Botschafter des Heils in Christo 1876

Der Zustand der Seele nach dem Tod

Der Zustand der Seele nach dem Tod ist für einen jeden von uns ein Gegenstand des tiefsten Interesses. Die bekennende Christenheit hat die große Wahrheit der Wiederkunft Christi zur Aufnahme der Heiligen und zum Gericht der Erde vor dem Ende der Welt gänzlich verworfen. Sie hat die der Auferstehung durch das Neue Testament beigelegte Wichtigkeit aus dem Auge verloren, und demzufolge hat die unbestimmte Vorstellung, dass man nach dem Tod zum Himmel gehe, einen absoluten Charakter erhalten, welcher jeden anderen Begriff von Glück und Herrlichkeit ausschließt – eine Vorstellung, die selbst in dem gesündesten evangelischen Teil des Christentums herrschend ist. Die Schrift aber redet zu ausdrücklich von der Wiederkunft des Herrn, als dass der Gedanke, durch den Tod zum Himmel zu gehen, in dem Geist eines Gläubigen die Herrschaft behaupten sollte. In der Schrift ist nie die Rede davon, ausgenommen in dem einen Fall des Räubers am Kreuz, welchem die Verheißung zu Teil wurde, mit Christus im Paradies zu sein. Nicht als ob wir nicht auch dahingehen würden; aber der schriftgemäße Gedanke ist stets, dass wir zu Christus gehen. Seit Er im Himmel ist, gehen auch wir ohne Zweifel dahin; aber die Schrift stellt nie die Tatsache vor unsere Augen, dass wir im Himmel, sondern dass wir bei Christus sein werden; und dieses ist bezüglich des Zustandes unserer geistlichen Neigungen von höchster Wichtigkeit. Der Schrift gemäß ist Christus der vor unsere Seelen gestellte Gegenstand, und nicht der Himmel, wiewohl wir sicher dorthin gelangen und glücklich sein werden. Ich erwähne dieses nur, um die Gewohnheiten unserer Gedanken zu charakterisieren. Unsere arme menschliche Natur gerät, um die Untiefen zu vermeiden, so leicht auf Klippen. Sie folgt so gern ihren eigenen Gedanken, anstatt einfach das Wort Gottes anzunehmen. Nichtsdestoweniger hat die wiedererkannte Wahrheit der Wiederkunft des Herrn und der ersten Auferstehung indem Geist vieler genug an Wichtigkeit gewonnen, um die Vorstellung, durch den Tod in den Himmel zu gehen, zu beseitigen, – eine Vorstellung, die zu unbestimmt und zu wenig schriftgemäß ist, um die befriedigen zu können, welche die Schrift erforschen. Manche sonst im Glauben gesunde Christen haben behauptet, dass die Seele schlafe und sich bis zur Auferstehung in einem bewusstlosen Zustand befinde, während andere, irregeleitet durch diesen falschen Begriff, nicht nur das unmittelbare Glück der Entschlafenen, die bei Christus sind, sondern die Hoffnung des Gläubigen selbst in Frage stellen. Ach, wie schnell vergrößert sich die Zahl jener Irregeleiteten, welche die Fundamentallehren des Evangeliums leugnen!

Ich habe hier nicht die Absicht, diesen Letzteren, welche die Unsterblichkeit der Seele leugnen, entgegen zu treten; denn dieses ist bereits durch andere in überführender Weise geschehen. Ich beabsichtige nur, einfache und schriftgemäße Beweise zu liefern, dass der Gläubige nach seinem Abscheiden sich bei Christus eines unmittelbaren Glücks zu erfreuen hat. Es ist dieses ein Zwischenzustand, in welchem sich auch Christus bezüglich seiner Stellung als Mensch befindet, obwohl Er in der Herrlichkeit ist. Auch nach seinem Abscheiden erwartet der Christ die Auferstehung des Leibes; und erst dann wird er in seinem endlichen Zustand der Herrlichkeit sein. Die Menschen reden von verherrlichten Geistern, die Schrift tut es nie. Die Absicht Gottes in Bezug auf uns ist, dass wir dem Bild seines Sohnes gleichförmig sein sollen, damit Er der Erstgeborene unter vielen Brüdern sei. „Es ist noch nicht offenbart worden, was wir sein werden – wir wissen, dass, wenn Er offenbart ist, wir Ihm gleich sein werden; denn wir werden Ihn sehen, wie Er ist.“ – „Und wie wir das Bild dessen von Staub getragen haben, so werden wir auch das Bild des Himmlischen tragen“ (Röm 8,29; 1. Joh 3,2; 1. Kor 15,49).

Dieses wurde bei Gelegenheit der Verklärung offenbart, als Moses und Elias in Herrlichkeit erschienen (Lk 9,23–36). Unser ewiger Zustand der Freude und Herrlichkeit besteht in der Tatsache, dass wir allezeit bei dem Herrn sein werden, und dass Er selbst uns ins Vaterhaus aufnehmen wird. Letzteres findet sich sogar in der Geschichte der Verklärung wieder, wo Moses und Elias in die Wolke eintraten; aus welcher die Stimme des Vaters kam. Siehe auch 1. Thessalonicher 4,17. Christus wird kommen und uns zu sich aufnehmen, nachdem wir auferweckt oder nach seinem Bild verwandelt sind; und dann wird unser armer irdischer Leib dem Leib seiner Herrlichkeit gleichförmig sein (Phil 3,21). Dieses ist unser ewiger Zustand. Hierzu hat uns Gott schon bereitet und uns das Unterpfand des Geistes gegeben (2. Kor 5,5). Bei dem Herrn und Ihm für immer gleich sein, ist unsere ewige Freude und die Frucht der Liebe Gottes, der uns zu seinen Kindern gemacht hat und uns in die für uns im Vaterhaus bereiteten Wohnungen einführen will.

Zwei Dinge sind unser Teil: Wir werden Christus gleich und bei Ihm sein, und wir werden in Ihm gesegnet sein mit aller geistlichen Segnung in den himmlischen Örtern. Diese Dinge sind durch die Erlösung unser geworden; aber wir besitzen sie noch nicht. Obwohl durch Gott dazu bereitet, so haben wir bis jetzt nur noch das Unterpfand des Geistes. Über den ersten Punkt bezüglich unserer Gleichförmigkeit mit Christus haben wir bereits gesprochen. Die bei dieser Gelegenheit angeführte Stelle: „Wir werden allezeit bei dem Herrn sein“, – führt uns mit der Autorität der Schrift in den zweiten Punkt ein, nämlich in unser Teil mit Christus in den himmlischen Örtern. Ich werde zur Begründung dieser letzteren Wahrheit einige Stellen anführen, denn wir finden darin dasjenige, was die Christen, welche mit Christus geglaubt und gelitten haben, charakterisiert. Es ist gesagt, dass Gott alles, was in den Himmeln und auf der Erde ist, in dem Christus zusammenbringen wird (Eph 1,10), dass alle Dinge durch und für Christus geschaffen sind (Kol 1,16.20) und dass alles seinen Füßen unterworfen sein wird (Heb 2; 1. Kor 15,27–28; Eph 1,22). Aber wir lesen auch in Hebräer 2, dass Ihm noch nicht alle Dinge unterworfen sind. Er sitzt jetzt auf dem Thron des Vaters, und nicht auf seinem eigenen (Off 3,21). Gott hat gesagt: „Setze dich zu meiner Rechten, bis ich lege deine Feinde zum Schemel deiner Füße.“ Er wartet, bis seine Feinde zum Schemel seiner Füße gelegt werden (Heb 10). Die Zeit wird kommen, wo nicht allein die Dinge in den Himmeln und auf der Erde versöhnt sein werden (Kol 1,20), sondern wo selbst die Dinge unter der Erde – die höllischen – seine Gegenwart und Autorität anerkennen müssen. Jedes Knie wird sich vor Ihm beugen, jede Zunge wird bekennen müssen, dass der von den Menschen verachtete und verworfene Jesus Christus Herr ist zur Ehre Gottes, des Vaters (Phil 2,10–11). Dieses alles haben wir noch zu erwarten.

In dieser Vereinigung aller Dinge in den Himmeln und auf der Erde unter Christus als dem Haupt haben wir unser Teil in den himmlischen Örtern, – jetzt im Geist und später in Herrlichkeit, welche beiden Tatsachen in Wirklichkeit nicht getrennt werden können. Wir sind selbstverständlich jetzt noch nicht in der Herrlichkeit; aber dennoch ist dieses unsere gegenwärtige Berufung – dasjenige, was wir erwarten und wozu wir erkauft und gebildet worden sind. Jetzt haben wir diesen Schatz in irdenen Gefäßen und seufzen beschwert. Wenn wir außer dem Leib sein werden, hören diese Seufzer auf, und wir werden in der Freude bei Christus sein. Bei seiner Wiederkunft werden wir einen Leib bekommen, der dieser himmlischen Stellung angepasst ist; und wir werden in der Herrlichkeit sein. Wir lesen dieses in Epheser 1,3: „Er hat uns gesegnet mit aller geistlichen Segnung in den himmlischen Örtern in Christus;“ – dann in 2. Korinther 5,1: „Wir wissen, dass, wenn unser irdisches Haus, die Hütte, zerstört wird, wir einen Bau aus Gott haben, ein Haus, nicht mit Händen gemacht, ein ewiges, in den Himmeln:“ ferner in Philipper 3,20: „Denn unser Wandel unser (Bürgerrecht oder unsere Beziehungen im christlichen Leben) ist in den Himmeln.“ Auch ist in demselben Kapitel die Rede von der „Berufung Gottes nach oben“ (V 14); denn die wahre Kraft des Ausdrucks: „Himmlische Berufung“ ist: „berufen nach oben.“ Dasselbe finden wir auch in Hebräer 6,18–20 und 9,24, wo wir lesen, dass Christus als unser Vorläufer in das Innere des Vorhangs eingegangen ist, das heißt, in den Himmel selbst. Ebenso heißt es in Hebräer 3, dass wir der himmlischen Berufung teilhaftig sind. Als solche, die durch den Heiligen Geist mit Christus eins sind, sitzen wir in Christus in den himmlischen Örtern – nicht mit Ihm, sondern in Ihm. Dieses ist unser Platz. Wenn der Herr kommt, so wird Er als Sohn des Menschen alle Ärgernisse und die das Gesetzlose tun, zusammenlesen: und alsdann werden die Gerechten leuchten in dem Reich ihres Vaters (Mt 13,41.43). Aus diesem Grund zeigten Moses und Elias, in Herrlichkeit auf der Erde offenbart, nicht nur den Zustand der Heiligen im Reich, sondern sie traten auch in die Wolke ein, wo Gott wohnt und aus welcher sich die Stimme des Vaters hören ließ.

Unser Teil besteht also augenscheinlich darin, dass, wenn Gott alle Dinge, sowohl in den Himmeln als auf der Erde, unter ein Haupt vereinigen wird, wir Christus in der Herrlichkeit gleich und allezeit bei Ihm sein werden, und zwar in dem Himmel selbst gesegnet mit aller geistlichen Segnung in den himmlischen Örtern, im Gegensatz zu den zeitlichen Segnungen Israels auf der Erde. Wenn wir seine Miterben sind, so müssen wir auch, was weit besser ist, im Vaterhaus wohnen, wohin Er gegangen ist. Deshalb wird uns klar und deutlich gesagt, dass unsere Hoffnung in den Himmeln aufbewahrt ist (Kol 1,5) und zwar ein „unverwesliches und unbeflecktes und unverwelkliches Erbteil“ (1. Pet 1,4). Dieses alles beweist uns, dass unsere Segnungen da sind, wo unsere Hoffnung hineindringt, und wo unser Vorläufer bereits eingegangen, und dass unsere Herrlichkeit himmlisch und nicht irdisch ist Wir werden das Bild des Himmlischen tragen und allezeit bei dem Herrn sein. Er ist hingegangen, um uns eine Stätte im Haus des Vaters zu bereiten, und Er wird wiederkommen, um uns zu sich zu nehmen. Er hat gesagt: „Vater, ich will, dass die du mir gegeben hast, auch bei mir seien, wo ich bin.“ Man könnte sich noch weiter über diese Segnung ausdehnen, sowie über den Platz, welcher uns gegeben ist, damit „Er erweise in den kommenden Zeitaltern den überschwänglichen Reichtum seiner Gnade in Güte gegen uns in Christus Jesus.“ Allein mein Zweck ist nur, hier die schriftgemäßen Beweise und Darstellungen unserer Segnungen zu geben. Was ich gesagt habe, beweist, dass, von unserer Bekehrung an bis zur Herrlichkeit, unsere Berufung zu aller Zeit dieselbe ist. Es gibt keine andere; es gibt nur eine Hoffnung unserer Berufung. Gott hat uns zu seinem eigenen Reich und zu seiner eigenen Herrlichkeit berufen; und wir rühmen uns in Hoffnung der Herrlichkeit Gottes. Das Haus des Vaters ist die Wohnstätte seiner Kinder.

Dieses alles hat uns indes nicht deutlich erklärt, worin der Zwischenzustand besteht, wiewohl wir als einen allgemeinen Grundsatz gesehen haben, wo sich alle unsere Segnungen befinden, und was die Erlösung uns erworben hat. Der Gott aller Gnade hat uns zu seiner ewigen Herrlichkeit durch Jesus Christus berufen, damit wir einen vollständigen Teil der eigenen Herrlichkeit Christi bilden. Welch eine wunderbare Liebe! Denn was würde ein Erlöser ohne die Erlösten sein? Von dem Augenblick an, wo ich geglaubt habe, dass der vielgeliebte Sohn Gottes für mich am Kreuz als Mensch gestorben ist, kann alles das, was ich als eine Kreatur, deren Leben Er geworden, zufolge dieses Todes empfangen habe, nicht hoch genug geschätzt werden. Der einzige Zweck der Brief der Hebräer ist, den Beweis zu liefern, dass wir ein himmlisches Teil haben, im Gegensatz zu dem Judentum, dessen Teil irdisch war und in der Wiederherstellung Israels sein wird. Sie hatten einen Hohepriester auf der Erde, weil Gott seinen Thron hienieden zwischen den Cherubim hatte; aber uns geziemte ein Hohepriester, welcher war „heilig, unschuldig, unbefleckt, abgesondert von den Sündern, und höher denn der Himmel geworden.“ Warum? Weil unser Platz und unser Teil bei Gott ist. Unser Platz und unsere Berufung sind in den himmlischen Örtern. Alles musste damit Harmonieren, die Vortrefflichkeit des Opfers und des priesterlichen Dienstes. Aber bis zu welchem Punkt zeigt uns das Wort Gottes, welches unser Zwischenzustand ist von dem Augenblick an, wo wir abscheiden von dieser Hütte, in welcher wir seufzen, bis zu dem Augenblick, wo dieser Leib der Niedrigkeit bei der Wiederkunft Christi dem Leib seiner Herrlichkeit gleichförmig gemacht werden wird?

Wenn wir diese unsere künftige Gleichförmigkeit mit Ihm (Phil 3,21), sowie die Wahrheit, dass unser Teil und unsere Berufung himmlisch sind, begriffen haben, wird alles einfach und in die Augen springend. Unser Bürgerrecht ist jetzt und für immer im Himmel. Die einzige Frage ist also: Bis zu welchem Punkt genießen wir davon, wenn wir sterben? Ist dann unser Genuss größer oder geringer, als jetzt? „Gott ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebendigen; denn für Ihn leben alle“ (Lk 20,33). Obwohl sie ganz und gar für diese Welt gestorben sind, so sind sie nichtsdestoweniger für Ihn ebenso lebend, wie je; und gerade so für den Glauben. Man behauptet, dass sie schlafen; allein diese Vorstellung ist durchaus nicht begründet. Dass Stephanus entschlief, will nicht sagen, dass seine Seele nach dem Tod entschlafen sei, sondern einfach, dass er starb. Gott wird die, welche in Jesu entschlafen sind, mit Ihm bringen (1. Thes 4,14); allein dieses sind die „Toten in Christus“ (V 16). „Etliche sind entschlafen“ (1. Kor 15,6), das heißt, sie sind gestorben; denn dieses ist dasselbe Wort, wie in 1. Thessalonicher 4: „Entschlafen in Jesu“, als Gegensatz zu dem in demselben Kapitel sich vorfindenden Ausdruck: „Wir, die Lebenden“, und zu dem Wort in 2. Korinther 5: „Einheimisch in dem Leib.“ „Entschlafen“ heißt einfach: „sterben“, und ist eine treffende Bezeichnung für die Tatsache, dass die Gestorbenen nicht zu existieren aufhören und in der Auferstehung wieder aufwachen werden, wie ein Mensch vom Schlaf aufwacht. Der Sterbefall des Lazarus liefert uns dafür einen klaren Beweis (Joh 11). Der Herr sagt: „Lazarus, unser Freund, schläft: aber ich gehe hin, dass ich ihn wieder aufwecke.“ Die Jünger meinten, Er rede von der Ruhe des Schlafes. Jesus sagt ihnen dann gerade heraus: „Lazarus ist gestorben.“ – Der „Schlaf“ bezeichnet hier also den Tod, und das „Aufwecken“ die Zurückführung aus dem Zustand des Todes durch die Auferstehung, und ist mithin nicht ein Aufwecken der Seele, als ob diese schlafe, um sie dann zu lassen, wo sie sich befindet. Entschlafen und sterben sind für den Christen gleichbedeutende Dinge; der Schlaf der Seele ist nichts als eine Erfindung.

Paulus wusste, dass Gott ihn für die Herrlichkeit bereitet hatte; und er redete davon, wie von einer Sache, die allen Christen als der gemeinschaftliche Gegenstand ihres Glaubens angehört. Er wünschte nicht, als ob er kampfesmüde sei, entkleidet zu sein, d. h. zu sterben, sondern dass das sterbliche vom Leben verschlungen würde. Die Christen haben Christus sowohl als ihr Leben, wie auch als ihre Gerechtigkeit. Deshalb haben sie selbst in Bezug auf den Tod ein stetes Vertrauen, indem sie wissen, dass sie, „seiend einheimisch in dem Leib von dem Herrn abwesend sind“ (2. Kor 5,6). Sie haben das Leben – ein ewiges Leben in Christus; aber sie tragen es hienieden in irdenen Gefäßen, abwesend von dem Herrn. Sobald sie diese armseligen Gefäße, in welchen sie seufzen und beschwert sind, verlassen, sind sie einheimisch beim Herrn. Ist dieses nun besser oder schlimmer? Und wo ist der Herr? Will dieses nun sagen, dass der Heilige Geist, der Geist des Lebens in Christus Jesus, welchen sie schon als Macht des Lebens besitzen, dann schlafend sich in einem bewusstlosen Zustand befinde? War dieses die Hoffnung des Apostels, der in diesem Leben in Christus eine solche Macht erblickte, dass er nie den Tod zum Gegenstand hatte, sondern vielmehr den Augenblick, da das Sterbliche vom Leben verschlungen werden wird? Dann wäre ja dieses Leben, nachdem es die Hütte, in welcher es seufzt, verlassen hat, zu nichts anderem fähig, als zu einem bewusstlosen Schlafe. Erinnern wir uns, dass Christus unser Leben ist; weil Er lebt, darum leben auch wir. Oder verlieren wir, wenn wir sterben, etwa unser Verhältnis mit Ihm? Konnte Er in uns schlafen?

Paulus war bedrängt und wusste nicht, was er wählen sollte (Phil 1); er hatte Lust abzuscheiden, um bei Christus zu sein, weil es weit besser war. Denn obwohl das Leben für ihn Christus war, so war doch Sterben ein Gewinn. Es war seine Freude und Glückseligkeit, gänzlich für Christus zu leben, so dass das Bleiben im Fleisch für ihn der Mühe wert war. Hätte er nun dennoch das Sterben vorziehen und es als einen Gewinn betrachten können, wenn er dadurch in einen Zustand der Bewusstlosigkeit gelangte, wo er weder an Christus, noch an seinen Dienst denken, und überhaupt weder von Ihm, noch von etwas anderem irgendein Bewusstsein haben konnte? Bestand sein Wunsch und seine besondere Freude darin, sich schlafen zu legen und nichts mehr von Christus zu hören? Ist es nicht vollkommen einleuchtend, dass, wenn er es für besser hält, bei Christus zu sein, als – wiewohl ihm dieses der Mühe wert war – hienieden zu dienen, er eigentlich nur der Freude Ausdruck gibt, bei Ihm zu sein? Wenn ich auf dem Weg zu einem Freund, bei welchem ich längere Zeit zu wohnen gedachte, viel von dem Nutzen und den Genüssen, die dort meiner harren, reden würde, wer könnte dann wohl meine Worte so missdeuten, als ob mein einziges Verlangen sei, in der Gegenwart meines Freundes in einen tiefen Schlaf zu fallen, ohne mich meines Dortseins bewusst zu sein?

Doch wir haben mehr als dieses. Der Herr tröstet den sterbenden Räuber, welcher Ihn unter allen Menschen allein in jener denkwürdigen Stunde bekannte, mit den Worten: „Heute wirst du mit mir im Paradies sein!“ War dieses: „Mit mir“ und „im Paradies sein“ nicht ein Glück, welches Er ihm damals verhieß? Und bestand etwa dieses Glück in einem tiefen Schlafe und in einem bewusstlosen Zustand? Würde eine solche Behauptung nicht höchst töricht und sogar ein kühner Widerspruch gegenüber dem Sinn der Worte Christi sein? Diese Worte finden sich in dem Evangelium des Lukas, der uns durch sein ganzes Buch hindurch das Zeugnis der göttlichen Gnade in dem Sohn des Menschen und den gegenwärtigen Zustand der Dinge klarstellt. Die beiden ersten Kapitel sind gänzlich dem armen und gottesfürchtigen Überrest gewidmet, welcher Christus erwartet, und liefern ein kostbares Gemälde jener Armen im Geist, welche Gott angehören inmitten des rebellischen und ungläubigen Israels. Dann enthüllt Lukas das Geschlechtsregister Christi, indem er bis auf Adam zurückgeht, und offenbart durch sein ganzes Evangelium hindurch die Gnade, welche in dem Sohn des Menschen erschienen ist, um den Menschen zu segnen, und welche denselben von jetzt an segnet, und zwar auf eine himmlische Weise. Dieses Evangelium beschäftigt sich nicht, wie das des Matthäus, mit den Haushaltungen, sondern es stellt die Gnade dar, und zwar eine gegenwärtige Gnade, die himmlische Gnade durch das Evangelium, den gegenwärtigen Zustand der Dinge. Es entspricht nach seinem Maß dem Zeugnis des Paulus und der Apostelgeschichte. Obgleich jedoch der arme Räuber auf eine glänzende Weise die Macht der Gnade und des Glaubens zur Schau stellte und Christus als Herrn gerade dann bekannte, als alles mit diesen Titeln in Widerspruch stand, so überstieg dennoch seine Erkenntnis nicht diejenige der Gläubigen seiner Nation. Er wusste nichts von einem himmlischen Reich, erwartete aber sicher, dass der, welcher am Kreuz hing, in seinem irdischen Reiche kommen werde; und voll glücklichen Vertrauens zu Christus bittet er Ihn, sich dann seiner zu erinnern. Die Antwort des Herrn war in Übereinstimmung mit dem ganzen Inhalt des Evangeliums und lautete: „Du hast nicht nötig, solange zu warten; ich bringe dir das Heil durch Gnade: heute, an diesem Tag, wirst du mit mir im Paradies und der geeignete Begleiter Christi in der Segnung sein.“

Das ist das Teil der entschlafenen Heiligen; sie sind bei Christus im Besitz der Segnungen, abwesend vom Leib und einheimisch beim Herrn. Ich kenne die jämmerliche Ausflucht, deren man sich beim Lesen dieser Stelle bedient, indem man sie also liest: „Wahrlich, ich sage dir heute, dass du wirst mit mir im Paradies sein.“ Dadurch wird nicht nur der Charakter dieser Stelle im Einklänge mit dem Inhalt des Evangeliums, worin sie sich befindet, geradezu zerstört, sondern es ist auch ihre ganze Ordnung umgekehrt und ihr Sinn vernichtet. Das Wörtchen „heute“ befindet sich am Anfang des Satzes, um die Erwiderung auf das Wort des Räubers: „Wenn du in deinem Reich kommst“, mit Nachdruck zu betonen. Es ist kindisch, jenes Wörtchen mit der feierlichen Versicherung: „Wahrlich, ich sage dir“, verbinden zu wollen, und zerstört die Anspielung auf die Bitte des Räubers, welcher nur erwartete, dass Christus, wenn Er in seinem Reich komme, sich seiner erinnern möge. „Nein“, sagt der Herr mit dem feierlichen „Wahrlich“, dessen Er sich gewöhnlich bedient, „du sollst nicht einmal solange warten, sondern wirst heute noch mit mir im Paradies sein.“ Was würde das Wort: „Wahrlich, ich sage dir heute“ für eine Bedeutung haben? Es würde die Feierlichkeit der Versicherung vernichten, während die Worts: „Wahrlich, ich sage dir, heute wirst du mit mir im Paradies sein“, weit über die Hoffnung des Räubers hinausgehen und uns andere als irdische Freuden offenbaren, die unserer warten, wenn wir aus dieser Welt scheiden, um bei dem Herrn zu sein.

Die Bosheit der Juden war das Werkzeug, wodurch die Verheißung des Räubers in Erfüllung ging, indem sie ihm die Beine zerbrachen, sowie dieselbe Bosheit auch das Mittel zur Erfüllung des Erlösungswerkes war, welches dem armen Räuber das Recht gab, bei Christus im Paradies zu sein. – Es war dieses auch die Erwartung des Stephanus, als der Tod seinen Lauf hienieden unterbrach. Er sah Christus und bat Ihn, seinen Geist aufzunehmen. Hat Christus ihn aufgenommen? Oder hat Er nur seinem Dienst und Zugleich seiner Freude ein Ende gemacht und ihn zum Schlaf niedergelegt?

Der Zwischenzustand ist also nicht die Herrlichkeit; denn für deren Besitz müssen wir die „Auferweckung des Leibes in Herrlichkeit“ erwarten. „Er wird unseren Leib der Niedrigkeit umgestalten zur Gleichförmigkeit des Leibes seiner Herrlichkeit.“ Aber der Zwischenzustand ist die Segnung dort, wo es weder Unreinigkeit noch Sünde gibt. Man ist bei Christus selbst, der Quelle unaussprechlicher Freude. Paulus und Stephanus sind in ihrer Hoffnung und ihrem unerschütterlichen Vertrauen nicht getäuscht worden, und die durch den Herrn dem Räuber gegebene Verheißung ist nicht unerfüllt geblieben. Ich richte an jedes vorurteilsfreie Gemüt die Frage, ob die in 2. Korinther 5, in Philipper 1 und in Apostelgeschichte 7 vorgestellte Hoffnung, sowie die an den Räuber gerichteten Worte des Herrn nur einen tiefen Schlaf, einen Zustand der Bewusstlosigkeit in Aussicht stellen. Lässt uns die Schilderung des Herrn in Betreff des Zustandes des reichen Mannes und des armen Lazarus schließen, dass sich der Gottlose und der Gerechte in Schlaf und Bewusstlosigkeit befinden? Man wird einwenden, dass dieses nur eine bildliche Darstellung sei. Ich räume dieses völlig ein; aber es kann doch unmöglich eine falsche Darstellung sein, welche uns schlafende und bewusstlose Männer vor Augen stellt.

Wenn überdies 2. Korinther 5,6–9 einen glückseligen Zustand bei Christus bezeichnet, so folgt daraus, dass derselbe eintritt, sobald man gestorben ist. Augenscheinlich bezieht sich diese Stelle auf den Tod, denn der Apostel hatte am Leben verzweifelt (2. Kor 1). „Abwesend vom Leib und einheimisch bei dem Herrn sein“, bezeichnet nicht die Auferstehung: vielmehr ist hier die Rede vom Verlassen des Leibes; man ist entkleidet. Ebenso redet der Apostel in der Stelle, wo er vom Abscheiden spricht, um bei Christus zu sein, nicht von der Auferstehung oder der Verwandlung, sondern vom Tod; denn er sagt: „Sterben ist Gewinn“ (Phil 1,21).

Wir können nicht sagen, in welcher Weise ein Geist Christus genießt: allein das macht keine Schwierigkeit. Mein Geist genießt jetzt Christus trotz aller Hindernisse, welche das elende, irdene Gefäß, in welchem er sich befindet, ihm in den Weg legt. Wir freuen uns, wiewohl wir Ihn selbst nicht sehen, mit unaussprechlicher und verherrlichter Freude. Jetzt genießt meine Seele, nicht mein Leib, geistlicher Weise Christus inmitten der Hindernisse des irdenen Gefäßes und als abwesend vom Herrn; dann wird sie ihn genießen ohne Hindernis des irdenen Gefäßes und als einheimisch bei dem Herrn. Der Gläubige kann Vollkommen gewiss sein, dass er einheimisch bei dem Herrn sein wird, wenn er diesen Leib verlässt, und dass dann die Freude der Gegenwart des Herrn sein Teil sein wird. Es kann niemand mehr als ich auf der Wiederkunft und der Erwartung des Herrn, sowie auf der Wichtigkeit unserer Auferstehung bestehen. Immer wieder komme ich darauf zurück, so oft sich mir bei den Gläubigen eine Gelegenheit dazu darbietet: aber um keinen Preis möchte ich dadurch die Wahrheit, dass für Gott alle – selbst die Geister im Gefängnisleben, in irgendeiner Weise schwächen, noch die herrliche Freude, die Segnung, und den „Gewinn“, bei dem Herrn zu sein, wenn wir sterben, im geringsten Maße verringern. Denn dieser Gedanke war stets die Freude der Heiligen und hat schon über manches Sterbebett ein himmlisches Licht verbreitet, wie dieses, wenn der Herr noch verziehen sollte, noch ferner der Fall sein wird.

Die Schrift redet von dem Glück des Christen bei seinem Abscheiden, von seinem Vorrecht, bei Christus zu sein – als der Ursache einer größeren Freude, als die der glückseligste Dienst hienieden zu gewähren vermag, – in einer ebenso klaren und ausdrücklichen Weise, wie auch, wenn es sich handelt um das Kommen Christi zur Aufnahme aller seiner Heiligen, um – Ihm gleich – für immer bei Ihm in der Herrlichkeit zu sein. Dieser letzte Punkt wird der vollkommene und vollendete Zustand der ewigen Segnung sein, nachdem die Hochzeit des Lammes stattgefunden hat und wir alsdann allezeit bei dem Herrn sein werden. J. N. D.

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