Botschafter des Heils in Christo 1877
Nehemia oder das Bauen der Mauer
In Nehemia 1 begegnen wir einem vor Gott stehenden Mann. Er hat den Zustand der entronnenen Juden, die von der Gefangenschaft übriggeblieben waren, kennen gelernt und hat erfahren, dass die Mauer Jerusalems zerrissen und verwüstet war. Mit rührendem Ernst tritt dieser Mann Gottes vor Jehova für das gefallene Volk, welches doch einmal erlöst worden war durch seine große Kraft und seine starke Hand. „Ach Herr!“ so ruft er, „lass doch dein Ohr aufmerken auf das Gebet deines Knechtes und auf das Gebet deiner Knechte, die Verlangen haben, deinen Namen zu fürchten!“ (Kap 1,11)
Auf diese Weise sehen wir ihn vor dem Herrn, und zwar in dem Gefühl des tiefsten Schmerzes über den Zustand Israels und der Stadt des großen Königs. Er erkennt völlig die schreckliche Sünde ihres Abfalls von dem Herrn; denn er sagt: „Wir haben sehr verkehrt wider dich gehandelt und haben nicht gehalten die Gebote und Satzungen und Rechte, die du deinem Knecht Mose geboten hast“ (V 7).
Da nun diese Dinge uns als Vorbilder aufgezeichnet sind, so ist die Frage an ihrem Platz: Sind auch wir in solcher Weise mit tief gefühltem Bekenntnis, bezüglich des gegenwärtigen Zustandes der Versammlung Gottes, vor dem Angesicht des Herrn gewesen? Haben auch wir also geweint und getrauert und gefleht für das Volk des Herrn in unseren Tagen? Lasst uns nicht nur disputieren, sondern werfen wir uns vielmehr vor dem Herrn nieder und vergleichen wir den gegenwärtigen Zustand der Versammlung in der Welt mit ihrem Zustand im Anfang. Ist nicht auch ihre Mauer niedergerissen worden? Als Gott durch den Heiligen Geist die Versammlung baute, da bestand eine Scheidewand zwischen ihr und der Welt. Zu jener Zeit waren alle Gläubigen zusammen und bildeten einen Leib, sowie die Häuser der alten Stadt mit ihrer starken und hohen Mauer das eine Jerusalem ausmachten. So lesen wir auch von dieser einen Versammlung Gottes: „Von den Übrigen aber wagte keiner, sich ihnen anzuschließen“ (Apg 5,13). Haben wir uns schon zu diesem Zweck vor dem Herrn niedergeworfen? Nun dann mögen wir unsere Blicke zurückwerfen in die finsteren Perioden, in welchen diese von der Welt trennende Scheidewand niedergerissen worden ist.
Sowie Gott durch diese tiefen Übungen der Seele vor seinem Angesicht seinen Knecht Nehemia für sein Werk zubereitete, so hat es Ihm Wohlgefallen, auch in unseren Tagen etliche Knechte zu berufen und für seine Arbeit zuzubereiten. Doch auch bei ihnen muss diese Seelenübung vorausgehen.
Nach dieser tiefen Demütigung vor Gott im ersten Kapitel, finden wir im zweiten, als Wirkung derselben, göttliche Gefühle und Tätigkeiten der Liebe für das Wohl des Volkes Gottes.
Und hier begegnen wir zum ersten Male dem Sanballat, einem Horoniter, sowie dem Tobija, einem ammonitischen Knechte: und da diese Personen und ihre Anhänger im Verlauf der Geschichte sich stets während des Bauens der Mauer als die Feinde und Widersacher Nehemias und seines Werkes vor Gott offenbaren, so ist es von Wichtigkeit, zu erfahren, wer sie waren und was sie darstellten. Die Feinde waren teils Horoniter, teils Ammoniter und Araber. Nichtsdestoweniger bewohnten sie das Land Israel. Demzufolge redete Sanballat in Kapitel 4,2 in Gegenwart seiner Brüder und des Heeres von Samaria. Samaria war ein Teil des Landes Israel. Sie waren eifrige, hochmütige und schlaue Männer, genossen Ansehen im Land, gehörten demselben aber nicht an. Sind sie daher nicht ein treues Bild der Klasse jener Menschen, die, obwohl in der bekennenden Kirche, dennoch vor Gott Fremdlinge sind und nicht seiner Kirche angehören, sondern sich im Gegenteil stets als Feinde und Widersacher derer offenbaren, welche dadurch, dass sie die Gläubigen bedienen und, um ihre Trennung von der Welt zu bewirken, die göttliche Scheidewand aufzurichten bemüht sind, das Werk Gottes zu fördern trachten?
Indem wir die Geschichte dieser Männer in dem Buch Nehemias verfolgen, entdecken wir sieben verschiedenartige Formen, in denen sich die Feindschaft gegen das Werk Gottes offenbart. „Und als Sanballat, der Horoniter, und Tobija, der ammonitische Knecht, das hörten, so verdross es sie gar sehr, dass ein Mann gekommen war, das Gute der Kinder Israel zu suchen“ (Kap 3,10). Und wenn Gott in unseren Tagen jemanden erweckt, der für die Versammlung Gottes das „Gute“ sucht, wie viele werden dann gesunden, die darüber ihr Missfallen an den Tag legen! Wie groß war z. B. das Missfallen derer, die sich Geistliche nannten, als Gott einen Wiklef, einen Huß, einen Luther für sein Werk berief! Ebenso ist auch dieser siebenfältige Hass gegen das Werk Gottes in den letzten fünfzig Jahren ans Licht getreten! Wie viele drücken ihr Missfallen aus, dass Gott auch in unseren Tagen Männer erweckt hat, die für die Versammlung oder Kirche Gottes das „Gute“ suchen, die aber von ihnen als Sektierer verschrien werden! Vor Jahren wurden mehrere solcher Männer, wie einst Nehemia, vor Gott auf ihre Knie gebracht. Betrübt über das Abweichen der Versammlung von den Geboten ihres Herrn, beugten sie sich, ihre Schuld bekennend und stehend, vor Ihm nieder. Und der Heilige Geist wirkte in ihren Herzen ein brennendes Verlangen nach „Gutem“ für die eine Versammlung Gottes.
Der Standpunkt der Versammlung zu Philadelphia (Off 3) steht in Übereinstimmung mit demjenigen des Nehemia. Man muss, um dieses fassen zu können, längere Zeit mit Gott allein gewesen sein. Es gab nur wenige, die sich mit Nehemia des Nachts aufmachten; und er tat es keinem Menschen kund, was Gott ihm ins Herz gegeben hatte (Kap 2,12). Machen wir gleich ihm einen Zug um Jerusalem; und wir werden beim Anblick der verwüsteten Versammlung überall zerstörte Mauern und niedergebrannte Tore finden. Also ist die Versammlung in den Händen der Menschen geworden.
Die Heilige Schrift hat dieses alles deutlich vorausgesagt. In 2. Timotheus 3 und in 2. Petrus 2 finden wir eine genaue Beschreibung des gegenwärtigen Zustandes der Christenheit; und während uns in Offenbarung 2 und 3 der Verlauf der Geschichte derselben in sieben Perioden vor Augen gestellt wird, so sehen wir in Offenbarung 17 und 18 das Ende davon. Auch werden wir nirgends eine Andeutung finden, dass die erste Herrlichkeit je wiederhergestellt werden soll. In Philadelphia finden wir nur einen kleinen Überrest, der das „Wort“ und den „Namen“ Christi nicht verleugnet und das „Wort seines Ausharrens“ bewahrt hat.
Sowie Nehemia die zerrissenen Mauern und die vom Feuer verzehrten Tore Jerusalems besichtigt, so lasst auch uns Umschau halten und den Zustand betrachten, in welchen das Christentum verfallen ist. Fragen wir uns, welches, sowohl in Betreff der römischen, als auch der protestantischen Kirche, die Gedanken Gottes sein mögen. Betrachten wir diese Dinge, wie sie sich zeigen, in der Gegenwart Gottes und in seiner Furcht. Legte Nehemia, wie in Verzweiflung, seine Hände in den Schoß? Keineswegs. Vielmehr sagt er zu seiner Umgebung: „Ihr seht das Elend, in dem wir sind, dass Jerusalem wüste ist, und seine Tore mit Feuer verbrannt sind. Kommt und lasst uns die Mauer Jerusalems bauen, dass wir nicht mehr zur Schmach seien.“ Und nachdem er ihnen die Hand Gottes, „die gut über ihm gewesen“, kundgetan hatte, antworteten seine dadurch ermutigten Begleiter: „Lasst uns auf sein und bauen!“ (Kap 2,17–18)
Jetzt wird uns die zweite Form des Widerstandes vor Augen gestellt. „Und Sanballat, der Horoniter, und Tobija, der ammonitische Knecht, und Gesem, der Araber, hörten es und spotteten unser und verachteten uns und sprachen: Was ist das für eine Sache, die ihr tut? Wollt ihr euch wider den König empören?“ (V 19) Die erste Form der Feindschaft war Missfallen, die Zweite ist Verachtung. Im Vergleich mit dem ganzen Volk waren sie in der Tat nur ein geringer und verächtlicher Überrest.
Sie verlangten die heilige Stadt durch die Mauer der Absonderung umgeben zu sehen. Und sollte ihnen Jerusalem, die Stadt des großen Königs, teurer sein, als uns die heilige Vereinigung der Gläubigen um Christus, ihren Mittelpunkt? Wie Nehemia den Überrest ermunterte, die Mauer zu bauen, so hat der Heilige Geist jetzt einzelne Männer berufen und jedem von ihnen seinen bestimmten Platz gegeben, um diese solange niedergerissene Mauer wiederaufzurichten. In welch einem hohen Gerade aber haben die Sanballats unserer Tage ihr Missfallen und ihre Verachtung an den Tag gelegt! „Was ist das für eine Sache, die ihr schwachen und unscheinbaren Christen tun wollt?“ Ja, wir haben das Missfallen und die Verachtung erbitterter Gegner kennen gelernt.
In Kapitel 3 wird der Bau der Mauer und der Tore in Angriff genommen. Jedes Häuflein ist an seinem Platz am Werk tätig. Ist das nicht eine treffende Darstellung dessen, was in den letzten Tagen geschehen ist? Überall, wo die Wahrheit des einen Leibes Christi – der einen Versammlung oder Kirche Gottes – in der Furcht des Herrn erkannt worden ist, hat jede kleine Versammlung derer, die einfach im Namen Jesu zusammenkommen, nach diesem Grundsatz gehandelt und die Absonderungsmauer aufgeführt; und der göttliche Baumeister hat jedes einzelne Teilchen zu einem Mauerwerk wohl zusammengefügt. Es ist das Werk Gottes; seine gute Hand ist mit dem geringen Überrest.
Der Mensch mag über eine solche Arbeit urteilen, wie er will: es ist genug, dass Gott sie anerkennt. Man mag die Arbeiter tadeln, dass sie einen großen Haufen durch ihr Werk ausschließen; ihre Arbeit ist ihnen von Gott aufgetragen. Man kann unmöglich eine Mauer bauen, ohne eine „Ausschließung“ zu bewerkstelligen. Wozu anders dienen die Tore einer Stadt oder die Grenzen eines Landes, als diejenigen, welche drinnen sind, zu schützen, und diejenigen, welche draußen sind, auszuschließen? Wir können nicht die gesegnete Wahrheit des einen Leibes annehmen, ohne jede Art von Sektiererei auszuschließen. Können wir die Wahrheit, dass es nur einen Gott gibt, annehmen und Zugleich das Dasein der Götter der Heiden billigen? Ebenso wenig können wir uns zu der Wahrheit des einen Leibes Christi bekennen, und zu gleicher Zeit die verschiedenen Körperschaften und Vereinigungen der Christen anerkennen.
Doch wenden wir uns jetzt zu der dritten Form des Widerstandes. Wir finden sie in Kapitel 4.
„Und es geschah, als Sanballat hörte, dass wir die Mauer bauten, ward er zornig und sehr entrüstet, und er spottete der Juden“ (V 1). Erst hatten wir Missfallen, dann Verachtung: und jetzt, wo das Bauen der Mauer eine Tatsache ist, begegnen wir dem Zorn. Hat dieses nicht alles in der traurigsten Weise vor unseren Augen stattgefunden? Der Zorn Sanballats gegen diejenigen, welche die Mauer Jerusalems bauten, konnte sicher nicht bitterer sein, wie der Hass gegen die heilige Einschließung der Seelen, die sich um Christus, dem wahren Mittelpunkt, versammeln. „Wie“, sagt man, „wollt ihr unsere verschiedenen Kirchengemeinsamsten nicht anerkennen? Wollt ihr alles ausschließen, was nicht eure Meinung teilt?“ (d. h. sich Christus unterwirft) Sanballat sprach in der Gegenwart seiner Brüder und des Heeres zu Samaria: „Was machen die ohnmächtigen Juden?“ Und in der Tat, welche Bedeutung hatten diese auch im Blick auf das Heer zu Samaria? Und – sagt und denkt man in unseren Tagen – was machen diese schwachen Christen? Ja, in Wahrheit, was sind sie im Vergleich zu den Scharen von Christen um sie her? Werden sie im Stande sein, die Schutthaufen hinwegräumen und beseitigen zu können? Werden diese geringen, unscheinbaren Menschen etwas vermögen gegen das mächtige Gebäude der Kirche, wie sie sich historisch entwickelt hat?
Diesem Zorn folgt die vierte Widerstandsform, der Spott, auf dem Fuß nach. „Und Tobija, der Ammoniter, stand neben ihm, und sprach: Auch was sie bauen, wenn ein Schakal hinaufspränge, würde er ihre steinerne Mauer zerreißen!“ (V 3) So wird der Feind, während er das Werk Gottes mit der ganzen Bitterkeit seines Herzens hasst, sich stets dennoch den Schein geben, dass er eine solche Arbeit für nichts anders, als einen Gegenstand des Spottes halte. Auch in unseren Tagen zeigen sich dieselben Erscheinungen. Allein der Feind mag sein Missfallen, seine Verachtung, seinen Zorn und seinen Spott kund werden lassen, so nimmt das Werk doch ungestört seinen Fortgang. Die Mauer wird von Stufe zu Stufe aufgeführt. Das Werk Gottes breitet sich aus. In Europa, Amerika, Indien, Syrien usw. hören die Seelen die Stimme des guten Hirten, und jeden von Menschen aufgerichteten Schafhof verlassend, werden sie in die Mitte des heiligen Kreises, der den großen Hirten Christus Jesus zum alleinigen Mittelpunkt hat, zusammengebracht. Der Name Christi wird großgemacht und alles ausgeschlossen, was Ihn nicht verherrlicht. Der Mensch hat hier keine Bedeutung.
Was wird nun Sanballat samt seinem Anhang tun? Er wird zu der fünften Form seines Widerstandes greifen. „Und sie machten allesamt eine Verschwörung, zu kommen und zu streiten wider Jerusalem und sie in Verwirrung zu bringen“ (V 8). Erst war es das Missfallen, die Verachtung, der Zorn und der Spott – nun ist es der Streit, eine festbeschlossene Gegenwirkung.
Ist es in unseren Tagen nicht ebenso? Haben sich nicht alle Parteien der Christenheit zum Streit erhoben gegen das Aufbauen der Mauer der Absonderung und die Vereinigung um Christus allein? Und wie zu Nehemias Zeiten die Verschwörer sich beratschlagten, die Juden unverhofft zu überfallen, so ist auch jetzt der Feind, wenn Gott irgendwo sein Wort segnet, nicht selten aufgetreten, um durch Lästerungen und Widerstand die Arbeit zu verhindern und die Arbeiter zu verwirren. Sicher haben die bösen Geister in den himmlischen Örtern sich dahinter verborgen. Zwar bedürfen wir der ganzen Waffenrüstung Gottes, doch „Gott wird für uns streiten.“ Das Werk zu Jerusalem nahm ungestört seinen Fortgang: und so geht es auch jetzt. Je größer der Widerstand ist, desto mehr nehmen wir unsere Zuflucht zu Gott, und desto schneller schreib das Werk vorwärts. Der Schall der Posaune wird mit jedem Tag deutlicher; und wo man diesen Schall vernimmt, da versammeln sich die Gläubigen (V 20).
Das fünfte Kapitel enthält ernste Unterweisungen. Es zeigten sich verkehrte Dinge unter dem Überrest selbst. „Auch wir sind Menschen von gleichen Empfindungen“, sagt Paulus (Apg 14,15); und auch wir wissen, dass viel Verkehrtheit im Schoß der Versammlung gefunden werden kann. Sind wir in uns selbst besser als andere? Keineswegs. Es ist nur die Gnade, die uns um den hoch gepriesenen Herrn versammelt, zu welchem niemand kommt, es sei denn, dass der Vater ihn zieht. Der Herr Jesus selbst sagt: „Es steht geschrieben in den Propheten: ‚Und sie werden alle von Gott gelehrt sein.‘ Jeglicher, der von dem Vater gehört und gelernt hat, der kommt zu mir“ (Joh 6,45). Der Vater versammelt die Seelen nicht um schwache, irrende Menschen, sondern um seinen eingeborenen Sohn.
Die Menschen haben sich zu verschiedenen Kirchengemeinschaften vereinigt, in denen hervorragende Männer oder deren Systeme den Mittelpunkt bilden; aber Gott hat durch seinen Geist die solange vergessene Wahrheit des einen Leibes Christi, wo Christus der einzige wahre Mittelpunkt ist, ans Licht gebracht. Es ist jetzt eine unbestreitbare Tatsache, dass der Bau der Mauer, die von jeder menschlichen Vereinigung trennt, in Angriff genommen ist. Es ist das Werk des Geistes Gottes in unseren Tagen. Aus derselben Grundlage, wie am Pfingsttag, werden die Seelen versammelt, wiewohl sie nur einen kleinen Überrest außerhalb des Lagers der Christenheit bilden, wo sie, versammelt um Christus, seine Schmach tragen.
Dieses führt uns zu der sechsten Form des Widerstandes, deren sich Sanballat und seine Gefährten bedienten, als sie vernahmen, dass Nehemia den Bau vollendet hatte. „Da sandte Sanballat und Gesem zu mir und sprach: Komm, und lass uns zusammenkommen in den Dörfern im Tal Ono. Sie aber gedachten mir Übles zu tun. Und ich sandte Boten zu ihnen und sprach: Ich tue ein großes Werk und kann nicht hinabkommen. Warum soll das Werk ruhen, wenn ich es lasse und zu euch hinabkomme“ (Kap 6,2–3).
Nach den fünf bereits behandelten Formen des Widerstandes: Missfallen, Verachtung, Zorn, Spott, Streit – haben wir es jetzt mit der List des Feindes zu tun. Die Gegner sagten mit anderen Worten: „Sei doch nicht so einseitig und abgeschlossen; verlas den engen Raum und komm in eines der Dörfer ‚im Tal‘ Ono, damit wir uns dort gemeinschaftlich versammeln. Verlass den wahren Mittelpunkt des Gottesdienstes innerhalb der Mauern Jerusalems und komm hinab nach Ono ‚im Tal der Werkleute.‘“ (Siehe Kap 11,35) – Die schlauen Feinde erkannten es nur zu gut, dass, wenn die Stätte der Anbetung innerhalb des abgeschlossenen, heiligen Raumes von Gott bestätigt wurde, ihr gewinnbringendes Gewerbe in Gefahr kommen werde; und wie in späteren Tagen Demetrius, der Silberschmied von Ephesus, werden auch sie gedacht haben: „Männer, ihr wisst, dass aus diesem Erwerb unser Wohlstand ist“ (Apg 19,25).
Wir haben hier also einerseits das Lager von Samaria mit seinen Dörfern und mit seinen Werkleuten, welche die äußerste Toleranz zeigen, um mit allen zu beraten und sich mit allen zu versammeln, und andererseits eine Handvoll schwacher Juden, abgesondert versammelt auf göttlicher Grundlage innerhalb der verhassten ein– und ausschließenden Mauer. Aber durch Gottes Hilfe beharrt das kleine, geringe Häuflein in seiner Stellung und handelt als solche, welche wissen, dass sie sich gerade dort befinden, wo Gott sie haben will, und dass sie tun, was in seinen Augen angenehm ist.
Nicht einmal oder zweimal, sondern viermal sandte Sanballat seine Boten zu demselben Zwecke, um die Knechte Gottes zu bestimmen, ihr einseitiges, ausschließendes Handeln aufzugeben und von ihrem erhabenen Standpunkt zu der Ebene von Ono, ins „Tal der Werkleute“, hinab zu steigen. Doch Gott bewahrte die kleine Schar. Nehemia antwortete ihnen stets in derselben Weise (V 4). Er verwarf jede Art von Nachgiebigkeit, wenn es sich um das Werk und den Willen Gottes handelte. Darauf sandte Sanballat seinen Knaben zum fünften Male mit einem offenen Briefe in der Hand, worin die Worte enthalten waren: „Unter den Nationen ist es gehört worden, und Gasmu sagt es: Du und die Juden, ihr gedenkt euch zu empören; darum baust du die Mauer, und du wirst ihr König werden nach diesen Reden … so komme nun, dass wir zusammen beraten“ (V 6–7). Aber wie bestimmt ist die Antwort Nehemias! Es sind Worte, die eines Mannes, der im Frieden mit Gott wandelt, würdig sind, wenn er sagt: „Es ist nicht geschehen nach diesen Worten, die du sagst, sondern du hast sie aus deinem Herzen erdichtet.“ Hätte Nehemia in dem Hochmut eines durch Selbstsucht geleiteten Herzens gehandelt, dann konnte seine Tätigkeit nicht einseitiger, engherziger, ja verächtlicher sein; aber er handelte in der Furcht des Herrn (Kap 1,11); und so war sein Verhalten schön und treu.
Finden wir in diesem allen nicht ein treues Bild von den Vorgängen auf christlichem Gebiet in unseren Tagen? Auf der einen Seite sehen wir die heilige Absonderung einiger wenigen schwachen Gläubigen, versammelt um Christus, den einzigen wahren Mittelpunkt; auf der anderen Seite das große Lager der verschiedenen Kirchengemeinschaften. Und wie in jenen Tagen noch viele Juden in Babylon in der Gefangenschaft waren, so weiden auch noch heutzutage viele Christen in dem großen Lager dieser kirchlichen Gemeinschaften zurückgehalten. Die Schrift hat dieses vorausgesehen, und darum lesen wir: „Es waren aber auch falsche Propheten unter dein Volk, wie auch unter euch falsche Lehrer sein werden, welche Sekten des Verderbens neben einführen werden, und den Gebieter verleugnen, der sie erkauft hat, und sich selbst schnelles Verderben zuziehen. Und viele werden ihren Ausschweifungen nachfolgen, um welcher willen der Weg der Wahrheit verlästert werden wird. Und durch Habsucht werden sie euch verhandeln mit erkünstelten Worten“ (2. Pet 2,1–3). – Ist diese schreckliche Schilderung nicht vielfach zur Wirklichkeit geworden? Neun wir aber noch eine andere Beschreibung des heutigen Lagers von Samaria hören wollen, so brauchen wir nur unser Auge auf 2. Timotheus 3 zu richten. Gott hat durch die Macht seiner Gnade bereits viele Seelen aus jenem Lager befreit; und dieselbe Macht wird fortfahren in ihrer Tätigkeit, um diejenigen zu erlösen, die noch darin zurückgehalten werden. Satan gibt sich, wie ehemals Sanballat, große Mühe, um die Gläubigen zu verlocken, in eines der Dörfer im Tal Ono hinabzusteigen. „Du hast weiter nichts nötig“, sagt man, „als den einseitigen, kleingeistigen, abgeschlossenen Standpunkt zu verlassen und nach unten in das niedrige Gebiet der Werkleute zu kommen; du brauchst nur durch deine Gegenwart das herrschende System mit seinen so genannten Ämtern anzuerkennen, und dann kannst du weiter glauben, was du willst. Verlass den inneren Raum der verhassten Mauer; denn wenn du dieses nicht tust und dem, was da ist, deine Anerkennung versagst, so bist du nichts weiter, als das Glied einer Sekte in Jerusalem, und zeigst die Neigung, Vorsteher und Leiter derselben zu sein. So komme denn, dass wir zusammen beraten.“
Das ist die verführerische Sprache des Feindes. Allein sie, die für Christus abgesondert sind, können darauf antworten: „Du hast dieses alles aus deinem Herzen erdichtet. Du weißt, dass wir keine Sekte sind; du weißt, dass wir nicht jemanden ausschließen, der durch Gott zu Christus gebracht ist, und der allein seine Ehre und Herrlichkeit sucht.“ – O es ist ein schreckliches Ding, dem Werk Gottes in unseren Tagen zu widerstehen, wie einst Sanballat es tat!
Wir können nicht bei dem Heer zu Samaria und Zugleich bei den wenigen innerhalb der Mauer der Absonderung sein. „Deshalb lasst uns zu Ihm hinausgehen außerhalb des Lagers, Beine Schmach tragend“ (Heb 13,13). Möge der Herr durch seinen Geist dir darüber Verständnis geben! Wie könnten die Gläubigen, die sich außerhalb des Lagers um Christus versammelt haben, in das „Tal Ono“ hinabsteigen und die dortigen „Werkleute“ anerkennen? Nein, jene Zwanzigtausend in der Ebene Ono werden meine Seele von Christus zu trennen vermögen.
Das Werk, welches Gott jetzt durch den Heiligen Geist zu Stand bringt, ist ungleich größer, als dasjenige, welches Er durch Nehemia verrichtete. Der Überrest innerhalb der Mauern Jerusalems war nicht mehr unterschieden von dem Lager zu Samaria, wie die um Christus versammelten Seelen es sind von dem Lager der Christenheit. Möchten sie, die also um Christus sich versammeln, nur aufrichtiger für Christus sein! Sie haben oft gefehlt; aber sie können darum die einzige wahre Grundlage – das Versammeltsein um Christus – nicht aufgeben. Sie erkennen ihre Mängel und Gebrechen; aber Christus verlassen sie nicht.
Jetzt haben wir noch die siebente oder letzte Form der Verhinderung des Werkes Gottes – Gefahr von innen. Hier tritt vor allem die List Satans an den Tag. Im vorigen Fall war es die Versuchung von außen, um ins Tal Ono hinab zu steigen und die Werkleute der Christenheit anzuerkennen. Jetzt aber haben wir es mit dem Bösen im Innern zu tun. Beachten wir dieses mit aller Aufmerksamkeit. „Und ich kam in das Haus Semajas, des Sohnes Delajas, des Sohnes Mehetabeels; er hatte sich aber eingeschlossen. Und er sprach: Lass uns zusammenkommen im Haus Gottes, im Innern des Tempels, und die Tür des Tempels verschließen, denn sie kommen, dich zu erschlagen: und in der Nacht kommen sie, dich zu erschlagen“ (Kap 6,10).
War das nicht ein annehmbarer Vorschlag? Es ist doch sicher gut, im Haus Gottes zusammen zu kommen. ... Doch das Schließen der Tempeltüren würde für uns so viel sein, als das Stellen des Lichts unter den Scheffel. Die Versuchung liegt oft nahe, das Zeugnis verstummen zu lassen. Wenn wir uns nicht mit den kirchlichen Werkleuten im Lager vereinigen wollen, dann tritt die Versuchung heran, aus Selbstsucht oder aus Menschenfurcht uns abzuschließen und nur an uns selbst zu denken. Vielleicht naht sich eine Gefahr; aber sollen wir deshalb, und selbst wenn unser Leben auf dem Spiel stände, unser Zeugnis ausgeben? Sollen wir fliehen und uns aus Furcht abschließen? Ist das der Wille Gottes? „Ich erkannte“, sagt Nehemia, „und siehe, Gott hatte ihn nicht gesandt. ... Tobija und Sanballat – hatten ihn gedungen“ (V 12). Möchte das ruhige Vertrauen Nehemias uns zur Nachahmung dienen! Sicher, die größte Versuchung scheint mir die zu sein, welche von falschen Brüdern herstammt. Der Feind wusste, dass die Mauer aufgerichtet war. „Sie sanken sehr in ihren Augen, und sie erkannten, dass dieses Werk von unserem Gott geschehen war“ (V 16). Aber was taten die falschen Brüder? „In jenen Tagen liehen die Edlen von Juda viele Briefe an Tobija gehen. ... Denn viele in Juda waren seine Mitverschworenen“ (V 17–18). Das ist in der Tat eine höchst traurige Erscheinung und schwere Prüfung, wenn solche, welche äußerlich den Platz des Versammeltseins um Christus eingenommen haben, dennoch – gleich den gemischten, Ehen in Juda – die Grundsätze des Lagers mit den Grundsätzen Gottes zu vereinigen suchen. Wir werden uns jedoch nicht wundern, wenn wir an die Worte des Apostels denken: „Und aus euch selbst werden Menschen aufstehen, die verkehrte Dinge reden“ (Apg 20,30). Ohne Zweifel sind diese doppelherzigen Brüder die größten Steine des Anstoßes für Seelen, die nach Wahrheit suchen.
Das sind also in Kurzem die sieben Stadien, welche der Widerstand gegen das Werk Gottes durchläuft. Das Missfallen des Feindes (Kap 2,10), seine Verachtung (Kap 2,19), sein Zorn (Kap 4,1), sein Spott (Kap 4,3), der Streit (Kap 4,8), die List von außen (Kap 6,1–9), und die List und Gefahr von innen (Kap 6,10). Und gewiss wird mancher Leser anerkennen, dass er diesen siebenfachen Widerstand gegen das Werk Gottes auch in unseren Tagen entdeckt habe.
Nichtsdestoweniger aber war die Mauer aufgeführt. Kein noch so starker Widerstand hat das Werk Gottes zu zertrümmern vermocht. Und so ist es auch jetzt. Es werden Gläubige um Christus versammelt: die Mauer wird gebaut, die Tore werden eingesetzt, und Gott hat treue Männer zu Wächtern berufen. In siebenfältiger Weise hat man die Treuen angegriffen: aber Gott hat den heiligen Grundsatz der Absonderung bewahrt. Ihm sei die Ehre! Wir bedürfen sicher der ganzen Waffenrüstung Gottes. Unser Sanballat ist, wenn auch überwunden, nicht tot. Der siebenfältige, d. h. der volle Widerstand wird fortdauern bis zur Ankunft des Herrn.
Es könnte jemand sagen: „Wenn Gott, wie im Anfang, Seelen um Christus versammelt hat, und wenn die Wahrheit, dass es nur eine Versammlung Gottes gibt, jede menschliche Sekte ausschließt, so muss doch auch, wie ehedem, die Grundlage geräumig genug sein, um jedes gehorsame Kind aufzunehmen.“ – Nun, ist es denn nicht eine wunderbare Wahrheit, dass alle Gläubigen den einen Leib Christi bilden, dass sie alle eins sind? Und wenn nun Christus in der Verwaltung der Versammlung, bezüglich ihrer Gaben sowie ihrer Anbetung im Geist, der Ihm gebührende Platz eingeräumt wird, so bietet sicher diese Stätte Raum genug, um darin zu verweilen. Oder fehlt es etwa an Raum für jeden Christen auf Erden, welcher in der Furcht des Herrn und nach seinem Wort zu wandeln begehrt? Wo diese Wahrheit erkannt wird, da schwindet das Bedürfnis nach irgendeiner Sekte, die der Mensch aufgerichtet hat. Aber wenn der Raum soweit und so gesegnet ist, woher kommt es doch, dass sich so wenige dort befinden? Nun in Jerusalem finden wir dasselbe. „Die Stadt aber war geräumig und groß, und wenig Volkes darin, und es waren keine Häuser gebaut“ (Kap 7,4). Im Verhältnis zu du Räumlichkeit gab es also nur wenige Bewohner; aber in Kapitel 7 finden wir das genaue Geschlechtsverzeichnis derer, welche aus der Gefangenschaft, sowie auch derer, die von Tel–Mela, Tel–Harsa, Cherub–Addon und Immer hinaufgezogen waren, welche Letztere jedoch nicht das Haus ihrer Väter und ihren Samen angeben konnten, ob sie aus Israel wären (V 61). Auch von anderen wird gesagt, dass sie ihre Schrift in den Geschlechtsverzeichnissen suchten, aber nicht fanden, und darum als Unreine vom Priestertum ausgewiesen wurden. „Und der Thirsatha sprach zu ihnen, dass sie nicht essen dürften vom Hochheiligen, bis ein Priester aufstände mit dem Urim und dem Tummim“ (V 64–65).
Dieses alles ist höchst lehrreich. Wenn die Vermengung mit den Heiden die Israeliten in Bezug auf ihre Nationalität unsicher gemacht hatte, ist es da ein Wunder, dass, in Folge der Vermengung der Kirche mit der Welt, so viele bezüglich ihrer Rettung und Stellung ungewiss geworden sind? Und das ist eine der Hauptursachen, dass so viele den gesegneten Platz der durch den Heiligen Geist um Christus Versammelten Kinder Gottes nicht einnehmen. Wie so viele Israeliten ihr Geschlechtsverzeichnis nicht aufzuweisen vermochten, so fühlen sich auch unzählige Christen dazu außer Stand. Die falsche Stellung, in der sie sich befinden, hat sie so sehr verwirrt, dass sie nicht recht mehr wissen, ob ihre Namen in den Himmeln angeschrieben sind, oder nicht. Auch wird dieses in den großen Kirchengemeinschaften durchaus nicht als wichtig betrachtet. Und dennoch, wenn wir diese Gewissheit nicht besitzen, so sollen wir auch nicht von dem Hochheiligen essen (V 63). Wir müssen Jesus, als den großen Hohepriester in der Gegenwart Gottes kennen – Ihn, der, nachdem Er unsere Sünden auf dem Kreuz getragen, nun mit Ehre und Herrlichkeit gekrönt ist. Als unsere Gerechtigkeit, auferstanden aus den Toten, schauen wir Ihn jetzt mit dem Urim und Tummim. In seinem Antlitz strahlt das Licht (Urim) und die Vollkommenheit (Tummim) Gottes. Wie kannst du in das Heiligtum eingehen durch das Blut Jesu, solange dir die Gewissheit der Errettung fehlt? O suche doch dein Geschlechtsverzeichnis, geliebter Leser, und ruhe nicht, bis diese ernste Frage gelöst ist. Richte doch mit Ernst die Frage an deine Seele: Ist mein Name in den Himmeln angeschrieben? Bin ich gewiss, dass meine Sünden für ewig hinweggetan sind? Ist Gott wirklich mein Rechtfertiger? Wird mich nichts zu scheiden vermögen von der Liebe Gottes in Christus? Bin ich versichert, dass ich, wenn ich sterbe, bei Christus sein werde? Bin ich gewiss, dass, wenn ich bei seiner Ankunft lebe, Er mich ausnehmen wird, um allezeit bei Ihm zu sein?
Nie aber wirst du auf diese ernsten Fragen eine Antwort finden im Blick auf dein Inneres, auf deine Gefühle und Erfahrungen. Nein, es muss der Blick des Glaubens sein, gerichtet auf Ihn, der erhöht worden und nun zur Rechten Gottes sitzt. Selten begegnete ich einer Seele, welche diese herrliche Gewissheit besaß und genoss, die wirklich Frieden mit Gott hatte, und sich dabei Zugleich in dem Lager der Christenheit, fern von der Schmach Christi, behaglich fühlte. Nur solche Seelen, denen die völlige Gewissheit mangelt, finden es bequemer, in menschlichen Systemen zu verbleiben, als „hinaus zu gehen außerhalb des Lagers, die Schmach Christi tragend.“ Darum ist die Zahl derer, die sich um Christus, als ihren einzigen Mittelpunkt, versammeln, so äußerst gering, und darum das Zeugnis für den Herrn so schwach.
Hier drängt sich uns, sowohl im Blick auf den ehemaligen, als auch den jetzigen Überrest, eine sehr wichtige Frage auf. Wenn die Israeliten weder das Innere der Trennungsmauer verlassen und zu den Werkleuten hinabsteigen, noch sich im Tempel abschließen durften, was blieb ihnen dann noch zu tun übrig? Wenn wir den uns von Gott angewiesenen Platz – den Grundsatz des einen Leibes und der Leitung des Heiligen Geistes – nicht verlassen, wenn wir die Wahrheit Gottes nicht durch Zugeständnisse an die herrschenden Systeme und an das, was die Menschen als ihren Gottesdienst bezeichnen, aufs Spiel setzen und uns andererseits ebenso wenig abschließen dürfen, was bleibt, frage ich, uns noch zu tun übrig? In Kapitel 8 finden wir die Antwort auf diese Frage. Das Volk „versammelte sich wie ein Mann. ... Und Esra, der Priester, brachte das Gesetz herbei vor die Versammlung. ... Und sie lasen aus dem Gesetzbuch Gottes deutlich, und gaben den Sinn an und machten es verständlich beim Lesen“ (V 1–8). Es war das Gesetzbuch Gottes. Welch ein Segen! Und wie aufmerksam lauschte das Volk! „Die Ohren des ganzen Volkes waren auf das Gesetzbuch gerichtet“, während Esra las „vom lichten Morgen bis zum Mittag vor den Männern und den Weibern und denen, die verständig waren“ (V 3).
Das ist das Wert derer, die für Christus abgesondert sind; das ist es, was sie zu tun haben. Welch einen geringen Einfluss räumt man dem Wort Gottes im Lager ein! Ganz anders geziemt es sich für die, welche Christus als ihren alleinigen Mittelpunkt anerkennen. Sie sollten alle Männer der Bibel sein. Ihre Sache ist es, das „Buch Gottes“ zu offenen, es deutlich zu lesen und anderen verständlich zu machen. In diesem Buch spricht Gott zu uns. Und wie zu Nehemias Zeiten die Zuhörer „mit Aufheben ihrer Hände: Amen, Amen!“ riefen, und „sich neigten und bückten vor Jehova mit dem Angesicht zur Erde“ (V 6), so wird sich auch in unseren Tagen die Macht des Wortes Gottes erweisen. Ja, wenn unser Thirsatha 1, (Geber) der Heilige Geist, uns das köstliche Wort verstehen lasst, dann freuen wir uns des Herrn, dann rühmen wir uns Gottes. Aber sollen nur wir an dieser Freude Teil haben? Keineswegs. Wir hören die Worte: „Geht hin, esst Fettes und trinkt Süßes und sendet dem Teil, welchem nichts zubereitet ist, denn der Tag ist heilig unserem Herrn; und betrübt euch nicht, denn die Freude Jehovas, sie ist eure Stärke“ (V 10). Und das Volk tat also; „denn sie hatten die Worte verstanden, die man ihnen kundgetan hatte“ (V 12).
Es ist durchaus verkehrt, wenn wir nur auf unsere eigene persönliche Erbauung bedacht sind. Das ist geistliche Selbstsucht. Zunächst müssen wir freilich selbst in der Fülle des Christus – in den Gesinnungen unseres teuren Herrn, in der Lieblichkeit seines Lebens hier auf Erden, und in seiner fortdauernden, unwandelbaren Liebe – unsere Nahrung gefunden haben. Erfüllt der Wohlgeruch seiner anbetungswürdigen Person nicht den Himmel der Himmel? O lasst uns das „Fette“ essen und das „Süße“ trinken, lasst uns erfüllt sein von Christus! Dann aber lasst uns beschäftigt sein, um auch denen „Teile“ zu senden, welchen nichts zubereitet ist. Ja, geliebte Brüder, das ist unsere Arbeit, unsere ununterbrochene Arbeit selbst gegenüber solchen, die uns nicht verstehen, ja, die uns nicht verstehen wollen, die uns lästern, die in Unwissenheit alles Böse uns nachsagen. Vergelten wir nicht Böses mit Bösem, nicht Scheltwort mit Scheltwort, sondern, im Gegenteil, suchen wir das geistliche Wohl aller, senden wir „Teile“ der ganzen Versammlung Gottes. Bedenken wir, wie der Herr dem wütenden Verfolger, dem Saulus von Tarsus entgegenkam. Auch in unseren Tagen sind nicht wenige, die früher bittere Widersacher waren, durch den Vater belehrt worden, ans dem Lager hinaus zu gehen zu dem Herrn Jesus, dem wahren Mittelpunkt der Versammlung. Möge das, was dem Herrn gefällt, auch uns wohlgefällig sein! „Denn die Freude des Herrn ist unsere Stärke.“
Und welche Folgen hatte das Lesen des Buches Gottes und das Verstehen der Worte, die dem Volk kundgetan worden waren? Am zweiten Tage ihrer Zusammenkunft „fanden sie im Gesetz geschrieben, dass die Kinder Israel in Laubhütten wohnen sollten am Fest am siebenten Monat. ... Und die ganze Versammlung derer, die zurückgekommen waren aus der Gefangenschaft, machten Hütten und wohnten in Hütten. Denn also hatten die Kinder Israel nicht getan seit den Tagen Josuas, des Sohnes Nuns, bis auf selbigen Tag: und es war eine sehr große Freude“ (V 14.17). Ist das nichtsehr beachtenswert? Sie waren im Vergleich mit Israel in den Tagen Salomos nur ein geringer, unansehnlicher Überrest, und dennoch war dieses Fest seit Josuas Zeiten nicht also gefeiert worden. Das Sitzen der Israeliten in Laubhütten war ein schönes Bild von den Segnungen der tausendjährigen Regierung ihres solange ersehnten Messias und Herrn. Und tausend Jahre hinter einander hatte Israel dieses Fest der Laubhütten nie so gefeiert, wie es jetzt der schwache Überrest tat mit „sehr großer Freude.“
Es ist aber ebenso beachtenswert, dass die Versammlung oder Kirche Gottes seit den Tagen des Apostels Paulus die Erwartung des Herrn außer Acht gelassen hat, bis Gott in unseren Tagen einen geringen Überrest außerhalb des Lagers um Christus versammelt hat. In den Tagen des Paulus erwiesen sich die Gläubigen als solche, die sich „von den Götzenbildern zu Gott bekehrt hatten, zu dienen dem lebendigen und wahren Gott, und zu erwarten seinen Sohn aus den Himmeln“ (Man lese unter Gebet 1. Thes 1,9–10; 2,19; 3,13; 4,15–18). Müssen wir nicht bekennen, dass wir beinahe achtzehnhundert Jahre vergeblich in der Kirchengeschichte diese Erwartung des Herrn suchen? Zwar wurde in den Tagen schwerer Verfolgung etwas dergleichen wahrgenommen: aber kaum ließ der Druck von Seiten der Welt nach, so wurde die Kirche selbst verweltlicht und nahm ihren Platz in der Welt ein, als wäre sie von der Welt. „Als aber der Bräutigam verzog, wurden sie alle schläfrig und schliefen ein“ (Mt 25,5).
Was hat nun in den Tagen, seitdem Gott begonnen, einen Überrest um Christus zu versammeln, stattgefunden? Haben die Schriften nicht eine ähnliche Wirkung ausgeübt, wie sie es taten in den Tagen Nehemias? Die gesegnete, solange verwahrloste Hoffnung der Versammlung ist wieder lebendig geworden. Der versammelte Überrest ist durch den Geist Gottes dahin gebracht, den Sohn Gottes aus den Himmeln zu erwarten; und das ist eins „sehr große Freude.“ Welch eine gesegnete Wahrheit, dass, „wie es dem Menschen gesetzt ist, einmal zu sterben, danach aber das Gericht, also auch der Christus, einmal geopfert, um vieler Sünden zu tragen, zum zweiten Male ohne Sünde erscheinen wird denen, die Ihn erwarten zur Seligkeit!“ (Heb 9,28) Ja, „wir wissen, dass, wenn Er offenbart ist, wir Ihm gleich sein werden, denn wir werden Ihn sehen, wie Er ist“ (1. Joh 3,2). Diese Hoffnung ist das gerade Gegenteil von der schreckenerregenden, düsteren Erwartung des Tages des Gerichts, um vor dem Richterstuhl Gottes gerichtet zu werden. Es herrscht jetzt eine „sehr große Freude“, weil wir wissen, dass Er uns geliebt und uns von unseren Sünden gewaschen hat in seinem eigenen Blut; und es ist nun unser herrliches Vorrecht, Ihn aus den Himmeln zu erwarten mit der unaussprechlichen Freude jenes Augenblicks des kommenden Triumphes. „Amen, komm, Herr Jesu!“
Und wie im Gesetz geboten wurde, dass die Kinder Israel alles, was sie vernommen, „verkündigen und einen Ruf ergehen lassen sollten durch alle ihre Städte“ (V 15), so ist es auch des Herrn Wille, dass wir mit einer heiligen Freimütigkeit die erkannte Wahrheit anderen mitteilen. Wir haben Gemeinschaft mit Gott und unter einander; unser Verständnis für sein geschriebenes Wort ist geöffnet; wir können seinen Sohn aus den Himmeln erwarten. Neckt das nicht ein Bedürfnis, auch andere mit der Wahrheit bekannt zu machen?
So war also die Mauer gebaut. Die „sehr große Freude“ ließ allen Hass der Menschen vergessen. Indes konnte der eine oder der andere Leser ausrufen: „Wie, diese Handvoll Leute sollten auf der ganzen Erde allein auf dem wahren, von Gott geheiligten Boden stehen und allein um den einzig wahren Mittelpunkt versammelt sein? Ist das nicht Selbstgefälligkeit, Einbildung und Hochmut?“ In Kapitel 9 finden wir das Gegenteil. „Die Kinder Israel versammelten sich mit Fasten und in Säcken und Erde auf ihnen. Und es sonderte sich der Same Israels ab von allen Kindern der Fremde; und sie traten hin und bekannten ihre Sünden und die Ungerechtigkeiten ihrer Väter“ (V 1–2). Man las im Gesetzbuchs Gottes, man bekannte, man betete an. Ist das Selbstüberhebung oder Hochmut? Alles war göttlich geordnet. Die Trennung vom Bösen bringt uns zum Selbstgericht vor Gott. Je mehr wir sein Wort lesen, desto mehr haben wir zu bekennen; und je mehr wir bekennen, desto mehr werden wir anbeten.
Dann hören wir, wie die Leviten mit lauter Stimme Gott anrufen. Selbstgericht bringt das Gefühl der Abhängigkeit und das Vertrauen des Glaubens. „Steht auf, preist Jehova, euren Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Und man preise den Namen deiner Herrlichkeit, der erhaben ist über allen Preis und Ruhm“ (V 5). So steht Jehova vor ihren Seelen. Wie sehr sie auch ihre und ihrer Väter Sünden anerkennen müssen, so steht doch Gott in allem, was Er getan hat und was Er für sie ist, in jedem Vers dieses ganzen Kapitels im Vordergrund. Und diese Erscheinung zeigt sich überall, wo eine Seele wirklich um Christus versammelt wird. Hiob sagt: „Mein Auge sieht dich; darum verabscheue ich mich und bereue in Sack und Asche.“ Je näher man bei Gott ist, desto mehr wird sich, sowohl bei einzelnen Personen, als auch in einer Versammlung von Gläubigen, das Fleisch als gekreuzigt erweisen. Es ist nicht die Frage, was wir sind; denn ach, wir haben alles verdorben, sondern es ist die Frage, was Gott ist, und was Er für uns getan hat. Gewiss, tiefe und wirkliche Demut geziemt denen, die sagen können, dass sie durch nichts anderes von dem Feuersee getrennt sind, als durch das Blut Christi. Ihm allein gebührt Lob und Herrlichkeit! Er allein ist würdig, alle seine Erlösten ohne Flecken und Runzeln in seine eigene Stätte zu führen, die Er für sie bereitet hat. „Lasst uns denn zu Ihm hinausgehen außerhalb des Lagers, seine Schmach tragend.“ „Durch Ihn lasst uns Gott stets das Opfer des Lobes darbringen, das ist die Frucht der Lippen, die seinen Namen bekennen!“
Wie lehrreich ist dieses alles für die gegenwärtige Zeit! Wo befindest du dich, mein Leser? Bist du noch in dem religiösen Lager der Welt, getrennt von der wahren göttlichen Grundlage? Oder hast du dich, gleich jenem Überrest, zurückführen lassen auf den Boden, den die Versammlung im Anfang einnahm? Bist du in Betreff des gegenwärtigen Zustandes der Christenheit vor Gott tätig gewesen, wie einst Nehemia es war in Betreff der heiligen Stadt? Kennst du etwas von dem siebenfältigen Widerstand gegen das Werk Gottes in unseren Tagend Hast du die Gewissheit, dass dein Name in den Himmeln angeschrieben ist, oder suchst du noch vergeblich an deinem Geschlechtsverzeichnis? Bist du als Kind Gottes dahin gebracht, das Wort Gottes zu untersuchen, das „Fette“ zu essen und das „Süße“ zu trinken? Macht es dir Freude, „Teile“ zu senden denen, welchen nichts zubereitet ist? Erwartest du Jesus aus den Himmeln? Hast du inmitten der Trennungsmauer dein Haupt zum Bekenntnis und zur Anbetung vor Gott gezeugt? Befindest du dich auf der Grundlage, die Gott gelegt, dann sei auf deiner Hut gegen die Männer von Tyrus (Kap 13,16), die ihre verlockenden Waren bis vor die Mauer bringen. Halte die Tore geschlossen und bewache sie sorgfältig (V 19). Latz nichts eindringen, was deine Sabbatruhe in Christus, deine Freude in Gott stören könnte. – Der Herr aber heilige uns mehr und mehr durch sein Wort, welches die Wahrheit ist! Stille unsers Herzens Sehnen,
Herr Jesu, komm!
Führ' uns aus dem Land der Tränen,
Herr Jesu, komm!
Hier, wo Feinde uns umringen,
Satan uns legt tausend Schlingen,
Will Dein Lob nur schwach erklingen.
Herr Jesu, komm! Ganz zertrennt die Heil'gen stehen,
Herr Jesu, komm!
Einheit ist nicht mehr zu sehen.
Herr Jesu, komm!
Satans List hat sie zerstöret,
Sünd' und Welt manch Herz betöret,
Ach, wie sehr wirst Du entehret!
Herr Jesu, komm! Dort wird enden alles Klagen,
Herr Jesu, komm!
Jedes Herz für Dich nur schlangen,
Herr Jesu, komm!
Jeder wird Dich froh begrüßen,
Beten an zu Deinen Füßen
Und in ew'gem Lob zerfließen.
Herr Jesu, komm! Herrlich wirst Du dann erscheinen,
Herr Jesu, komm!
In der Mitte all der Deinen.
Herr Jesu, komm!
Erd' und Himmel werden spenden
Ruhm und Preis an allen Enden.
Alles wird zu Dir sich wenden!
Herr Jesu, komm!
Fußnoten
- 1 Der Beiname Nehemias. „Nehemia“ bedeutet „der Trost Gottes.“