Botschafter des Heils in Christo 1876
Gedanken über das Kommen des Herrn - Teil 5/6
7. Die Christenheit
Welche verschiedenartige Gedanken und Gefühle werden durch das Wörtchen „Christenheit“ in der Seele wachgerufen! Sie bringt mit einem Mal jene ungeheure Masse von Getauften vor unser Auge, welche sich die Kirche Gottes nennt, aber, außer ihrer Verantwortlichkeit, alles eingebüßt hat, was ein Recht auf diesen Namen gibt. Sie ist nicht das wahre Christentum; ihre Stellung ist unklar und unbestimmt. Sie nimmt weder die Stellung des Judentums oder des Heidentums, noch die Stellung der wahren Kirche Gottes ein. Sie ist eine verdorbene, verworrene Mischung. Sie ist die Fälschung der besten Sache, und gerade darum besonders verwerflich. Das ist es, mit einem Wort, was der Feind aus der bekennenden Christenheit gemacht hat. Sie ist, weil sie ein helleres Licht und größere Vorrechte genießt, und weil sie das höchste Bekenntnis ablegt und den erhabensten Standpunkt einnimmt, weit schlechter als das Judentum, ja selbst weit schlechter als das finstere Heidentum. Sie ist schließlich das Bild des schrecklichsten Abfalls, wofür das schwerste Gericht, der bitterste Tropfen in der Schale des gerechten Zornes Gottes aufbewahrt ist.
Doch – Gott sei gepriesen! – es gibt selbst in der Christenheit noch einige wenige Namen, die ihre Kleider nicht besudelt haben. Sie sind wie glänzende Funken in der glimmenden Asche – wie köstliche Steine unter dem schrecklichen Schutt. Was aber die Masse der bekennenden Christen betrifft, die man mit dem Ausdruck „Christenheit“ bezeichnet, so kann, mögen wir an ihren gegenwärtigen Zustand oder an ihr zukünftiges Schicksal denken, nichts entmutigender, nichts erschreckender sein. Wir zweifeln sehr, ob die Christen im allgemeinen ein richtiges Verständnis von dem wahren Charakter und dem unvermeidlichen Verhängnis dessen haben, was sie umgibt. Denn in diesem Fall würden sie ernster sein und die Notwendigkeit erkennen, sich von den schlechten Wegen der Christenheit zu trennen und mit aller Entschiedenheit gegen den Geist und die Grundsätze derselben Zeugnis abzulegen.
Wenden wir indessen unsere Aufmerksamkeit wieder auf die tief ernste Unterredung des Herrn am Ölberg zurück, wo Er sich, wie bereits bemerkt, mit der bekennenden Christenheit beschäftigt. Er tut dieses in dreifacher Weise: in den Gleichnissen vom untreuen Knecht, von den zehn Jungfrauen und den Talenten. In jedem dieser Gleichnisse haben wir zweierlei zu beachten, nämlich das, was acht und was unecht, was wahr und was falsch, was hell und was dunkel ist, was dem Licht und was der Finsternis angehört. Wenn wir diese drei Gleichnisse an unseren Blicken vorübergleiten lassen, so werden wir finden, dass sie in gedrängter Kürze einen reichen Schatz der ernstesten und höchst praktischen Lehren enthalten.
In Matthäus 24,45–47 lesen wir: „Wer ist nun der getreue und kluge Knecht, den sein Herr gesetzt hat über sein Gesinde, um ihnen die Speise zu geben zur rechten Zeit? Glückselig jener Knecht, den sein Herr, wenn er kommt, also tuend finden wird! Wahrlich, ich sage euch: Er wird ihn über seine ganze Habe setzen.“ – Hier haben wir Zugleich die Quelle und den Zweck jedes Dienstes im Haus Gottes. „Den sein Herr gesetzt hat über sein Gesinde“, – das ist die Quelle; und: „um ihnen die Speise zu geben zur rechten Zeit“, – das ist der Zweck.
Diese Dinge sind von der äußersten Wichtigkeit und erfordern die tiefste Aufmerksamkeit des Lesers. Jeder Dienst im Haus Gottes ist, sowohl in den alt– als auch in den neutestamentlichen Zeiten, von göttlicher Anordnung. Ein durch menschliche Autorität bestimmter Dienst findet in der Heiligen Schrift keine Anerkennung. Niemand, außer Gott, kann jemanden, welcher Art oder Gattung es auch sei, zum Diener in seinem Haus einsetzen. In den alttestamentlichen Zeiten wurden Aaron und seine Söhne von Jehova für das Priestertum bestimmt: und wenn ein Fremder es wagte, in die Verrichtungen des heiligen Dienstes einzugreifen, so musste er es mit dem Leben büßen. Selbst dem König war es nicht gestattet, das goldene Rauchfass anzurühren; denn wir lesen von Usia, dem König von Juda: „Aber da er stark war, erhob sich sein Herz bis zum Verderben; und er handelte treulos gegen Jehova, seinen Gott, und ging in den Tempel Jehovas, zu räuchern auf dem Rauchaltar. Und es kam hinter ihm her Asarja, der Priester, und mit ihm Priester Jehovas, achtzig wackere Männer; und sie widerstanden Usia, dem König, und sprachen zu ihm: Es gebührt dir nicht, Usia, Jehova zu räuchern, sondern den Priestern, den Söhnen Aarons, die geheiligt sind zum Räuchern. Gehe aus dem Heiligtum hinaus: denn du handelst treulos, und es gereicht dir nicht zur Ehre von Jehova, Gott. Und Usia ward zornig; und in seiner Hand war ein Rauchfass zum Räuchern; und da er zürnte mit den Priestern, brach der Aussatz aus an seiner Stirn. ... Usia, der König, war aussätzig bis an den Tag seines Todes“ (2. Chr 26,16–21).
Das waren die ernsten und schrecklichen Folgen des unberufenen Eingreifens des Menschen in das, was ganz und gar göttlich angeordnet war. Liegt hierin nicht eine Warnung für die Christenheit? Ohne Zweifel. In der Tat, der bekennenden Kirche wird in Ausdrücken, die nicht missverstanden werden können, gesagt, sich vor einem menschlichen Eingriff in jenes Gebiet zu hüten, über welches nur Gott zu verfügen hat. „Denn jeglicher aus Menschen genommene Hohepriester wird für Menschen bestellt in den Sachen mit Gott, auf dass er sowohl Gaben als Schlachtopfer darbringe für die Sünde. ... Und es nimmt nicht jemand sich selbst die Ehre, sondern als von Gott berufen, gleich wie auch Aaron“ (Heb 5,1–4).
Und dieser Grundsatz göttlicher Anordnung war nicht nur auf den heiligen Dienst in der Stiftshütte beschränkt. Niemand durfte, ohne von Jehova direkt dazu autorisiert zu sein, es wagen, seine Hand auch nur an den unbedeutendsten Teil dieses heiligen Gebäudes zu legen. – „Und Jehova redete zu Mose und sprach: Siehe, ich habe mit Namen berufen Bezalel, den Sohn Uris, des Sohnes Hurs vom Stamm Juda.“ – Und wie Bezalel sich selbst nicht zu diesem Werk verordnen konnte, so durfte er sich auch nicht selbst seinen Mitarbeiter wählen oder bestimmen. Nein, auch dieses geschah von Seiten Gottes; denn wir lesen: „Und ich, siehe, ich habe ihm zugegeben Oholiab“ (2. Mo 31). Beide, sowohl Bezalel, als auch Oholiab, erhielten ihren Auftrag von Jehova selbst, der allein wahren Quelle jeder amtlichen Autorität.
Ebenso verhielt es sich mit dem prophetischen Amt oder Dienste. Nur Gott allein konnte einen Propheten ausrüsten und aussenden. Freilich gab es leider solche, von denen Jehova sagen musste: „Ich habe die Propheten nicht gesandt und sie sind gelaufen“ (Jer 23,21). Es waren unheilige Eindringlinge in das Gebiet der Prophezeiung, ebenso wie es solche gab in dem Dienst des Priestertums; aber alle brachten das gerechte Gericht Gottes über sich.
Ist dieser große Grundsatz – möchten wir fragen – in unseren Tagen verändert? Ist der Dienst von seiner ehemaligen Grundlage hinweg gerückt? Der lebendige Strom von seiner göttlichen Quelle abgelenkt worden? Ist jene höchst kostbare und herrliche Verordnung ihrer hohen Würde entkleidet? Kann es möglich sein, dass in den Zeiten des Neuen Testaments der Dienst seiner göttlichen Vortrefflichkeit beraubt und zu einer bloß menschlichen Anordnung herabgesunken ist? Kann jemand sich selbst oder einen anderen zu irgendeinem Zweig des Dienstes im Haus Gottes bestimmen?
Welche Antwort können wir auf diese Fragen geben? Gott sei Dank! Keine andere, als ein bestimmtes, feierliches Nein. Der Dienst war und ist göttlich und wird stets göttlich sein – göttlich in seiner Quelle, göttlich in seiner Natur, göttlich in jedem Zug und Grundsatz. „Es sind aber Verschiedenheiten von Gnadengaben, aber derselbe Geist; und es sind Verschiedenheiten von Diensten, aber derselbe Herr; und es sind Verschiedenheiten von Wirkungen, aber derselbe Gott, der alles in allen wirkt“ (1. Kor 13,4–6). „Nun aber hat Gott die Glieder gesetzt, ein jedes von ihnen an dem Leib, wie Er gewollt hat“ (V 18). „Und Gott hat etliche in der Versammlung gesetzt: erstens Apostel, zweitens Propheten, drittens Lehrer, sodann Wunderkräfte, sodann Gaben der Heilungen, Hilfsleistungen, Regierungen, Arten von Sprachen“ (V 28). „Einem jeden aber von uns ist die Gnade gegeben worden nach dem Maß der Gabe des Christus. Darum sagt Er: Er ist hinauf gestiegen in die Höhe und hat die Gefangenschaft gefangen geführt und hat den Menschen Gaben gegeben. ... Und Er hat etliche gegeben als Apostel und etliche als Propheten und etliche als Evangelisten und etliche als Hirten und Lehrer, zur Vollendung der Heiligen: für das Werk des Dienstes, für die Auferbauung des Leibes Christi, bis wir alle hingelangen zu der Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes, zu dem erwachsenen Mann, zu dem Maß des vollen Wuchses der Fülle des Christus“ (Eph 4,7–13).
Hier haben wir also die Quelle alles Dienstes in der Kirche oder Versammlung Gottes von Anfang bis zu Ende, von ihrem in Gnade gelegten Fundament an bis zum Schlussstein in der Herrlichkeit. Sie ist göttlich und himmlisch, und nicht menschlich und irdisch. Sie ist nicht von Menschen oder durch einen Menschen, sondern durch Jesus Christus und Gott, den Vater, der Ihn auferweckt hat aus den Toten, sowie in der Macht des Heiligen Geistes (Siehe Gal 1). In der ganzen Heiligen Schrift findet eine menschliche Autorität in irgendeinem Zweig des Dienstes in der Kirche oder Versammlung durchaus keine Anerkennung. Wenn es sich um eine Gabe handelt, so wird ausdrücklich gesagt, dass es die „Gabe des Christus“ ist; wenn es sich um eine angewiesene Stellung handelt, so wird mit gleicher Bestimmtheit und Klarheit gesagt, dass „Gott die Glieder gesetzt hat;“ und wenn es sich endlich um einen lokalen Auftrag, um die Frage eines Ältesten oder eines Diakons handelt, so ließen sich die Apostel oder deren Bevollmächtigte nur durch eine göttliche Bestimmung leiten.
Dieses alles liegt so klar, so deutlich, so bestimmt auf der Oberfläche der Heiligen Schrift, dass man nur zu fragen braucht: „Wie liest du?“ Und je mehr wir, geleitet durch den Heiligen Geist, hineinschauen, je mehr wir in die herrlichen Tiefen der Inspiration eindringen, desto mehr überzeugen wir uns, dass der Dienst in jeder Verzweigung göttlich ist – göttlich in seiner Quelle, in seiner Natur, in seinen Grundsätzen. Diese Wahrheit strahlt in voller Klarheit durch alle Briefe hindurch: aber den Keim finden wir schon in den Worten unseres Herrn in Matthäus 24,45 wenn Er sagt: „Den sein Herr gesetzt hat über sein Gesinde.“ Das Gesinde gehört dem Herrn: Er allein kann Diener einsetzen, und Er tut es nach seinem eigenen, unumschränkten Willen.
Ebenso klar ist auch der in diesem Gleichnis angedeutete und in den Briefen sorgfältig entwickelte Zweck dieses Dienstes. „Um ihnen die Speise zu geben zur rechten Zeit.“ „Für die Auferbauung des Leibes Christi.“ Wie sehr wünscht das liebende Herz Jesu die Auferbauung seiner Versammlung! Er wünscht, dass seine Glieder wachsen, dass seine Versammlung erbaut, sein Leib genährt und gepflegt werde. Aus diesem Grund reicht Er Gaben dar, unterhält sie in der Versammlung und wird sie unterhalten, bis die Versammlung derselben nicht mehr bedarf.
Aber ach! Es gibt eine dunkle Seite des Bildes – eine Seite, auf deren Anblick wir vorbereitet sein müssen, solange wir das Bild der Christenheit vor uns haben. Es ist nicht nur von einem „getreuen und klugen Knechte“ die Rede, sondern auch von einem „bösen Knecht“, welcher „in seinem Herzen sagt: Mein Herr verzieht zu kommen.“ Man merke es sich: in seinem Herzen entspringt dieser Gedanke an das Verziehen seines Herrn. Er hört auf, Ihn zu erwarten: er stellt seine Ankunft in weite Ferne. Und was ist die Folge? „Er fängt an, seine Mitknechte zu schlagen und isst und trinkt mit den Trunkenen.“ Welch traurige Beispiels die Geschichte des Christentums in dieser Beziehung aufzuweisen hat, braucht nicht erwähnt zu werden. Anstatt des wahren Dienstes, der in dem auferstandenen und verherrlichten Haupt seine Quelle hat, anstatt der Auferbauung des Leibes, der Segnung der Seelen und der Speisung des Gesindes, sehen wir eine falsche klerikale Autorität, eine eigenmächtige Ordnung, ein Herrschen über die Erbgüter Gottes, ein Haschen nach dem Wohlstand und der Gewalt der Welt, eine fleischliche Gemächlichkeit, Selbstbefriedigung und persönliche Erhebung und eine priesterliche Tyrannei mit ihren namen– und zahllosen Formen und praktischen Folgen.
Der Leser wird wohltun, den Unterschied zwischen dem klerikalen System und dem wahren Dienst zu beachten. Das eine ist eine rein menschliche Anmaßung, das andere eine göttliche Anordnung. Ersteres hat seine Quelle in dem Herzen des Menschen, Letzteres in einem auferstandenen und verherrlichten Erretter, welcher, auferweckt aus den Toten, Gaben empfangen hat, um sie zu geben, welchem Er will. Alles dieses ist höchst ernst und sollte einen kräftigen Einfluss auf unsere Seelen ausüben; denn es kommt ein Tag, wo der Herr zu Gericht sitzen wird über alles, was der Mensch in seinem Haus aufzubauen gewagt hat. Wir reden hier nicht von Personen, – wiewohl es sehr ernst für einen jeden ist, die Hand an das zu legen, worüber ein so schreckliches Gericht ergehen wird – sondern wir reden von einem bestimmten System in all seinen Formen und Verzweigungen.
Vor diesem Übel warnen wir unsere Leser in der feierlichsten Weise. Keine menschliche Sprache vermag dasselbe zu schildern, sowie auch keine menschliche Sprache im Stande ist, die tiefen Segnungen jedes wahren Dienstes in der Kirche oder Versammlung Gottes angemessen darzustellen. Der Herr Jesus allein verleiht dem Menschen die Gaben zum Dienst; aber in seiner wundervollen Gnade will Er die treue und sorgfältige Ausübung dieser Gaben obendrein noch reichlich belohnen, während wir das Urteil dessen, was der Mensch aufgerichtet hat, in den ernsten Worten lesen: „Der Herr jenes Knechts wird kommen an einem Tag und in einer Stunde, die er nicht weiß und wird ihn in zwei Stücke zerteilen und ihm sein Teil setzen mit den Heuchlern: da wird sein das Heulen und das Zähneknirschen.“
Möge der gnadenreiche Herr seine Diener und sein Volk von jeder Teilnahme an diesem großen Übel, welches bis in den Schoß der Versammlung Gottes eingedrungen ist, fernhalten und sie Zugleich leiten, jenen wahren, kostbaren und göttlichen Dienst, der von Ihm ausgeht und in seiner unendlichen Liebe zum wahren Segen und Gedeihen der seinem Herzen so teuren Kirche bestimmt ist, zu verstehen, zu schätzen und auszuüben! Indes befinden wir uns, indem wir, wie es richtig ist, uns von jenem Übel fernzuhalten suchen, in großer Gefahr, durch das Geringschätzen des Dienstes in das entgegengesetzte Extrem zu fallen. Wir müssen daher auf unserer Hut sein und uns stets erinnern, dass der Dienst in der Versammlung von Gott ist. Seine Quelle ist göttlich, seine Natur himmlisch und geistlich, sein Zweck die Berufung und Auferbauung der Versammlung Gottes. Der Herr Jesus teilt die verschiedenen Gaben an die Evangelisten, Hirten und Lehrer aus. Er hat den Behälter der geistlichen Gaben in seiner Hand, hat ihn niemals preisgegeben und wird ihn niemals preisgeben. Trotz allem, was Satan in der bekennenden Kirche gewirkt hat, trotz allen Handlungen jenes „bösen Knechts“, trotz aller Anmaßung einer Autorität, die dem Menschen nicht gebührt, trotz all dieser Dinge hält unser auferstandener und verherrlichter Heiland die „sieben Sterne in seiner Hand.“ Er besitzt jede Gabe, jede Macht und Autorität für den Dienst. Nur Er kann jemanden zu einem Diener machen. Wenn Er nicht eine Gabe mitgeteilt hat, so kann kein wahrer Dienst geübt werden. Es mögen hohle Anmaßung, strafbarer Eingriff, eitle Ziererei und unnützes Geschwätz vorhanden sein; aber wenn es unserem unumschränkten Herrn nicht gefällt, Gaben zu verleihen, so findet sich auch nicht eine Spur von wahrem, göttlichen Dienst in allem. Wo aber der Herr eine Gabe verleiht, da muss dieselbe „angefacht“ und sorgfältig gepflegt werden, damit die „Fortschritte offenbar seien unter allen.“ Die Gabe muss in der Kraft des Heiligen Geistes geübt werden; denn sonst wird sie nicht dem göttlich bestimmten Zwecke entsprechen.
Da wir nun bereits das, was uns in dem Gleichnis von den Talenten vor Augen gestellt wird, berührt haben, so schließen wir diesen Abschnitt, indem wir den Leser erinnern, dass der wichtige Gegenstand, bei dem wir verweilt haben, zu der Ankunft des Herrn in unmittelbarer Beziehung steht, insofern jeder wahre Dienst im Blick auf jenes große und herrliche Ereignis ausgeübt wird; sowie dass andererseits das, was nachgebildet, falsch, verdorben und böse ist, gerichtlich behandelt werden wird, wenn der Herr Jesus in seiner Herrlichkeit erscheint. 8. Die zehn Jungfrauen
Wir nähern uns jetzt jenem Teil des Gesprächs, wo unser Herr das Reich der Himmel unter dem Gleichnis von zehn Jungfrauen darstellt. Die in diesem wichtigen und interessanten Gleichnis enthaltene Lehre ist von ausgedehnterer Anwendung als diejenige in dem Gleichnis vom „bösen Knecht“, indem hier auf die ganze Masse der bekennenden Christenheit, und nicht nur auf den Dienst in und außer dem Haus Bezug genommen wird. Das Gleichnis zielt unmittelbar und bestimmt auf ein christliches Bekenntnis, mag dieses wahr oder falsch sein.
„Alsdann wird das Reich der Himmel gleich geworden sein zehn Jungfrauen, die ihre Lampen nahmen und ausgingen, dem Bräutigam entgegen“ (Mt 25,1). Etliche sind der Meinung, dass dieses Gleichnis auf den Überrest Israels Bezug habe; allein diese Vorstellung kann weder durch den Zusammenhang, noch durch die Ausdrücke, in welche dasselbe gekleidet ist, aufrechterhalten werden.
Je gründlicher wir den ganzen Inhalt prüfen, desto klarer tritt es vor unser Auge, dass der jüdische Teil des Gesprächs mit Kapitel 24,44 ein Ende nimmt. Dieses ist völlig klar: aber auch ebenso klar ist es, dass der christliche Teil von Kapitel 24,44 bis Kapitel 25,30 seinen Lauf nimmt, und dass es sich von Kapitel 25,31 bis ans Ende um die Nationen als solche handelt. Die Ordnung und Fülle dieser wunderbaren Unterhaltung muss jedem nachdenkenden Leser in die Augen springen. Sie stellt einen jeden auf seinen eigenen bestimmten Boden, und zwar nach seinen eigenen unterscheidenden Grundsätzen. Hier findet keine Vermengung der Dinge statt, welche verschieden sind. Mit einem Wort, die Ordnung, die Fülle und das Unpassende dieser inhaltsvollen Unterredung ist göttlich und erfüllt die Seele mit Bewunderung, Lob und Anbetung, so dass wir bei der Betrachtung derselben die Worte des Apostels ausrufen möchten: „O Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und Erkenntnis Gottes! Wie unausforschlich sind seine Gerichte und unaufspürbar seine Wege!“
Bei näherer Prüfung der Ausdrücke, deren sich der Herr in dem Gleichnis von den zehn Jungfrauen bedient, finden wir nun, dass dieses Gleichnis sich weder auf die Juden, noch aus die Versammlung, sondern auf die persönliche Verantwortlichkeit während der Abwesenheit Christi bezieht. Ja, es redet zu uns und gibt sowohl dem Schreiber als auch dem Leser dieser Zeilen eine ernste Unterweisung. Wenden wir daher demselben unsere ganze Aufmerksamkeit zu.
„Alsdann wird das Reich der Himmel gleich geworden sein zehn Jungfrauen, die ihre Lampen nahmen und ausgingen, dem Bräutigam entgegen.“ Das ursprüngliche Christentum war durch die hier bezeichnete Tatsache charakterisiert, nämlich durch ein Ausgehen, um einem wiederkehrenden und erwarteten Bräutigam zu begegnen. Die ersten Christen waren geleitet worden, sich von den gegenwärtigen Dingen zu trennen und in ihrer Gesinnung und in der Liebe ihres Herzens dem Heiland, den sie liebten und erwarteten, entgegen zu gehen. Es war dieses selbstredend kein Ausgehen von einem Ort zum anderen; es war ein moralisches, geistiges Ausgehen, ein Verlangen des Herzens nach ihrem Heiland, dessen Wiederkehr sie von Tage zu Tage sehnlichst erwarteten.
Es ist unmöglich, die Briefe an die verschiedenen Versammlungen zu lesen, ohne zu bemerken, dass die Hoffnung der gewissen und baldigen Ankunft des Herrn in jenen ersten Tagen die Herzen des Volkes Gottes beherrschte. Sie „erwarteten den Sohn Gottes aus den Himmeln.“ Sie wussten, dass Er kommen werde, um sie für immer zu sich zu nehmen; und diese Kenntnis und die Kraft dieser Hoffnung machte ihre Herzen von den irdischen Dingen los. Sie schauten aus nach ihrem Erretter, sie glaubten, dass Er jeden Augenblick zurückkehren könne; und deshalb beschäftigten sie sich mit den Angelegenheiten dieses Lebens – wenn auch vollständig, wie sich es gebührte – nur insoweit es der Augenblick erheischte, aber gleichsam in der beharrlichsten Erwartung.
Alles dieses wird unseren Herzen kurz und deutlich durch die Worte angekündigt: „Sie gingen aus, dem Bräutigam entgegen.“ Dieses könnte unmöglich auf den Überrest der Juden angewandt werden, da diese nicht dem Messias entgegengehen, sondern im Gegenteil in ihrer Stellung und inmitten ihrer Umstände bleiben werden, bis Er kommt und seine Füße auf den Ölberg, stellt. Sie erwarten nicht, dass Er kommen und sie von der Erde zu sich in den Himmel nehmen werde; aber Er wird kommen, um ihnen in ihrem eigenen Land Frieden zu bringen und sie unter seiner friedensreichen und gesegneten Regierung während des tausendjährigen Reiches glücklich zu machen. – Die Christen aber sind berufen „auszugehen.“ Es wird vorausgesetzt, dass sie stets in Bewegung sind und sich nicht auf dieser Erde als Bleibende niederlassen, sondern ausgehen in ernstem, heiligem Verlangen nach der himmlischen Herrlichkeit, zu welcher sie berufen sind, dem Bräutigam entgegen, dessen Ankunft sie stündlich zu erwarten haben.
Das ist die wahre und naturgemäße Stellung des Gläubigen – eine Stellung, die in wunderbarer Weise von den ersten Christen verwirklicht und praktisch geübt wurde. Aber ach! Wir werden leider nur zu oft an die Tatsache erinnert, dass wir es sowohl mit dem Falschen, als mit dem Wahren im Christentum zu tun haben. Es gibt sowohl „Unkraut“ als „Weizen“ in dem Reich der Himmel, sowie wir auch von den zehn Jungfrauen lesen: „Fünf aber von ihnen waren klug und fünf töricht.“ In der bekennenden Kirche finden wir sowohl wahres als falsches, sowohl achtes als unechtes, sowohl wirkliches als nachgemachtes Christentum. Und so wird es fortdauern, bis der Bräutigam kommt. Das Unkraut wird sich, nicht in Weizen und die törichten Jungfrauen werden sich nicht in kluge Jungfrauen umwandeln. Nein, nimmermehr. Das Unkraut wird verbrannt, und die törichten Jungfrauen werden ausgeschlossen werden. Statt einer allmählichen Veredlung durch die Predigt des Evangeliums und durch die vielen in Tätigkeit gesetzten religiösen Mittel, finden wir in diesem Gleichnis, sowie in dem ganzen Neuen Testament, dass das Reich der Himmel eins beklagenswerte Mischung von Gutem und Bösem ist, wo der Feind in das Werk Gottes eingreift, und wo das Böse im Prinzip, im Bekenntnis und in der Praxis unaufhaltsam fortschreitet.
Und so wird es fortdauern bis ans Ende. Wenn der Bräutigam kommt, werden törichte Jungfrauen vorhanden sein. Woher könnten sie kommen, wenn sie alle vor der Ankunft des Herrn bekehrt würden? Wenn ein jeglicher durch die angewandten Mittel zur Erkenntnis der Wahrheit gebracht würde, wie könnten dann bei der Erscheinung des Bräutigams so viele törichte als kluge Jungfrauen gefunden werden? Freilich könnte man einwenden, dass man es hier nur mit einem Gleichnis, einem Bild, zu tun habe. Wir räumen dieses ein. Es ist ein Gleichnis; aber wovon? Gewiss nicht von einer bekehrten Welt. Dieses zu behaupten wäre eine Geringschätzung der Heiligen Schrift; und man würde in diesem Fall die Lehre unseres Herrn in einer Weise behandeln, wie man es kaum wagen würde, die Lehre eines Menschen zu behandeln.
Nein, geliebter Leser, das Gleichnis von den zehn Jungfrauen belehrt uns, dass, wenn der Bräutigam kommt, auch törichte Jungfrauen vorhanden sein werden: und ist dieses der Fall, so können sie unmöglich vorher bekehrt gewesen sein. Ein Kind kann dieses begreifen. Wir können nicht verstehen, wie man, angesichts dieses Gleichnisses, die Theorie aufrecht halten kann, dass vor der Ankunft des Bräutigams die ganze Welt bekehrt sei.
Wenn wir indes die törichten Jungfrauen etwas näher betrachten, so finden wir, dass ihre Geschichte für jeden christlichen Bekenner eine ernste Warnung enthält. Sie ist kurz, aber sehr verständlich. „Die töricht waren, nahmen ihre Lampen, aber nahmen kein Öl mit sich.“ Hier ist äußeres Bekenntnis, aber keine innere Wirklichkeit – kein geistliches Leben – keine Salbung – keine Verbindung mit der Quelle des ewigen Lebens – keine Vereinigung mit Christus. Dort ist nichts, als die Lampe des Bekenntnisses, der trockene Docht des nur den Namen tragenden, eingebildeten Kopfglaubens.
Das ist sehr ernst und lastet schwer auf der ungeheuren Masse getaufter Bekenner, welche uns in diesem Augenblick umringt, wo so viel äußerer Schein, aber so wenig innere Wirklichkeit vorhanden ist. Alle bekennen, Christen zu sein. Die Lampe des Bekenntnisses mag in jeder Hand gesehen werden; aber ach, wie wenige haben Öl in ihren Gefäßen, den Geist des Lebens in Christus Jesus, den Heiligen Geist in ihren Herzen! Und dennoch ist, ohne dieses, alles durchaus wertlos und eitel. Es kann das schönste und richtigste Bekenntnis Vorhandensein; man kann getauft, zum Abendmahl zugelassen und als Glied einer Gemeinschaft anerkannt worden sein, man kann in irgendeiner Weise wirksam, oder gar zum Prediger ordiniert sein; dieses alles kann der Fall sein, ohne dass man einen Funken göttlichen Lebens, einen Strahl himmlischen Lichts in sich hat, ohne dass man in Verbindung mit Christus ist.
Es ist in der Tat ein höchst trauriger Gedanke, dass man gerade genug Religion besitzen kann, um sich selbst zu betrügen, das Gewissen zu betäuben und die Seele zu Grund zu richten – genug, um den Namen zu haben, dass man lebe, während man tot ist – genug, um ohne Christus, ohne Gott, ohne Hoffnung in dieser Welt zu sein – genug, um die Seele mit falschem Vertrauen zu nähren und mit falschem Frieden zu füllen, bis der Bräutigam kommt und das Auge – leider zu spät – geöffnet wird.
Also verhält es sich mit den törichten Jungfrauen. Zwischen ihnen und den klugen Jungfrauen bemerkt man kaum eine Verschiedenheit. Sie gehen miteinander aus. Alle haben Lampen; alle – sowohl die Törichten, wie die Klugen – werden schläfrig und schlafen ein: alle stehen auf bei dem Geschrei um Mitternacht und schmücken ihre Lampen. Bis dahin zeigt sich kein augenscheinlicher Unterschied. Die törichten Jungfrauen zündeten ihre Lampen an – jene Lampen des Bekenntnisses, versehen mit dem trockenen Docht eines leblosen, eingebildeten Glaubens. Welch eine nutzlose, ja mehr als nutzlose Sache! Welch eine verhängnisvolle, seelenzerstörende Täuschung!
Dann aber zeigt sich der große Unterschied, die breite Grenzlinie, in erschreckender Klarheit. „Die Törichten aber sprachen zu den Klugen: Gebet uns von eurem Öl; denn unsere Lampen erlöschen.“ Dieses beweist, dass ihre Lampen angezündet worden waren: denn im anderen Fall hätten sie nicht erloschen können. Aber es war nur ein falsches, flackerndes, vorübergehendes Licht; es war nicht genährt von einer göttlichen Quelle. Es war das Licht eines bloßen Lippen Bekenntnisses, genährt durch einen Kopfglauben, – ein Licht, welches gerade lange genug brannte, um sich und andere betrügen zu können, und welches gerade in dem Augenblick erlosch, wo sie es mitten in der trostlosesten Finsternis so sehr bedurften.
„Unsere Lampen erlöschen.“ Schreckliche Entdeckung! „Der Bräutigam kommt und unsere Lampen erlöschen. Unser leeres Bekenntnis ist offenbar gemacht durch das Licht seiner Erscheinung. Wir glaubten auf dem rechten Wege zu sein. Wir bekannten denselben Glauben, hatten dieselben Lampen, dieselben Dochte; aber ach, zu unserem unaussprechlichen Schrecken finden wir nun, dass wir uns selbst betrogen haben, dass uns das eine fehlt, was Not tut, nämlich, der Geist des Lebens in Christus, die Salbung des Heiligen Geistes, die lebendige Verbindung mit dem Bräutigam. Was jetzt anfangen? O ihr klugen Jungfrauen, habt Mitleiden mit uns und ‚gebt uns von eurem Öl!‘ O tut es aus Barmherzigkeit! Gebt uns ein wenig, nur einen Tropfen der unentbehrlichen Sache, damit wir nicht auf ewig umkommen.“
Ach! Alles ist vergebens. Niemand kann von seinem Öl dem anderen geben. Ein jeder hat nur genug für sich selbst; und überdies kann nur Gott selbst es geben. Der Mensch kann Licht geben, aber kein Öl. Letzteres ist eine Gabe Gottes. „Die Klugen aber antworteten und sagten: Damit es nicht etwa für uns und euch nicht ausreiche; geht lieber hin zu den Verkäufern und kauft für euch selbst. Als sie aber hingingen zu kaufen, kam der Bräutigam; und die bereit waren, gingen mit Ihm ein zur Hochzeit, und die Tür ward verschlossen.“ Es ist nutzlos, bei christlichen Freunden Hilfe zu suchen, oder sich auf dieselben zu stützen. Es ist nutzlos, dass in und dorthin zu rennen, sich an diesen heiligen Mann oder an jenen vorzüglichen Lehrer zu lehnen, auf unsere Kirche, auf unser Bekenntnis, auf unsere Sakramente das Vertrauen zu setzen. Wir müssen Öl haben. Wir können ohne dasselbe nicht sein. Wo können wir es erlangen? Nicht von den Menschen, nicht von der Kirche, nicht von den Heiligen, nicht von den Vätern. Wir müssen es von Gott empfangen; und Er – gepriesen sei sein Name! – gibt es umsonst. „Die Gabe Gottes ist das ewige Leben durch Jesus Christus, unseren Herrn.“
Aber man bedenke es wohl, dass es eine persönliche Sache ist. Ein jeder muss sie für sich selbst und in sich selbst besitzen. Kein Mensch kann für einen anderen glauben, oder für einen anderen das ewige Leben empfangen. Ein jeder hat für sich selbst mit Gott zu tun. Das Band, welches die Seele mit Christus verbindet, ist rein persönlich. Es gibt keinen geborgten Glauben. Ein Mensch kann uns in religiösen Dingen unterweisen und uns gewisse Stellen der Schrift erklären; aber er kann uns weder Öl, noch Glauben, noch das Leben geben. Dieses alles ist die Gabe Gottes. Wie kostbar ist diese „Gabe!“ Sie ist wie Gott. Sie ist frei wie die Luft, die wir einatmen, frei wie das Licht der Sonne, frei wie die erfrischenden Tautropfen. Aber, wir wiederholen es mit allem Nachdruck, ein jeder muss sie für sich und in sich selbst haben. „Den Bruder vermag niemand irgendwie zu erlösen, noch Gott sein Lösegeld zu geben, (denn köstlich ist die Erlösung ihrer Seele, und er steht ab auf ewig) dass er noch lebe immerdar und das Verderben nicht sehe“ (Ps 49,7–9).
Was sagst du zu diesen ernsten Wirklichkeiten, geliebter Leser? Gehörst du in die Reihe der törichten oder der klugen Jungfrauen! Hast du das Leben eines auferstandenen und verherrlichten Erlösers empfangen? Oder bist du nur ein Religionsbekenner und zufrieden mit deinem gewohnheitsgemäßen, toten Kirchengehen? Bist du jemand, der gerade genug Religion besitzt, um mit Ehren durch die Welt zu gehen, aber nicht genug, um in den Himmel eintreten zu können? – Wir bitten dich sehr, mit Ernst über diese Dinge nachzudenken. Wie unaussprechlich schrecklich würde es sein, wenn du einmal finden möchtest, dass die Lampe deines Bekenntnisses erlöschte und du zurückbliebst in der schauerlichen Finsternis einer ewigen Nacht. Wie entsetzlich, wenn dann die Tür sich vor deinen Augen hinter dem glänzenden Zug derer schlösse, die mit dem Bräutigam zur Hochzeit eingehen! Wie schmerzlich der Ruf: „Herr, Herr, tue uns auf!“ Und wie vernichtend die Antwort: „Wahrlich, ich sage euch, ich kenne euch nicht!“
O geliebter Freund! Erwäge diese ernsten Dinge in deinem Herzen, solange die Tür noch offensteht und der Tag der Gnade durch die Langmut Gottes verlängert ist! Der Augenblick, wo die Gnadentür auf immer geschlossen, wo alle Hoffnung verloren sein und die Seele in düstere und ewige Verzweiflung hinabgestoßen werden wird, rückt schnell heran. Möge der Geist Gottes dich doch aus deinem verhängnisvollen Schlummer aufrütteln und dir keine Ruhe gestatten, bis du sie in dem vollbrachten Werk unseres Herrn Jesus Christus und zu seinen gesegneten Füßen in Preis und Anbetung gefunden haben wirst!
Wir müssen diesen Abschnitt schließen; jedoch wollen wir noch einen flüchtigen Blick auf die klugen Jungfrauen werfen. Das, was sie von den törichten Jungfrauen in unserem Gleichnis unterscheidet, besteht darin, dass sie, als sie dem Bräutigam entgegengingen, „Öl nahmen in ihren Gefäßen mit ihren Lampen.“ Mit einem Wort, das, was die wahren Gläubigen von den bloßen Bekennern unterscheidet, ist, dass sie die Gnade des Geistes Gottes in ihrem Herzen haben; sie haben den Geist des Lebens in Christus in sich. Der Heilige Geist wohnt in ihnen als das Siegel, als das Pfand, als die Salbung und als der Zeuge in ihrem Herzen. Diese große und herrliche Tatsache charakterisiert alle wahren Gläubigen; es ist eine mächtige und wundervolle Tatsache, ein unermessliches, unaussprechliches Vorrecht, welches unsere Seelen stets zu heiliger Anbetung vor Gott und vor unseren Herrn Jesus Christus bringen sollte, dessen vollbrachtes Erlösungswerk uns diese große Segnung verschafft hat.
Doch wie beschämend ist der Gedanke, dass wir trotz dieser hohen und heiligen Vorrechte in unserem Gleichnis die Worte lesen müssen: „Als aber der Bräutigam verzog, wurden sie alle schläfrig und schliefen ein.“ Ja alle, die klugen wie die törichten Jungfrauen, sind eingeschlafen. Der Bräutigam verzog, und alle, ohne Ausnahme, verloren die Frische, den Eifer und die Kraft der Hoffnung seiner Ankunft und schliefen ein.
Das ist die Sachlage unseres Gleichnisses, und das ist die ernste Tatsache der Geschichte. Die ganze bekennende Körperschaft ist in Schlaf gefallen. Die „glückselige Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit unseres großen Gottes und Heilands Jesu Christi“, jene Hoffnung, die in den ersten Tagen der Christen so hell am Horizonts leuchtete, verlor bald ihren Schein und schwand gänzlich: und wenn wir die Geschichte der Kirche während 1800 Jahren einer näheren Prüfung unterziehen und ihren Lauf von den Zeiten der Apostel bis zu den späteren Tagen verfolgen, so finden wir bald nicht mehr die geringste Spur eines Verständnisses der besonderen Hoffnung der Kirche oder Versammlung, der persönlichen Wiederkehr des gesegneten Bräutigams. In der Tat ist diese Hoffnung, wenigstens der Kraft nach, der Kirche verloren gegangen, so dass es sogar als Ketzerei betrachtet wurde, sie zu lehren. Und selbst jetzt in diesen letzten Tagen gibt es eine Menge von Predigern und Dienern, die es nicht wagen, die Ankunft des Herrn zu predigen und zu lehren, wie die Schrift davon redet.
Es ist wahr, und der Herr sei dafür gepriesen, wir bemerken seit etwa fünfzig Jahren einen mächtigen Wechsel in dieser Beziehung. Ein geistliches Erwachen hat stattgefunden. Gott hat begonnen, sein Volk durch seinen Heiligen Geist wieder zu längst vergessenen Wahrheiten zurückzuführen, wie namentlich auch zu der herrlichen Wahrheit der Ankunft des Bräutigams. Viele erkennen schon, dass die Ursache, die das Zögern des Bräutigams bewirkt hat, in der Langmut Gottes gegen uns zu suchen ist, da Er nicht will, dass jemand verloren gehe, sondern dass alle zur Buße kommen. Welch eine kostbare Ursache!
Nichtsdestoweniger aber erkennen wir, dass ungeachtet der Langmut Gottes, unser Herr nahe ist. Der Herr Jesus kommt bald. Das Geschrei um Mitternacht ist erschollen: „Siehe, der Bräutigam! Geht aus, Ihm entgegen!“ O möchten doch alle die Seinen dieses Geschrei wie ein Echo wiederholen, bis dasselbe in seiner moralischen Kraft von einem Ende der Erde bis zum anderen erschollen und die ganze Versammlung aufgewacht ist, um auf die herrliche und glückselige Erscheinung des Bräutigams zu warten.
Geliebte Brüder im Herrn! Wacht auf! Wacht auf! Jede Seele erhebe sich vom Schlaf! Lasst uns die Trägheit und den Schlummer weltlicher Bequemlichkeit und Selbstgenügsamkeit abschütteln! Reißen wir uns los von dem verderbenbringenden Einfluss einer religiösen Form und trägen Gewohnheit: werfen wir von uns die Lehren einer falschen Theologie und gehen wir im Geist unseres Gemüts und in den Neigungen unseres Herzens aus, um dem Bräutigam zu begegnen! O möchten doch seine eigenen feierlichen Worte mit frischer Kraft in unsere Seele dringen: „Wacht also; denn ihr wisst nicht, zu welcher Stunde euer Herr kommt!“ O möchte es doch die Sprache unserer Lippen und unserer Herzen sein: „Amen, komm Herr Jesu!“ Amen, Amen! Jesu eile,
Still‘ das Sehnen deiner Braut;
Mächtiglich die Wolken teile,
Dass dich unser Auge schaut.
Steige auf am Horizonte,
Morgenstern durchbrich die Nacht!
O dass deine Braut schon thronte
Dort mit dir in Himmelspracht! (Schluss folgt)