Botschafter des Heils in Christo 1876
Die Sachwalterschaft Christi
In unserer Betrachtung über das Hohepriestertum Christi haben wir so deutlich als möglich dessen Charakter und den Zweck bezeichnet, und wir haben gesehen, dass dasselbe ausschließlich in Beziehung zu solchen steht, welche durch das Werk Christi in die Gegenwart Gottes gebracht sind. Nicht für die Welt ist Christus ein Hohepriester, sondern für die, welche geheiligt sind und welche Brüder zu nennen Er sich nicht schämt. Es ist nicht die Absicht Gottes, uns durch dieses Hohepriestertum in eine neue Stellung zu versetzen, sondern uns vielmehr in der Stellung, die wir eingenommen, aufrecht zu erhalten und uns, die wir durch das Blut Jesu bereits nahegebracht sind, zu unterstützen und zu helfen. Daraus entspringen zweifache Folgen. Christus hat als Hohepriester sein Blut ins Heiligtum vor Gott gebracht, um für die Sünden des Volkes Versöhnung zu tun; und dann hat Er sich gesetzt zur Rechten Gottes. Sein Blut ist bereits vor dem Angesicht Gottes. Er sitzt als Hohepriester zur Rechten Gottes. Es bedarf keiner Versöhnung mehr: sie ist geschehen: und Er, der sie vollbracht hat, sitzt zur Rechten Gottes. So sind wir also zu Gott, in die Gegenwart Gottes, in das Heiligtum, gebracht; und diesen Platz kann ein Christ nimmer verlieren. Er kann fehlen und – wie betrübend dieses auch für Gott ist – er kann sündigen: aber der Zugang zu Gott bleibt geöffnet: unsere Freimütigkeit zum Eintritt ins Heiligtum kann nicht beseitigt werden; wir sind nahegebracht, und zwar für immer. Durch nichts kann uns dieser Platz streitig gemacht werden. Gott kann das Opfer seines Sohnes nicht geringschätzen: und das Blut dieses Sohnes, durch Ihn selbst dargebracht, ist für immer vor seinem Angesicht.
Dennoch ist es möglich, dass jemand, der den Herrn bekannt hat, sich wieder von Ihm abwendet. Der Brief an die Hebräer zeigt uns dieses; und wir weisen darauf hin, damit niemand darin einen Beweis suche, das soeben Gesagte zu bestreiten. Der Apostel richtet eine höchst ernste Warnung an die Hebräer, die das Judentum verlassen und das Christentum angenommen hatten; und sicher bedürfen die Christen aus den Heiden derselben Warnung. Jedoch beachte man wohl, dass der Apostel nicht spricht von einem Fallen in die Sünde, sondern von einem Abwenden von Christus, von einem Abfall vom Christentum. Er spricht von jemand, der den Sohn Gottes mit Füßen tritt, sein Blut für gemein achtet und den Geist der Gnade schmäht (Heb 10,29). Er hat solche im Auge, die, durch die Neuheit und Schönheit des Christentums angezogen, sich angeschlossen und die Segnungen der Gläubigen genossen hatten, ohne wirklich wiedergeboren und Kinder Gottes zu sein (Heb 6). In jenen Tagen, wo die Frische des Christentums, gegenüber dem veralteten, dürren Lehrsystem der Rabbiner und der eitlen Philosophie der Griechen, einen grellen Gegensatz bildete, war es kein Wunder, wenn sich etliche Personen zu dem Christentum hingezogen fühlten und nach christlichen Grundsätzen zu handeln und zu leben trachteten. Doch solche natürlichen Zuneigungen halten keinen Stand. Früher oder später wird der wahre Zustand der Herzen offenbar. Jedoch bevor solche Erscheinungen unter den Hebräern an den Tag treten konnten, wurden sie durch den Heiligen Geist gewarnt und auf die schrecklichen Folgen ihres Abfalls aufmerksam gemacht (Heb 10). Wenn man indes durch die Gnade Gottes der neuen Natur teilhaftig geworden ist und als verlorener Sünder in Jesu eine ewige Erlösung gefunden hat, dann kann nicht mehr von einem Abfall die Rede sein, dann vermag uns nichts zu scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus, unserem Herrn, ist. Nur für solche ist das Hohepriestertum Christi. Durch sein Blut nahegebracht, unterstützt und hilft Er ihnen in allen Schwierigkeiten, in all ihren Schwachheiten und Versuchungen.
Und dieses ist der zweite Punkt. Christus, der Hohepriester, hat Mitleiden mit unseren Schwachheiten und hilft uns, wenn wir versucht werden. In einer Welt voller Sünde und Ungerechtigkeit, wo Satan noch als Fürst regiert, müssen wir leiden, weil wir Ihm nachzufolgen begehren, und in diesem Fall bedürfen wir seiner Hilfe und seines Mitgefühls. Doch wollen wir hierbei nicht länger verweilen, weil dieser Punkt bereits anderswo ausführlich behandelt ist. Beschäftigen wir uns vielmehr mit dem uns vorliegenden Gegenstand, nämlich mit der Fürsprache oder Sachwalterschaft Christi.
Wir wissen alle, dass wir, obwohl Kinder Gottes und Geheiligte in Christus, dennoch leider sündigen. „Wir alle straucheln oft“ (Jak 3,2). Das ist Sünde. Wir dürfen es nicht Schwachheit nennen. Man bediene sich des Wörtchens „straucheln“ nicht, um dadurch ein Mittelding zwischen Sünde und Schwachheit zu bezeichnen. Nein, lasst uns die Dinge bei ihren rechten Namen nennen, und schwächen wir das Wort Gottes nicht durch allerlei Trugschlüsse. Lasst uns wahr und aufrichtig vor Gott und Menschen sein, und hindern wir vor allem nicht die Rechte Gottes gegenüber unserer bösen Natur, die in dem Tod Christi gerichtet ist.
Nun, geliebte Brüder, worin offenbart sich die Vorsorge Gottes, wenn wir gesündigt haben? Nicht in dem Hohepriestertum, sondern in der Sachwalterschaft Christi. Als Hohepriester kommt Er, wie wir gesehen, uns zu Hilfe, wenn wir leiden in Folge der Versuchungen, welche uns die Sünde, die Welt und der Teufel bereiten; und in diesem Leiden hat Er Mitleiden mit uns. Aber als Fürsprecher oder Sachwalter beginnt in Betreff unserer seine Tätigkeit, wenn wir gesündigt haben. Es ist von höchster Wichtigkeit, dass wir diese beiden Offenbarungen der Gnade und Liebe Gottes nicht mit einander vermengen. Geschieht dieses, so verliert man von beiden Teilen die wahre Kraft und den wahren Trost; ja, man büßt alles ein, was Gott uns in dieser zweifachen Weise aus Gnaden schenken will. So verhält es sich mit allen Wahrheiten. Das Hohepriestertum Christi steht in Beziehung zu unseren Schwachheiten: Seine Sachwalterschaft hat es mit unseren Sünden zu tun.
Wir dürfen es nie aus den Augen verlieren, dass Christus der Sachwalter der Gläubigen und nicht der Welt ist. Wie Er nicht ein Hohepriester für die Welt ist, so ist Er auch nicht ein Sachwalter für dieselbe. In beiden Verhältnissen hat Er es nur mit den Gläubigen zu tun. Und dieses ist von großer Wichtigkeit. Hierdurch tritt es klar ins Licht, dass seine Fürsprache nicht die Versöhnung unserer Sünden in sich schließt: denn wenn diese nicht schon vollbracht wäre, so könnten wir keine Gläubige, keine Kinder Gottes, keine Heilige sein. Seine Sachwalterschaft hat vielmehr den Zweck, für uns, wenn wir als Gläubige, als Kinder Gottes gesündigt haben, zu dem Vater zu reden, um unsere Beziehungen zu Ihm aufrecht zu erhalten, und um die praktische Gemeinschaft, die durch unsere Sünde unterbrochen ist, wiederherzustellen.
Dieser Gegenstand wird in den Schriften des Apostels Johannes behandelt. Wie Paulus uns Christus als den Hohepriester darstellt, wenn er zu einem Volk spricht, welches kraft des Blutes Jesu gereinigt, geheiligt und vollkommen gemacht ist, so stellt Johannes, der unsere Gemeinschaft mit dem Vater und seinem Sohn Jesus Christus bezeugt, unseren Herrn als den Sachwalter vor unsere Augen. In dem ersten Kapitel seines ersten Briefes lehrt er uns, in welchem Verhältnis wir zu Gott stehen. Wir sind nicht nur in die Gegenwart Gottes gebracht, sondern wir haben auch Gemeinschaft mit dem Vater und seinem Sohn Jesus Christus. Wir haben ein neues Leben; wir sind der göttlichen Natur teilhaftig geworden; und die Folge davon ist, dass wir uns der Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn erfreuen können. Wenn wir aber von dieser Gemeinschaft reden, so ist es klar, dass wir es mit einem innigen, zärtlichen Verhältnis zu tun haben. Es bedarf nur eines flüchtigen Nachdenkens, um überzeugt zu sein, dass wir, wenn wir sündigen, keine Gemeinschaft mit dem Vater haben können. Der Vater kann keine Gemeinschaft mit der Sünde haben.
Ohne Zweifel bezeugt uns die Schrift und die eigene Erfahrung, dass Gott den gottlosen Sünder durch das Blut Jesu reinigen und in seine Gegenwart bringen kann. Durch die Gnade sind wir berufen und durch ein Opfer für immerdar vollkommen gemacht. Ja, wir sind Kinder Gottes geworden: wir besitzen die göttliche Natur; wir stehen in einer Beziehung zu Gott, die nicht inniger sein könnte. Dieses alles bleibt ewig wahr und bleibt ewig unverändert. Wenn aber von einer Gemeinschaft im praktischen Sinne die Rede ist, so verhält sich die Sache ganz anders. Diese kann unterbrochen werden und wird unterbrochen, sobald wir sündigen. Es ist von höchster Bedeutung, dass wir diesen Unterschied im Auge behalten, weil sonst unsere Sicherheit vor Gott und sowohl das Vertrauen unserer Seele, als auch unser Genuss der Nähe Gottes in Frage gestellt werden. Viele bezweifeln ihre Errettung und ihren Anteil an Christus, weil sie nach ihrer Bekehrung Sünden bei sich entdecken. Andere suchen ihr Genüssen durch den Gedanken zu beruhigen, dass man, solange man in diesem Leib und in dieser Welt sei, nicht wandeln könne, ohne zu sündigen. Noch andere nehmen die Sünde leicht und machen sich keine Unruhe darüber, weil sie sich der Vergebung und Reinigung durch das Blut Christi rühmen. Aber alle befinden sich im Irrtum; die Schrift belehrt uns ganz anders über diesen Punkt. In ihr ist keine Spur von Ungewissheit für den Gläubigen bezüglich seines Anteils an Christus zu finden. Alles ist fest, sicher und unveränderlich. – Doch es Zeigt sich darin auch keine Spur von Leichtfertigkeit in Betreff der Sünde. Im Gegenteil, wir sind von der Sünde erlöst; wir sind gereinigt und geheiligt: wir sind zu Gott gebracht; wir befinden uns in seiner Gemeinschaft. Sollten wir nun nicht mit ganzer Seele einen Abscheu vor der Sünde fühlen? Sollten wir sie nicht meiden und hassen? O gewiss; kein geistlich gesinnter Christ wird anders denken. Die unaussprechliche Gnade Gottes besteht gerade in unserer Befreiung von der Sünde. Und wie könnte man diese Gnade wertschätzen und Zugleich bezüglich der Sünde gleichgültig sein! Nein, je mehr wir uns der Gnade Gottes erfreuen, und je sicherer wir sind in Betreff unseres Anteils an Christus und unserer geistlichen Vorrechte, desto größer wird unser Abscheu vor der Sünde sein. Darum schickt der Apostel Johannes, wenn er, im Fall wir gesündigt haben, über die Sühnung Gottes reden will, die Worte voraus: „Meine Kinder, ich schreibe euch dieses, damit ihr nicht sündigt.“
Ein Christ braucht nicht zu sündigen. O nein. Er kann, wenn er ein zartes Gewissen hat, wenn er sich selbst misstraut und in Abhängigkeit vor Gott wandelt, durch die Gnade Gottes und durch die Kraft des Heiligen Geistes die Sünde hassen und vor ihr fliehen und in Gerechtigkeit und Heiligkeit leben. Nie kann er sich entschuldigen, wenn er in die Sünde eingewilligt hat. Er ist mit Christus der Sünde gestorben und der Macht der Sünde entrückt. Darum ist jede Sünde eine Folge des Mangels an Wachsamkeit. Dieses ist so völlig wahr, dass der Apostel, wenn er sich mit den Sünden der Gläubigen beschäftigt, sich veranlasst sieht, in einer ganz besonderen und bemerkenswerten Weise darüber zu sprechen. Zunächst sagt er: „Ich schreibe euch dieses, damit ihr nicht sündigt.“ Die Gläubigen werden ermahnt, auf Grund alles dessen, was im ersten Kapitel gesagt ist, nicht zu sündigen. Ihr tagtäglicher Wandel soll zu ihrem früheren Betragen in völligstem Gegensatz stehen. Aber kann man denn nicht mehr sündigen? Zeigt sich denn überhaupt bei einem Christen keine Sünde mehr? Ach, leider! Wenn wir aber gesündigt haben, was dann? Gibt es keine Hilfe, keine göttliche Sühnung? O ja, Gott sei dafür gepriesen! Wir hören die Worte: „Wenn jemand gesündigt hat, so haben wir einen Sachwalter bei dem Vater, Jesus Christus, den Gerechten.“ Aber beachten wir die Weisheit und Genauigkeit des hier gebrauchten Ausdrucks. Der Apostel sagt nicht: „Wenn wir gesündigt haben.“ O nein; das konnte er nicht sagen. Es war ihm unmöglich, in Betreff der ganzen Familie Gottes die Worte zu gebrauchen: „Wenn wir gesündigt haben.“ Das hätte ebenso viel geheißen, als ob alle notwendig sündigen mühten. Dergleichen aber setzt der Geist Gottes nimmer voraus. Im Gegenteil sagt er: „Ich schreibe euch dieses, damit ihr nicht sündigt.“ Es heißt daher: „Wenn jemand gesündigt hat.“ Wenn es jemand gibt, welcher gesündigt, wenn solch eine traurige Sache in dem Wandel eines Gläubigen, obwohl er eines neuen Lebens teilhaftig und in die Gemeinschaft Gottes gebracht ist, sich kundgegeben hat, was dann? „Wenn jemand gesündigt hat, so haben wir einen Sachwalter bei dem Vater.“ Beachten wir aber auch die Ausdrucksweise: „Wenn jemand gesündigt hat, so haben wir usw.“ Nach den Regeln der Sprache müsste es entweder heißen: „Wenn jemand gesündigt hat, so hat er usw.“ oder: „Wenn wir gesündigt haben, so haben wir einen Sachwalter.“ Allein der Heilige Geist kümmert sich um keine Sprachregeln, sondern sagt mit göttlicher Genauigkeit: „Wenn jemand gesündigt hat;“ weil es sich um eine persönliche Sache handelt, die nimmer vorkommen sollte. Und Er sagt nicht: „Er hat“, sondern: „Wir haben einen Sachwalter bei dem Vater“, weil Christus der Sachwalter eines jeden Christen, und nicht bloß des einen oder des anderen ist. Wenn Er gesagt hätte: „Er hat“, so würde dieses zu der falschen Meinung Anleitung gegeben haben, als ob unsere Sünde die Tätigkeit des Herrn hervorruft und seine Sachwalterschaft erst dann beginne, nachdem wir gesündigt haben. Dieses aber ist keineswegs der Fall. Christus ist nicht nur stets als ein Hohepriester bei Gott, sondern auch als ein Sachwalter bei dem Vater. Er ist als solcher das Teil aller, auf dass Er jeden Augenblick dem Bedürfnis entsprechen kann, welches durch das Sündigen eines Gläubigen entsteht. Und dieses wird mit göttlicher Genauigkeit durch die Worte ausgedrückt: „Wenn jemand gesündigt hat, so haben wir einen Sachwalter bei dem Vater.“
Untersuchen wir nun, worin die Sachwalterschaft Christi besteht. Zunächst müssen wir unsere Aufmerksamkeit darauf richten, dass der Apostel nicht sagt: „Wir haben einen Sachwalter bei Gott“, sondern: „beidem Vater.“ Dieses zeigt uns, wovon hier die Rede ist. Hier handelt es sich nicht um Rechtfertigung, sondern um die Wiederherstellung der Gemeinschaft, die durch unsere Sünde unterbrochen ist. Durch das Opfer Christi sind alle unsere Sünden vor dem Angesicht Gottes hinweggetan worden. Das Blut ist im Heiligtum; und der Hohepriester sitzt zur Rechten Gottes. Durch das Blut sind wir nahegebracht und befinden uns in der Gegenwart Gottes. Das ist unveränderlich. Wir sind für immerdar vollkommen gemacht. Wir sind nun Kinder, und Gott ist unser Vater. Auch dieses ist unveränderlich. Niemand und nichts kann uns von seiner Liebe scheiden. Jedoch wiewohl die Sünde des Gläubigen in seinem Wandel hienieden ihn nicht aus der Nähe Gottes vertreibt und nicht das zwischen Gott und ihm geknüpfte Band zerreißt, so unterbricht sie doch den Genuss der Gemeinschaft mit dem Vater und seinem Sohn Jesus Christus. Der Vater ist ein heiliger Vater; Er kann keine Gemeinschaft mit der Sünde haben und sein Kind, welches gesündigt hat, nicht die Freude seiner Gemeinschaft genießen. Wie wird nun die durch die Sünde gestörte Gemeinschaft mit dem Vater wiederhergestellt werden? Durch die Sachwalterschaft Christi.
Und wie ist diese Sachwalterschaft bei dem Vater? Zweierlei wird von Ihm gesagt. Er ist der „Gerechte.“ Des Vaters Auge kann daher mit Wohlgefallen auf Ihm ruhen. Er hat Gott in allem vollkommen verherrlicht. Es war seine Speise, den Willen des Vaters zu tun; sein ganzes Leben auf der Erde war von Anfang bis zu Ende ein lieblicher Wohlgeruch für Gott. Wenn Er daher für die Seinen, für seine Brüder, wenn sie gesündigt haben, zu dem Vater spricht und sie vertritt, so kann der Vater sein Angesicht annehmen. Die Meinung etlicher, als ob die guten Werke Jesu statt unserer bösen Werke gerechnet und angenommen würden, ist folglich ganz und gar falsch. Sicher ist Jesus unser Stellvertreter; aber Er war dieses im Gericht auf dem Kreuz. Als Sünder finde ich in Jesu meinen Stellvertreter, der für meine Sünden litt und starb, der an meiner statt den Zorn Gottes trug. Aber davon ist hier keine Rede. Hier handelt es sich um den Wandel des Gläubigen; und in diesem Fall ist Jesus nicht mein Stellvertreter, sondern mein Sachwalter. Die verwerfliche Meinung, als ob Er für meine Sünden als Gläubiger durch seinen guten Wandel mein Stellvertreter sei, vernichtet die Zartheit des Gewissens ganz und gar. Dann würde es ganz gleichgültig sein, wie ich lebe und wandle. Nein; Jesus ist wohl der Gerechte und als solcher mein Sachwalter bei dem Vater; aber seine persönliche Gerechtigkeit wird mir, wie herrlich sie vor Gott und wie nötig sie zu meiner Hilfe auch ist, an und für sich nichts nützen können. Er muss für mich sprechen bei dem Vater, damit die gestörte Gemeinschaft wiederhergestellt werde; und der Vater nimmt sein Angesicht an, weil Er in Ihm all seine Wonne hat.
Doch Jesus ist nicht nur der Gerechte; Er ist auch die „Sühnung für unsere Sünden.“ Darum können auch die Worte folgen: „Nicht allein für die unseren, sondern für die ganze Welt.“ Das Blut ist vor dem Thron; und aus diesem Grund kann das Evangelium nicht allein den Juden, sondern der ganzen Welt verkündigt werden; allen kann zugerufen werden, an dem Heil in Christus Teil zu nehmen. Von den Gläubigen aber kann gesagt werden, dass Christus eine Sühnung für ihre Sünden ist, so dass dieselben hinweggetan sind. Auf dieser Grundlage kann Christus unser Sachwalter sein. Er ist nicht nur der „Gerechte“, so dass Gott sein Angesicht annehmen kann, sondern Er ist überdies auch die Sühnung für unsere Sünden, so dass Er den Vater auf diese Sühnung, auf das Blut, hinweisen kann und es auf diese Weise möglich macht, die unterbrochene Gemeinschaft wiederherzustellen.
Welch eine Gnade strahlt uns also hier entgegen! Ich habe gesündigt, und was die Sache noch verschlimmert, ich habe gegen seine Gnade gesündigt, weil ich nicht wachsam und demütig im Gebet gewandelt habe. Ich habe Gott, meinen liebreichen Vater entehrt. Und was sagt die Schrift? Sagt sie etwa: „Wenn jemand gesündigt hat, so hat er seine Segnungen eingebüßt“ – oder: „so muss er aufs Neue zum Heiland gehen, um das ewige Leben zu empfangen?“ Nichts von diesem allen. Die Schrift sagt: „Wenn jemand gesündigt hat, so haben wir einen Sachwalter bei dem Vater.“ Wie unaussprechlich herrlich! Wir haben bei dem Vater jemanden, der all unsere Angelegenheiten behandelt, der da, wo wir nichts ausrichten können, für uns tätig ist, und der über jeden Fall mit dem Vater redet. Und dieses ist unseres Vertrauens völlig würdig. Er hat uns so unaussprechlich geliebt, dass Er sein Leben für uns dahingab. Keinen besseren Sachwalter könnten wir haben. Siehe, mein Bruder! Du bist über eine von dir begangene Sünde in großer Traurigkeit, und du verurteilst dich umso tiefer, je mehr du die Liebe dessen kennst, gegen welchen du gesündigt hast. Welch einen Trost hat die Gnade bereitet! Die Schrift spricht von einem, auf den du völlig vertraust, dem du dein ganzes Herz übergeben hast, der deine ganze Geschichte, den Zustand deiner Seele, die Gesinnung deines Herzens kennt – und der wird dir aushelfen, zwar zu deiner Demütigung, aber zur Ehre Gottes. Er spricht mit dem Vater über dich, über deine Sünde, über deinen Fall, damit die unterbrochene Gemeinschaft wiederhergestellt werde.
Und diese Gnade des Herrn Jesus ist – erwägen wir es mit Ernst – nicht eine Frucht unserer Reue, oder unseres Bekenntnisses; o nein: sie ist, wenn ich mich also ausdrücken darf, die Frucht seines liebenden Herzens. Es ist durchaus ein Irrtum, zu denken, dass die Bekehrung und die Wiederherstellung der Seele eine Antwort auf das Gebet, oder eine Folge des Bekenntnisses der Sünden und der Reue über das begangene Böse sei. Die Schrift belehrt uns ganz anders. In ihr nimmt Gott in allem den ersten Platz ein. Es ist Gott, der das gute Wort in dem Menschen anfängt, wenn dieser sich fern von Gott, ohne Gott in der Welt befindet und nicht einmal daran denkt, Ihn zu suchen; und es ist Gott, welcher den Anfang macht, wenn der Gläubige von Ihm abgewichen ist. Das ist Gnade. „Wenn jemand gesündigt hat, so haben wir einen Sachwalter bei dem Vater.“ So spricht der Heilige Geist; Er sagt nicht, wie die Menschen es wünschen: „Wir werden einen Sachwalter haben, wenn wir unsere Sünden bekennen und bereuen.“ Wiewohl Petrus nach seinem Fall bitterlich weinte, so setzten doch nicht seine Tränen die Sachwalterschaft in Tätigkeit. Vielmehr waren die Tränen seiner Reue eine Folge der Fürbitte Jesu. Bevor der Fall des Jüngers geschehen war, hatte der Herr zu Ihm gesagt: „Ich habe für dich gebetet, damit dein Glaube nicht aufhöre.“ Die Sachwalterschaft Jesu bringt den Gläubigen zur Reue, zum Bekenntnis und zur Rückkehr in die Gemeinschaft Gottes. Wir sehen von Anfang bis zu Ende, bei jedem Tritt und Schritt auf dem Weg des Lebens nichts als die Gnade Gottes. Alles findet seinen Ursprung in der Gnade. Der Ruhm des Menschen ist gänzlich und zu aller Zeit ausgeschlossen.
Dieses führt uns zu einem anderen Teil unseres Gegenstandes. Christus ist unser Sachwalter bei dem Vater; und die Folge dieser Sachwalterschaft ist das Werk der Gnade Gottes in der Seele und die Zurückführung der Seele in die Gemeinschaft Gottes. Denn nicht nur fühlt der Vater, dass sein Kind gesündigt hat, sondern auch ich richte mich selbst. Und dieses ist in der Praxis die Weise, in welcher die Fürsprache Jesu tätig ist. Er spricht für mich zu dem Vater; und Er wirkt in meiner Seele. Er schlägt die Wunde, lässt mich durch den Heiligen Geist meine Sünde fühlen und bekennen, und führt mich auf diese Weise wieder zurück in die Gemeinschaft mit dem Vater. Wie dieses geschieht, wird uns in den Evangelien durch eine sinnbildliche Handlung des Herrn Jesus, sowie in der Geschichte der Wiederherstellung des gefallenen Jüngers treffend und herrlich vor Augen gestellt.
In Johannes 13 lesen wir: „Als Jesus wusste, dass seine Stunde gekommen war, dass Er aus dieser Welt zum Vater hingehen sollte – da Er die Seinen, die in der Welt waren, geliebt hatte, liebte Er sie bis ans Ende.“ Welch ein Trost für uns! Er liebt uns bis ans Ende. Wenn Er diese Welt verlässt, so geschieht es nur, um auf eine andere Art für die Seinen tätig zu sein. Auf der einen Seite sehen wir den Teufel in all seiner List und Bosheit dem Herrn gegenüber. Er hatte in das Herz des Judas Iskariot gegeben, dass er Jesus überlieferte. Und auf der anderen Seite sehen wir den Sohn Gottes in der ganzen Fülle seiner göttlichen Liebe gegen die Seinen. Er geht nicht nur zu Gott zurück in all der Reinheit und Majestät, mit welcher Er von Ihm ausgegangen war, sondern mit der Herrlichkeit, welche der Vater Ihm jetztgegeben hatte. „Jesus, wissend, dass der Vater Ihm alles in die Hände gegeben, und dass Er von Gott ausgegangen war und zu Gott hingehe, steht von dem Abendessen auf und legte die Oberkleider ab und nahm ein leinenes Tuch und umgürtete sich.“ Er war noch immer der Diener. Der Mensch überhebt sich und will in der Welt etwas zu sein scheinen: Gott erniedrigt sich, wird ein Mensch, ja, ein Knecht, um uns von dem eigenen Ich und dem Teufel zu erlösen. So war und handelte Jesus, als Er hier auf Erden wandelte: und dieses ist auch jetzt noch seine Tätigkeit und wird es sein bis ans Ende, bis wir alle bei Ihm in seiner Herrlichkeit sein werden.
Man erinnere sich, dass Jesus in diesen Kapiteln des Johannes, vom Anfang des dreizehnten bis zum Ende des siebenzehnten Kapitels, sich im Geist in die Zeit nach seiner Auferstehung aus den Toten versetzt. Er redet zu den Jüngern, als sei das Werk der Erlösung und Versöhnung bereits vollbracht, und als stehe Er auf dem Punkt, zum Vater zurückzukehren. „Als Jesus wusste, dass seine Stunde gekommen war, dass Er aus dieser Welt zum Vater hingehen sollte.“ So beginnt das dreizehnte Kapitel; und in seinem Gebet zum Vater sagt Er: „Das Werk habe ich vollbracht, welches du mir gegeben hast, dass ich es tun sollte. ... Ich bin nicht mehr in der Welt; ... und ich komme zu dir.“ Dieses kennzeichnet den Standpunkt, auf welchen Er sich stellte, als Er diese Worte sprach; und dieses macht es uns deutlich, dass das, was Er hier sagt und tut, Bezug hat auf die Zeit seines Hingangs zum Vater. Die sinnbildliche Handlung Jesu bezüglich des Waschens der Füße der Jünger stellt uns seine Tätigkeit vor, welche Er, nachdem Er in die Herrlichkeit eingegangen, stets für die Jünger üben wird. „Was ich tue, weißt du jetzt nicht; du wirst es aber hernach verstehen.“ Wäre die Fußwaschung nichts weiter als ein Beweis der Erniedrigung und der Liebe Jesu gewesen, so hätte Er diese Worte nicht sagen können; denn das konnten seine Jünger gut verstehen. Aber es war eine sinnbildliche Handlung, deren geistliche Bedeutung von höchster Wichtigkeit für uns ist. Die Fußwaschung ist ein Bild der Reinigung der gläubigen Seele durch das Wort Gottes.
„Wenn ich dich nicht wasche“, sagte Jesus, als Petrus sich weigerte, „so hast du kein Teil mit mir.“ Er sagt nicht: „Kein Teil an mir.“ Petrus war ein Jünger Jesu; er war mit Jesu verbunden; er hatte Teil an Christus. Aber der Herr kehrte jetzt zum Himmel in die Herrlichkeit zurück; und Er will die Seinen teilnehmen lassen an dieser Herrlichkeit, und zwar schon jetzt, während sie noch auf Erden wandeln, durch Glauben, und hernach, wenn Er kommt, durch Schauen. Doch unmöglich können wir an den himmlischen Segnungen, an dem Genuss der Gemeinschaft des Vaters Teil haben, wenn wir uns verunreinigt haben; und darum muss Er stets unsere Füße waschen. „Wenn ich dich nicht wasche, so hast du kein Teil mit mir.“ Ernste Worte! Würden sie recht von uns verstanden, so würden wir nicht leichtfertig in Betreff der Sünde, aber auch nicht leichtfertig in Betreff unserer Reinigung von der Sünde sein (Schluss folgt).