wurde. Der Heilige Geist hat es nicht für nötig erachtet, uns eine genaue Mitteilung von der Rede des Paulus in jener Versammlung zu geben; wir müssen deshalb andere Schriftstellen zu Hilfe nehmen, um uns eine Idee von dem zu machen, was von seinen Lippen gehört wurde. Lasst uns z. B. jene schöne Stelle nehmen, wo Paulus die Korinther an das Evangelium erinnert, das er ihnen gepredigt hatte.
„Ich tue euch aber kund, Brüder, das Evangelium, das ich euch verkündigt habe, welches ihr auch angenommen habt, in welchem ihr auch steht, durch welches ihr auch errettet werdet, (wenn ihr an dem Wort festhaltet, das ich euch verkündigt habe) es sei denn, dass ihr vergeblich geglaubt habt. Denn ich habe euch zuerst überliefert, was ich auch empfangen habe: dass Christus gestorben ist für unsere Sünden, nach den Schriften; und dass Er begraben und dass Er auferweckt worden am dritten Tage, nach den Schriften“ (1. Kor 15,1–4).
Wir können sicher sein, dass diese Stelle ein Verzeichnis von dem enthält, was von Paulus in jener Versammlung zu Philippi geredet wurde. Das Hauptthema der Predigt des Paulus war Christus – Christus für den Sünder, wie für den Gläubigen – Christus für das Gewissen wie für das Herz – Christus alles und in allem. Er erlaubte sich nie, von diesem Hauptgegenstand abzugehen, sondern machte ihn stets mit bewunderungswürdiger Konsequenz zum Mittelpunkt aller seiner Predigten und Belehrungen.
Bei dem vorliegenden Fall gibt es in der Predigt des Paulus drei Hauptteile, auf welche wir die Aufmerksamkeit des Lesers lenken möchten: auf die Gnade Gottes, auf die Person und das Werk Christi und auf das Zeugnis des Heiligen Geistes, welches in den Heiligen Schriften gefunden wird.
Wir beabsichtigen nicht, auf diese Gegenstände hier näher einzugehen; wir berühren sie nur und bitten den Leser sie zu beachten und darüber nachzudenken.
1. Die Gnade Gottes – seine freie, unumschränkte Gnade ist die Quelle, aus der die Errettung kommt – eine Errettung in der ganzen Länge, Breite, Höhe und Tiefe dieses kostbaren Wortes, – eine Errettung, die sich gleich einer goldenen Kette von dem Schoß Gottes zu der tiefsten Tiefe des schuldigen und verdorbenen Sünders und wieder zurück zum Thron Gottes erstreckt, die allen Bedürfnissen des Sünders begegnet und Gott in der völligsten Weise verherrlicht.
2. Die Person Christi und sein vollendetes Werk sind der einzige Kanal, durch den die Errettung zu dem verlorenen und schuldigen Sünder gelangen kann. Nicht durch die Kirche und ihre Sakramente, nicht durch die Religion und ihre Zeremonien, nicht durch den Menschen oder sein Tun, was es auch sein möge, sondern allein durch den Tod und die Auferstehung Christi. „Er starb für unsere Sünden, er wurde begraben und am dritten Tage wieder auferweckt.“ Das war das Evangelium, welches Paulus verkündigte und durch welches die Korinther errettet waren; und der Apostel erklärt feierlich: „Wenn irgendeiner ein anderes Evangelium predigt, der sei verflucht.“ Schreckliche Worte für die gegenwärtige Zeit!
3. Die Autorität, in der wir die Errettung empfangen, ist das Zeugnis des Heiligen Geistes: es ist „nach den Schriften.“ Dies ist eine sehr wichtige und trostreiche Wahrheit. Es handelt sich nicht um Gefühl, Erfahrungen oder Wahrscheinlichkeiten, sondern einfach um den Glauben an Gottes Wort, der durch den Geist Gottes im Herzen gewirkt wird.
Es ist ein ernster Gedanke für den Evangelisten, dass überall, wo der Geist Gottes wirkt, auch der Satan sicher beschäftigt ist; und es ist gut, wenn wir uns hieran erinnern und immer darauf vorbereitet sind. Der Feind Christi und der Seelen ist stets wachsam und ist auf alle Weise bemüht, das Werk des Evangeliums zu verhindern oder zu verderben. Dies braucht den Arbeiter weder zu erschrecken, noch zu entmutigen; aber es ist wichtig, daran zu denken und wachsam zu sein. Satan wird nichts unversucht lassen, um das gesegnete Werk des Geistes Gottes zu zerstören. Von den Tagen Edens bis zu dem gegenwärtigen Augenblick hat er sich als ein unermüdlich wachsamer Feind des Werkes gezeigt.
Wenn wir nun das Wirken Satans betrachten, so finden wir ihn in zwei Charakteren tätig, nämlich als Schlange oder als Löwe; entweder benutzt er List oder Gewalt. Er wird zuerst trachten zu verführen, und wenn er damit nichts erreicht, wird er Gewalt gebrauchen, d. h. wenn der Herr es ihm zulässt. So ist es auch in dem vorliegenden Fall. Das Herz des Apostels wurde erfreut und erquickt durch die Bekehrung der Lydia. Es war eine direkte, bestimmte und augenscheinliche Bekehrung; sie nahm Christus in ihr Herz auf und betrat gleich den christlichen Boden, indem sie sich der bedeutungsvollen Anordnung der Taufe unterzog. Doch dies war nicht alles; sie öffnete auch gleich ihr Haus den Boten des Herrn. Ihr Bekenntnis war nicht nur auf ihren Lippen, sie sagte nicht nur, dass sie glaubte, nein, sie bewies auch ihren Glauben, indem sie sich taufen ließ und sich und ihr Haus auf diese Weise mit dem Namen und der Sache des Gesegneten vereinigte, den sie durch den Glauben in ihr Herz aufgenommen hatte.
Aber sofort erscheint auch die Schlange auf dem Schauplatz in der Person des falschen Bekenners.
„Es geschah aber, als wir zum Gebet gingen, dass uns eine gewisse Magd begegnete, die einen Wahrsagegeist hatte, die ihren Herren vielen Gewinn brachte durch Wahrsagen. Diese folgte dem Paulus und uns nach, schrie und sprach: Diese Menschen sind Knechte des höchsten Gottes, die euch den Weg des Heils verkündigen. Dieses aber tat sie viele Tage. Paulus aber ward ganz betrübt, und er wandte sich und sprach zu dem Geist: Ich gebiete dir in dem Namen Jesu Christi, von ihr auszufahren! Und er fuhr aus zu derselben Stunde“ (V 16–18).
Hier haben wir einen Fall, der ganz darauf berechnet war, die Lauterkeit und Geistlichkeit des Evangelisten zu prüfen. Die meisten Menschen würden diese Worte von den Lippen der Magd als ein zu dem Werk ermunterndes Zeugnis begrüßt haben. Warum war denn Paulus betrübt? Warum erlaubte er ihr nicht, noch ferner von dem Gegenstand seiner Mission Zeugnis abzulegen? Sagte sie nicht die Wahrheit? Waren sie nicht die Knechte des höchsten Gottes? Und verkündigten sie nicht den Weg des Heils? Warum gebot er einem solchen Zeugnis, zu schweigen? Weil es von Satan kam: und sicher wollte der Apostel von ihm kein Zeugnis annehmen. Er konnte dem Satan nicht erlauben, ihm in seinem Werk behilflich zu sein. Ohne Zweifel hätte er durch die Straßen von Philippi gehen können, anerkannt und geehrt als ein Knecht Gottes, wenn er nur dem Teufel erlaubt hätte, ihn in seinem Werk zu unterstützen. Aber Paulus konnte dies nimmer erlauben; er konnte nimmer zugeben, dass der Feind sich in das Werk des Herrn mischte. Hätte er es zugegeben, so hätte er dadurch dem Zeugnis zu Philippi den Todesstoß verseht, und die ganze Mission in Mazedonien würde vollständig Schiffbruch gelitten haben.
Es ist für die Arbeiter des Herrn von großer Wichtigkeit, dies zu erwägen. Wir können sicher sein, dass die Erzählung bezüglich dieser Magd zu unserer Belehrung geschrieben ist; dass es nicht nur die Erzählung eines Ereignisses ist, sondern ein Beispiel von dem, was vorkommen kann und was auch in der Tat jeden Tag vorkommt. Die Christenheit ist voll falschen Bekenntnisses; es gibt in diesem Augenblick, soweit das Christentum sich verbreitet hat, Millionen falscher Bekenner. Es ist traurig, dies sagen zu müssen; aber es ist wahr. Wir sind auf allen Seiten von solchen umringt, die den Wahrheiten des Christentums nur mit dem Mund zustimmen. Sie gehen von Woche zu Woche, von Jahr zu Jahr voran und bekennen, dass sie an Dinge glauben, woran sie in Wirklichkeit nicht glauben. Es gibt Tausende, die an jedem Tag des Herrn bekennen, dass sie an die Vergebung der Sünden glauben; aber wollte man solche Personen ein wenig näher prüfen, so würde man bald entdecken, dass sie entweder gar nicht daran denken oder, falls sie daran denken, es für die höchste Anmaßung halten, wenn jemand die Gewissheit ausspricht, dass seine Sünden vergeben sind.
Dies ist sehr ernst. Man denke sich einen Menschen, der in der Gegenwart Gottes aufsteht und sagt: „Ich glaube an die Vergebung der Sünden“, während er nicht daran glaubt! Kann es noch etwas geben, was das Herz mehr verhärtet und das Gewissen mehr abstumpft? Es ist unsere völlige Überzeugung, dass die Formen und Satzungen der bekennenden Christenheit mehr dazu beitragen, unsterbliche Seelen zu verderben, als tausend andere Dinge. Es ist wirklich schreckenerregend, die unzählbaren Massen zu betrachten, die in diesem Augenblick auf dem breitgetretenen Wege des religiösen Bekenntnisses den ewigen Qualen der Hölle entgegeneilen. Wir fühlen uns gedrungen, eine warnende Stimme zu erheben und den Leser in der feierlichsten Weise aufzufordern, dies zu beherzigen.
Wir haben nur ein spezielles Beispiel angeführt, weil es sich auf einen Gegenstand von allgemeinem Interesse und allgemeiner Wichtigkeit bezieht. Wie verhältnismäßig wenige sind gewiss und beruhigt in Bezug auf die Frage der Vergebung ihrer Sünden! Wie wenige sind fähig, mit Ruhe, Bestimmtheit und Einsicht zu sagen: „Ich weiß, dass alle meine Sünden getilgt sind!“ Wie wenige erfreuen sich wirklich der völligen Vergebung ihrer Sünden durch den Glauben an das kostbare Blut Christi, das von aller Sünde reinigt! Wie ernst ist es daher, jemanden die Worte aussprechen zu hören: „Ich glaube an die Vergebung der Sünden“, wenn er tatsächlich nicht daran glaubt! Hast du, mein Leser, nicht auch schon solche Worte feierlich ausgesprochen und bekannt? Glaubst du sie denn wirklich? Bist du durch Glauben gewiss, dass deine Sünden vergeben sind? Bist du gewaschen in dem kostbaren Blut Christi? Wenn nicht, was hält dich auf? Der Weg ist offen: es ist kein Hindernis da. Die freien Gaben des versöhnenden Werkes Christi stehen in diesem Augenblick völlig für dich bereit. Mögen auch deine Sünden sein wie Scharlach, mögen sie schwarz sein wie die Nacht, mögen sie wie ein schrecklicher Berg vor deiner beunruhigten Seele aufsteigen und dich in ewiges Verderben zu stürzen drohen; dennoch leuchten diese Worte mit göttlichem und himmlischem Glanz in der Heiligen Schrift: „Das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, reinigt uns von aller Sünde“ (1. Joh 1,7). Gehe doch nicht von Woche zu Woche voran, indem du Gottes spottest, dein eigenes Gewissen verhärtest und durch ein falsches Bekenntnis das System des großen Feindes Gottes zur Schau trägst. Dies ist genau dasselbe, was wir in der Magd, die einen Wahrsagegeist hatte, sehen. Dies ist der Punkt in ihrer Geschichte, in welchem sie mit dem gegenwärtigen schrecklichen Zustand der Christenheit übereinstimmt. Was war der Inhalt ihrer Rede während jener vielen Tage, in denen der Apostel aufmerksam ihren Zustand beobachtete? „Diese Menschen sind Knechte des höchsten Gottes, die euch den Weg des Heils verkündigen.“ Aber sie war nicht errettet, sie war nicht erlöst, sie war während der Zeit unter der Macht Satans. Und das nicht allein, sondern Satan suchte sie zu benutzen, um seinen Vorsatz, das Werk des Evangeliums zu verderben und zu hindern, auszuführen.
So ist es mit der Christenheit, so ist es mit jedem falschen Bekenner in der ganzen bekennenden Kirche. Wer da bekennt, dass er an die Vergebung der Sünden glaubt und doch nicht daran glaubt, ja nicht einmal glaubt, dass jemand dies wissen könne vor dem Tag des Gerichts – ein solcher Mensch steht, dem Grundsatz nach, auf dem Boden der Magd, die den Wahrsagegeist hatte. Was sie bekannte, war völlig der Wahrheit gemäß, aber in ihr war die Wahrheit nicht, indem sie es bekannte: und das war das Traurige in diesem Fall. Es ist sehr verschieden, etwas zu bekennen oder dem zuzustimmen, was der Wahrheit gemäß ist, als selbst in der Wahrheit zu sein, indem man es bekennt. Von welchem Wert konnte es sein, von Tag zu Tag die Formel auszusprechen: „Sie verkündigen euch den Weg des Heils“, während sie in demselben ungeretteten und ungesegneten Zustand blieb? Gewiss von keinem; und es gibt, selbst in dem sittlich Schlechten oder in dem finsteren Heidentum, kaum etwas Schrecklicheres, als den Zustand von sorglosen, verhärteten, selbstgenügsamen und falschen Bekennern, die an jedem Tag des Herrn in ihren Gebeten oder Gesängen Worte aussprechen, die, soweit es sie selbst betrifft, vollständig falsch sind. Schon der Gedanke daran ist sehr niederdrückend. Wir können nicht länger dabei verweilen; es ist wirklich zu schmerzlich. Wir haben noch einmal den Leser feierlich vor jedem Schatten und jedem Grad des falschen Bekenntnisses gewarnt. Möge er nicht länger irgendetwas vor Gott sagen oder singen, was er nicht von Herzen glaubt! Der Teufel ist im Hintergrund jedes falschen Bekenntnisses und sucht durch dieses Mittel dem Werk des Herrn Schande zu bringen.
Welch wohltuende Erfrischung ist es, die Handlungen des treuen Apostels in diesem Fall zu sehen. Hätte er seine Ehre gesucht, oder wäre er nur ein Diener der Religion gewesen, er würde die Worte der Magd willkommen heißen als ein vortreffliches Mittel, ihn bei dem Volk in Ansehen und Gunst zu bringen und das Interesse seiner Sache zu fördern. Aber Paulus war nicht nur ein Diener der Religion; er war ein Diener Christi – eine ganz verschiedene Sache – und wir mögen beachten, dass die Magd nicht ein Wort von Christus sagt. Sie spricht den kostbaren, unvergleichlichen Namen Jesu gar nicht aus. In Bezug auf Ihn herrscht völliges Schweigen: und dies stempelt die ganze Sache zu einem Werk des Feindes. Ein falscher Geist wird Jesus nicht als Herrn bekennen. „Niemand kann sagen: Herr Jesus! als nur durch den Heiligen Geist“ (1. Kor 12,3). Die Menschen sprechen wohl von Gott oder von Religion, aber Christus hat keinen Platz in ihren Herzen. Die Pharisäer konnten zu dem Blindgeborenen sagen (Joh 9): „Gib Gott die Ehre.“ aber in Bezug auf Jesus sagen sie: „Dieser Mensch ist ein Sünder.“
So ist es immer bei einer verdorbenen Religion oder einem falschen Bekenntnis: und so war es bei der Magd in Apostelgeschichte 16, da war kein Wort in Bezug auf Christus; da war keine Wahrheit, kein Leben, keine Wirklichkeit. Das Bekenntnis war verstellt und falsch. Es war von Satan, und deshalb wollte und konnte Paulus es nicht annehmen; er war betrübt darüber und wies es weit von sich ab.
Möchten doch alle ihm gleichen! Möchte doch die Einfalt des Auges und die Lauterkeit des Herzens vorhanden sein, um das Werk Satans in allem, was uns umgibt, zu entdecken und zurückzuweisen. Wir sind völlig überzeugt, dass der Heilige Geist die Erzählung betreffs dieser Magd zu unserer Belehrung geschrieben hat. Es mag vielleicht gesagt werden, dass wir solche Fälle jetzt nicht haben. Wir erwidern: „Zu welchem Zweck hat denn der Heilige Geist diese Geschichte aufgezeichnet?“ Ach, es gibt in diesem Augenblick Tausende von Fällen, die dem Charakter dieser Begebenheit entsprechen. Wir müssen sie als ein Beispiel betrachten – als eine Vorstellung des falschen Bekenntnisses der Christenheit, worin die Schlauheit und der listige Betrug des Feindes weit mehr gefunden werden, als in den mannigfachen Formen der sittlichen Versunkenheit. Jedermann kann über Trunkenheit, Diebstahl oder dergleichen urteilen; aber es erfordert ein mit himmlischer Augensalbe gesalbtes Auge, um die listige Tätigkeit der Schlange hinter dem schönen Bekenntnis einer getauften Welt zu entdecken.
Ein solches Auge besaß Paulus durch die Gnade. Er konnte nicht betrogen werden; er sah, dass die ganz? Sache eine Anstrengung Satans war, der sich in das Werk zu mischen suchte, um es auf diese Weise ganz und gar zu verderben. „Paulus aber ward ganz betrübt, und er wandte sich und sprach zu dem Geist: Ich gebiete dir in dem Namen Jesu Christi, von ihr auszufahren! Und er fuhr aus zu derselben Stunde“ (V 18). Dies war eine wahrhaft geistliche Handlung. Paulus hatte gar keine Eile, um mit dem Bösen in Streit zu kommen oder überhaupt über die Sache zu sprechen; er wartete viele Tage. Sobald aber der Feind wirklich entdeckt war, widerstand er ihm und schlug ihn mit unvergleichlicher Energie zurück. Ein weniger geistlicher Arbeiter würde die Sache haben gehen lassen; er würde gedacht haben, dass sie dem Werk Gewinn bringen und es fördern könne. Paulus aber dachte nicht so, und er hatte Recht. Er wies die Hilfe Satans von sich; er war nicht gewillt, durch eine solche Vermittlung das Werk des Herrn auszurichten, und deshalb schlug er Satan in die Flucht in dem Namen Jesu Christi – in jenem Namen, den der Feind so anhaltend aufschloss. Aber kaum war Satan als Schlange zurückgetrieben, so nahm er auch schon den Charakter des Löwen an. Als die List fehlgeschlagen war, versuchte er die Gewalt. „Als aber ihre Herren sahen, dass die Hoffnung ihres Gewinns dahin war, griffen sie Paulus und Silas und schleppten sie auf den Markt zu den Vorstehern. Und sie führten sie zu den Hauptleuten und sprachen: Diese Menschen, welche Juden sind, verwirren ganz und gar unsere Stadt und verkündigen Sitten, die uns nicht erlaubt sind, anzunehmen, noch zu tun, da wir Römer sind. Und die Volksmenge erhob sich Zugleich wider sie, und die Hauptleute rissen ihnen die Kleider ab und befahlen, sie mit Ruten zu schlagen. Und als sie ihnen viele Schläge gegeben, warfen sie sie ins Gefängnis und befahlen dem Kerkermeister, sie sicher zu verwahren“ (V 19–23). So versuchte der Feind zu triumphieren; doch beachten wir wohl, dass die Streiter Christi ihre glänzendsten Siege durch scheinbare Niederlagen davontragen. Der Teufel machte einen großen Fehler, als er den Apostel ins Gefängnis werfen ließ; und es ist in der Tat sehr tröstlich zu sehen, dass er nie etwas anderes getan hat, als Fehler machen, und zwar von dem Augenblick an, da er seinen ersten Zustand verließ, bis zu dem gegenwärtigen Augenblick. Seine ganze Geschichte von Anfang bis zu Ende ist nur ein Gewebe von Missgriffen.
Wie gesagt machte der Teufel einen großen Fehler, als er Paulus ins Gefängnis führen ließ. Schien es auch nach dem Urteil der Natur nicht so zu sein, so war doch nach dem Urteil des Glaubens der Diener Christi, der Wahrheit wegen im Gefängnis, weit mehr an seinem richtigen Platz, als wenn er in Freiheit gewesen wäre auf Kosten der Ehre seines Herrn. Paulus hätte sich sicher retten und ein geehrter Mann sein können, angesehen und anerkannt als „ein Knecht des höchsten Gottes“, wenn er nur das falsche Bekenntnis der Magd angenommen und dem Teufel erlaubt hätte, ihm in seinem Werk behilflich zu sein. Aber es war unmöglich für ihn, und deshalb musste er leiden. Jetzt, möchte vielleicht mancher gedacht haben, ist das Werk des Evangelisten in Philippi zu Ende: jetzt ist dem Predigen auf eine wirksame Weise Einhalt getan. Keineswegs, in jenem Augenblick war das Gefängnis gerade der Platz für den Evangelisten. Dort war sein Werk. Innerhalb der Mauern des Gefängnisses sollte er mit Personen zusammentreffen, denen er draußen nicht begegnet war. Doch dies führt uns zu dem dritten und letzten Fall, nämlich zu dem verhärteten Sünder.
Es war sehr unwahrscheinlich, dass der Kerkermeister je den Weg zu der Gebetsversammlung an dem Fluss gefunden hätte. Augenscheinlich machte er sich über solche Dinge wenig Sorge. Er war weder ein ernster Sucher, noch ein falscher Bekenner; er war ein verhärteter Sünder, der eine Beschäftigung hatte, die sehr geeignet war, das Herz hart und gefühllos zu machen. Kerkermeister haben es meist mit der sittlich versunkensten Klasse von Menschen zu tun. Viele Verbrechen kommen zu ihrer Kenntnis und viele Verbrecher unter ihre Bewahrung. An das Rohe und Gemeinde gewöhnt, werden sie leicht selbst roh und gemein, obwohl wir überzeugt sind, dass es rühmliche Ausnahmen geben wird.
Wenn wir aber nach der vorliegenden Erzählung urteilen, so möchten wir bezweifeln, dass der Kerkermeister in Philippi zu diesen rühmlichen Ausnahmen gerechnet werden konnte. Wenigstens scheint er Paulus und Silas gegenüber nicht viel Zartgefühl an den Tag gelegt zu haben. „Er warf sie in das innerste Gefängnis und befestigte ihre Füße im Stock.“ Er scheint das äußerste getan zu haben, um ihnen ihr hartes Los recht fühlbar zu machen.
Doch Gott besaß eine Fülle von Gnade für diesen armen, gefühllosen und verhärteten Kerkermeister; und da es unwahrscheinlich war, dass er sich aufmachen würde, um das Evangelium zu hören, so sandte der Herr das Evangelium zu ihm, und zwar machte er den Teufel zum Werkzeug der Ausführung dieser Sendung. Der Kerkermeister wusste wenig davon, wen er in das innerste Gefängnis warf – wenig ahnte er davon, was sich ereignen würde, ehe ein neuer Tag anbrach. Und wir mögen hinzufügen, dass auch der Teufel wenig daran dachte, was er tat, als er die Prediger des Evangeliums in den Kerker sandte, um dort das Mittel zur Bekehrung des Kerkermeisters zu sein. Aber der Herr Jesus wusste, was Er zu tun vorhatte mit einem armen, verhärteten Sünder. Es war sein Vorsatz, den Kerkermeister zu erretten: und weit entfernt davon, dass Satan fähig gewesen wäre, diesen Vorsatz zu vereiteln, wurde er vielmehr, ohne es zu wissen und zu wollen, zum Werkzeug seiner Ausführung gemacht. „Gottes Vorsatz wird bestehen, und Er tut alles nach seinem Wohlgefallen.“ Und wenn Er seine Liebe auf einen armen, verdorbenen und schuldigen Sünder wirft, so wird Er ihn einst im Himmel haben, trotz aller Bosheit und Wut der Hölle.
In Bezug auf Paulus und Silas ist es sehr augenscheinlich, dass sie im Gefängnis an ihrem richtigen Platze waren. Sie waren dort um der Wahrheit willen, und der Herr war bei ihnen. Deshalb waren sie ganz glücklich; obgleich sie in den düsteren Mauern eines Gefängnisses eingeschlossen und ihre Füße in dem Stock befestigt waren, so war doch ihr Geist nicht eingeschlossen. Nichts kann die Freude dessen hindern, der den Herrn bei sich hat. Schadrach, Meschach und Abed–Nego waren glücklich inmitten des Feuerofens; Daniel war glücklich in der Löwengrube; und Paulus und Silas waren glücklich in dem Kerker zu Philippi. „Aber um Mitternacht beteten Paulus und Silas und lohsangen Gott; und es hörten sie die Gefangenen.“
Welche Töne drangen aus dem inneren Gefängnis! Solche Töne waren sicher nie von jenem Ort her gehört worden. Flüche, Verwünschungen und Lästerungen mochte man vernommen haben; Seufzen, Schreien und Stöhnen mochte oft aus diesen finsteren Räumen hervorgekommen sein: aber stattdessen Laute des Gebets und des Lobgesangs um die Mitternachtsstunde zu vernehmen, mühte sicher höchst befremden. Der Glaube aber kann ebenso fröhlich in einem Gefängnis singen, wie in einer Gebetsversammlung. Es kommt nicht darauf an, wo wir sind, vorausgesetzt, dass wir den Herrn bei uns haben. Seine Gegenwart erhellt die dunkelste Zelle und macht einen Kerker zur Pforte des Himmels. Er vermag seine Diener überall glücklich zu machen; Er vermag sie über die widrigsten Umstände siegen zu lassen und sie dahin zu bringen, vor Freude zu jauchzen in Umständen, in welchen die Natur von Traurigkeit überwältigt werden würde.
Doch der Herr hatte sein Auge auf den Kerkermeister gerichtet. Er hatte vor Grundlegung der Welt seinen Namen in das Buch des Lebens des Lammes geschrieben und war jetzt beschäftigt, ihn zu der vollen Freude seiner Errettung zu führen. „Plötzlich aber geschah ein großes Erdbeben, so dass die Grundfesten des Gefängnisses erschüttert wurden, und sogleich öffneten sich alle Türen und aller Bande wurden gelöst“ (V 36).
Wäre Paulus jetzt nicht in wirklicher Gemeinschaft mit den Gedanken und dem Herzen Christi gewesen, so würde er sich sicher zu Silas gewandt und gesagt haben: „Jetzt ist für uns der Augenblick gekommen, zu entfliehen. Gott ist augenscheinlich ins Mittel getreten und hat uns die Türen geöffnet. Wenn je ein Gefängnis durch göttliche Vorsehung geöffnet worden ist, so ist es sicher jetzt der Fall.“ Aber nein, Paulus erkannte es besser. Er war völlig vertraut mit den Gedanken seines geliebten Herrn und in völliger Übereinstimmung mit dem Herzen seines teuren Meisters. Deshalb machte er keinen Versuch, zu entfliehen. Das Verkündigen der Wahrheit hatte ihn ins Gefängnis gebracht, und die Tätigkeit der Gnade hielt ihn dort zurück. Die Vorsehung öffnete die Tür; aber der Glaube weigerte sich, hinauszugehen. Die Menschen sprechen davon, durch die Vorsehung geleitet worden zu sein; aber wenn sich Paulus durch sie hätte leiten lassen, so würde der Kerkermeister nie ein Edelstein in seiner Krone geworden sein (Schluss folgt).