Botschafter des Heils in Christo 1876
Nichts als Freude
Ich wurde zu einem älteren Mann, einem wohlhabenden Pächter gerufen, von welchem man voraussetzte, dass er nur noch wenige Wochen leben werde. Er war mir unbekannt, und ich wünschte zu erfahren, ob er bereit sei, in die Gegenwart Gottes zu treten. Er war indessen so sehr von seinen Leiden und Angelegenheiten erfüllt, dass er nur davon redete, und mich nicht zu Worte kommen ließ. Als es mir dennoch endlich gelang, etwas mit ihm über das Heil seiner Seele und den Herrn Jesus Christus, den Heiland der Sünder, zu sprechen, unterbrach er mich in gleichgültigem Ton, dass dieses alles ohne Zweifel sehr gut sein möchte für jemanden, der es verstehe, dass aber er, obwohl er oft von solchen Dingen gehört habe, nichts davon zu begreifen vermöge. Und kaum hatte er dieses gesagt, so lenkte er sofort das Gespräch wieder auf seine Familienangelegenheiten – auf seine Ochsen, Äcker und dergleichen.
Als ich das Haus verließ, schienen mir der trübe, bewölkte Himmel und die durch den rauen Herbstwind zur Hälfte entblätterten Bäume, deren vergilbte Blätter den Boden bedeckten, nicht so düster, als das Innere dieser Behausung, wo das Licht des Evangeliums der Herrlichkeit Christi bis jetzt keinen Eingang gefunden hatte. Bei den folgenden Besuchen ging es nicht besser; und traurig verließ ich diesen Ort, wo die Botschaft Gottes so wenig Zutritt hatte, wiewohl ich selbst stets mit großer Höflichkeit und vielem Wohlwollen empfangen wurde.
Ungefähr sechs Monate später empfing ich von ihm einen Brief, in welchem er mich, meine Freude darüber voraussetzend, seiner Errettung versicherte. Man wird leicht begreifen, dass ich über diese entschiedene Ausdrucksweise nicht wenig erstaunt war; und da ich kurz nachher in seine Gegend kam, machte ich ihm sofort meinen Besuch. Er sah kräftig und wohl aus; und sein Angesicht strahlte jenes Licht wieder, welches „den Glanz der Sonne übertrifft.“ – „Der Herr hat mich in seine Hand genommen“, rief er mir zu; „Er hat meinen Leib geheilt und meine Seele gerettet.“ – Ich erkundigte mich nach den näheren Umständen, und er teilte mir seine Erfahrungen mit welche ich hier, insoweit dieselben in meinem Gedächtnis zurückgeblieben sind, mit seinen eigenen Worten wiedergebe.
„Obgleich ich sehr gleichgültig zu sein schien, so hatten ihre Worte doch in meinem Innern eine Seite berührt, deren dumpfer Ton meine Seele erzittern machte. Tod, Gericht und Ewigkeit standen immer gleich Schreckensgestalten mir gegenüber. Ich wusste, dass ich ein Sünder war und vor Gott nicht bestehen konnte. Aber was sollte ich machen? Ich versuchte in einsamen Stunden zu beten, aber in meiner armen Seele wurde es immer oder und leerer. Sie hatten mir gesagt, dass der Herr Jesus gekommen sei und alles vollbracht habe, was der Sünder zu seinem ewigen Heil bedürfe. Aber ich verstand ihre Worte nicht und dachte: das ist alles recht schön, aber ich darf doch die Hände nicht in den Schoß legen, sondern muss doch ein wenig mitwirken, sei es durch Buße und Gebet oder durch etwas dergleichen. O ich verlebte Tage der Angst und des Schreckens; und nirgends zeigte sich mir ein Ausweg.“
„Eines Abends nun, nachdem ich mich unglücklicher denn je als ein elender, verlorener und in Finsternis versunkener Sünder zu Bett gelegt hatte, träumte ich, dass ich aufgewacht sei, aber – nicht mehr existiere. Wie wunderbar mir dieses auch zu sein schien, so drängte sich doch die Überzeugung in meine Seele, dass nichts mehr von mir übriggeblieben sei. Ich befand mich in einer öden Einsamkeit. Es gab für mich kein Pachtgut, keine Ernte, kein Vieh mehr; aber wunderbarer als dieses alles – ich selbst war nicht mehr. ‚Gibt es denn nicht noch etwas, was nicht vergangen, was übriggeblieben ist?‘ fragte ich mich. Und klar wie die Sonne am Himmel trat der Gedanke vor meinen Geist, dass jemand existiere, der nimmer vergehen könne; und dieser eine schien mir den ganzen Himmel und die Erde auszufüllen. Und wer war diese geheimnisvolle Person? Kein anderer, als der Herr Jesus Christus. ‚Ja du bist nicht mehr, nur Christus allein ist noch da‘, flüsterte eine Stimme in meiner Seele. Und nun verstand ich, dass gerade dieses es war, dessen ich bedurfte. Der arme, elende Sünder, dieser Gegenstand meiner so großen Betrübnis, war ganz und gar nicht mehr vorhanden; der allein Übriggebliebene war vollkommen; und auf Ihn und nicht auf mich, hatte Gott sein Auge gerichtet. Ich war beseitigt, an meiner statt stand Christus vor Gott, und Gott war befriedigt.“
„Voll Freude erwachte ich und rief mit lauter Stimme:“
„Jetzt weiß ich, dass ich, was den alten Menschen betrifft, vor Gott nicht mehr existiere, und dass Christus meinen Platz eingenommen hat. Der Herr selbst hat mir gezeigt, dass Er nicht nur meines Wirkens, sondern auch meiner selbst nicht bedarf. Er hat mit mir auf Golgatha ein Ende gemacht, und Christus steht da an meiner statt. Was könnte Gott noch weiter fordern? Christus ist für mich vor Ihm: und Gott findet in Ihm eine völlige Befriedigung, so dass ich nichts anders zu tun habe, als diese Tatsache anzuerkennen und Ihn zu preisen. Nie ist doch alles so einfach, wenn man nur Augen hat, es zu sehen!“
„Jetzt erst begriff ich ihre Worte, die Sie damals zu mir sprachen. O was wäre aus mir geworden, wenn ich fortgefahren wäre, mich in meine eigenen Gedanken und Wege zu verlieren, und wenn der Herr mir nicht zu Hilfe gekommen wäre! Doch nein, zu Hilfe ist Er mir nicht gekommen; Er hat vielmehr alles selbst getan und mich gänzlich bei Seite gelassen; ich durfte nicht mitwirken. Es ist eine gesegnete, ja höchst gesegnete Sache zu wissen, dass ich jetzt außer Christus nicht nur nichts bin, sondern auch nichts besitze. Sonst pflegte ich im Blick auf mein Pachtgut zu sagen: ‚Meine Äcker, mein Vieh usw.‘ Jetzt aber denke ich bei mir selbst: Wenn mich der Herr in diesem Augenblick hinwegnimmt, so existiert von diesem allen nichts mehr, was mir noch angehört; es wird unbedingt nichts für mich sein. Aber ich habe Christus, und nichts als Christus. Welch ein Gedanke! Er ist mein, für immer mein.“
Das waren die Worte, die von den Lippen eines Mannes kamen, der diese herrliche Wahrheit: „Ich bin bei Seite gesetzt, und Christus ist an meiner Stelle“ – durch die Belehrung des Heiligen Geistes kennen gelernt hatte – eine Wahrheit, die zu erfassen oft den weiter geförderten Christen so schwerfällt. Von jenem Augenblick an bis jetzt nach anderthalb Jahren füllte Christus in der Tat für ihn den Himmel und die Erde aus. Seine Umwandlung war eine in die Augen springende und konnte nicht verborgen bleiben. Wer ihn früher gekannt, der kannte ihn jetzt kaum wieder. Seine Denkweise, seine Handlungsweise – alles war verändert. Eines Tages sagte er zu mir:
„Sie sehen, dass der Herr mir deshalb die Gesundheit wiedergegeben und mich noch hiergelassen hat, damit ich ein Zeuge für Christus sei; und dieses betrachte ich als mein größtes Vorrecht. Ich sehe es mit dankbarem Herzen, dass bei manchen Seelen das Wort Gottes Eingang zu finden scheine aber auch viele Bekannte, welche ehemals meine Gesellschaft liebten, wenden mir jetzt gänzlich den Rücken. Es geht ihnen, wie es auch mir gegangen hat, – sie haben kein Herz für die Wahrheit. Zuweilen begegne ich einzelnen Seelen, welche täglich mit zerknirschtem Herzen zu Gott stehen, dass Er sie von ihren Sünden erretten möge; und mir ist es, als ob man in einem solchen Zustand um etwas bitte, was Gott bereits gewährt hat. Aber sie erkennen die Errettung nicht, die in dem Opfer Christi auf Golgatha vollbracht und dem Sünder angeboten ist.“
Etwa einen Monat später teilte er mir mit, dass er die Absicht habe, einige entfernt wohnende Verwandte zu besuchen, um ihnen, wozu er bis jetzt keine Gelegenheit gehabt, das Evangelium zu verkündigen. Vor seiner Abreise besuchte er noch einen seiner jüngst bekehrten Nachbarn, welcher seinem Ende nahe war und nahm Abschied von ihm mit den Worten: „Wir werden uns in der Herrlichkeit wiedersehen. Sie gehen dorthin, und ich werde ihnen bald folgen.“
Seine Worte sollten sich bestätigen; denn nicht lange nach der Rückkehr von seiner Reise erhielt ich die Nachricht, dass er sehr krank sei. Ich eilte zu ihm und fand ihn seinem Ende nahe. Aber er flüsterte mir zu: „Ich bin vollkommen glücklich bei dem Gedanken, dass ich zum Herrn gehe. Nur noch wenige Augenblicke, und ich werde für immer bei Ihm sein. Eines nur möchte ich noch wünschen, nämlich dass ich laut genug sprechen könnte, um, wie ich es gern möchte, allen sagen zu können, was der Herr ist. Aber ich kann Ihn preisen, und werde dieses bald noch besser tun können. Ich fühle keine Schmerzen, sondern im Gegenteil nichts als Freude.“ – Etliche Stunden später war er ausheimisch von dem Leib und einheimisch bei dem Herrn.
Geliebter Leser! Siehst auch du Christus an deiner statt, und kannst du durch die Gnade erkennen, dass Gott Ihn an deiner statt anschaut? O möchtest du doch mit dem Apostel sagen können: „Nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir“ (Gal 2,20). „Wer gestorben ist, ist freigesprochen von der Sünde“ (Röm 6,7). Nicht nur die Sünde ist für den Gläubigen beseitigt, sondern auch der Sünder ist als solcher verschwunden. Christus, der unseren Platz auf dem Kreuz unter dem Gericht einnahm, lebt jetzt für uns in der Herrlichkeit; seine Annahme bei Gott ist das Maß der unsrigen. Gott hat Wohlgefallen an uns, weil Er uns in Christus und nur in Ihm sieht. Dieses allein gibt uns einen vollkommenen Frieden, weil dieses uns zeigt, dass Gott vollkommen befriedigt worden ist. Die vollkommene Liebe des Vaters ruht unverhüllt auf uns, weil wir in Ihm sind, an welchem Er seine Wonne hat. Der Sünder ist weder verändert noch verbessert, sondern ist hinweggetan. Christus allein, der vollkommene Mensch, erfüllt die Herrlichkeit Gottes. Und mit Ihm sind wir eins, wenn wir anders Gläubige sind. „Denn wer dem Herrn anhängt, ist ein Geist mit Ihm“ (1. Kor 6,17).