Botschafter des Heils in Christo 1876
Das Hohenpriestertum Christi
In Bezug auf das Hohepriestertum unseres Herrn Jesus Christus herrscht sowohl betreffs des Platzes, den dasselbe einnimmt, als auch betreffs der Grundlage, worauf es ruht, bei vielen Kindern Gottes eine höchst unklare Auffassung. Man hat keine richtige Vorstellung von der Verbindung, in welcher das Hohepriestertum Christi mit anderen Wahrheiten, wie z. B. mit der Erlösung steht, noch von dem, was Gott uns durch dasselbe geben will, und folglich begreift man nicht, wie viel man wegen eines mangelhaften Verständnisses entbehrt. Verweilen wir daher einige Augenblicke bei dieser wichtigen Wahrheit, um zu prüfen, was die Heilige Schrift darüber lehrt.
Dieser Gegenstand wird in dem Brief an die Hebräer behandelt. Vor allem müssen wir bemerken, dass dieser Brief uns ein erlöstes Volk von Pilgern und Fremdlingen vor Augen stellt. Dieses Volk befindet sich nicht in Ägypten, nicht in Kanaan, sondern auf dem Weg durch die Wüste. Ich will jedoch hiermit durchaus nicht sagen, dass die hier dargestellten Gläubigen nicht gleich anderen ihren Platz in den himmlischen Örtern haben; allein von dieser Seite werden die Kinder Gottes in diesem Brief nicht betrachtet. Von solchen Segnungen, über welche in dem Brief an die Epheser, sowie zum Teil auch in dem an die Kolosser gesprochen wird, finden wir hier kein Wort. Sogar ist an keiner Stelle von unserer Auferstehung die Rede, wie dieses in den Briefen an die Römer und an die Philipper der Fall ist.
Der Heilige Geist stellt uns in diesem Brief von Anfang an Christus als sitzend zur Rechten Gottes vor Augen; und dieses ist einer der bezeichnenden Charakterzüge seines Priestertums. Solange Christus auf Erden war, konnte Er kein Priester sein. Sein Priestertum ist ausschließlich himmlisch; Er ist der Priester für ein himmlisches Volk. Der Vorhang ist zerrissen, der Himmel geöffnet und der Heilige Geist als Folge der Erlösung und der Verherrlichung Christi auf die Erde herniedergestiegen. Die Grundlage ist fest und sicher durch die Tatsache, dass Christus, nachdem Er die Reinigung unserer Sünden gemacht, nun im Himmel und demnach in einer lebendigen Verbindung mit denen ist, derer Er sich nicht schämt, sie Brüder zu heißen. Darum werden die Gläubigen, an welche dieser Brief gerichtet ist, im dritten Kapitel „Genossen der himmlischen Berufung“ genannt. Sie waren nicht nur berufen, um später den Himmel zu ererben, sondern Er, der sie berief, war auf Grund einer vollbrachten Erlösung bereits im Himmel. Und dieses ist eine Wahrheit von der höchsten Wichtigkeit: denn der Platz, den unser Herr im Himmel einnimmt, wird hier als die Folge des vollkommenen, allgenügsamen Opfers betrachtet, welches Er selbst für unsere Sünden darbrachte. Er, der Sohn Gottes, welcher, um das Verlorene zu suchen und zu erretten, auf die Erde gekommen war, nahm auf Golgatha den Zorn Gottes auf sich; und nachdem Er durch sich selbst die Reinigung unserer Sünden gemacht, stieg Er gen Himmel empor und setzte sich zur Rechten Gottes, um dort eine neue Art von Tätigkeit zu beginnen, welche auf das zunichtemachen der Sünde durch das Opfer seiner selbst gegründet war.
Die Anwendung des Priestertums Christi für die Gläubigen wird hierdurch in das klarste Licht gestellt. Ein erlöstes Volk wird vorausgesetzt. Es wird vorausgesetzt, dass das große und durchaus notwendige Werk der Gnade zu Gunsten der Gläubigen bereits vollbracht ist. Es wird vorausgesetzt, dass sie ohne irgendwelche Unsicherheit in diesem Werk ruhen, aber es dennoch bedürfen, inmitten vieler Schwierigkeiten, Versuchungen und Verfolgungen, durch den Herrn bewahrt zu werden. Die Lehre des Hebräerbriefes zeigt uns in vollster Klarheit, dass, bevor Christus, um das Priesteramt zu übernehmen, in den Himmel einging, Gott alles getan hatte, was bezüglich der Sünden zu tun nötig war. Die mangelhafte Auffassung dieser großen und wichtigen Wahrheit ist die Ursache der Verwirrung und Finsternis, die so viele Gemüter hinsichtlich des Priestertums Christi beherrschen. Wenn der Gläubige nicht in dem vollbrachten Werk Christi ruht und kein gereinigtes und vollkommenes Gewissen hat, so ist es selbstredend, dass das Priestertum Christi dazu gebraucht wird, um das Fehlende zu ersetzen. Die wahre Gnade des Priestertums geht aber auf diese Weise gänzlich verloren; denn die erste Sache ist, Christus zu kennen und zu wissen, dass die Sünden durch sein Blut vergeben sind. Solange man über diesen Punkt nicht in voller Gewissheit ist, kann von einer Zueignung des Priestertums durchaus nicht die Rede sein; und ach, die meisten Gläubigen besitzen nicht viel mehr als eine Hoffnung bezüglich ihrer Errettung. Das Priestertum verliert seinen wahren Platz, solange nicht die Erlösung in ihrer Einfachheit und Fülle angenommen ist; denn in diesem Fall wird der Wandel und das Priestertum Christi in die Waagschale geworfen, um das zu vollbringen, was der Tod am Kreuz bereits vollbracht hat.
Eine nähere Prüfung des Hebräerbriefes wird uns dieses noch deutlicher machen. Bevor der Heilige Geist über das Priestertum zu sprechen beginnt, wird uns mit der größten Genauigkeit und Vollständigkeit die Person des Herrn Jesus vorgestellt, und zwar in zweifacher Weise. Wir betrachten Ihn als den Sohn Gottes und als den Sohn des Menschen: und beide Naturen waren notwendig für sein Priestertum. Ware Er nicht in einem Sinn, wie ein anderer es nicht sein kann, der Sohn Gottes gewesen, so würde kein Hohepriestertum, wie uns ein solches in diesem Brief vorgestellt wird, vorhanden sein; und wäre Er andererseits nicht so wesentlich wie ein anderer Mensch – jedoch in einem Ihm allein eigenen Charakter – der Sohn des Menschen gewesen, so würde es kein Priestertum geben, das für uns gültig wäre. Der Herr Jesus war beides; in dem ersten Kapitel finden wir Ihn als den Sohn Gottes, in dem zweiten als den Sohn des Menschen. Erst am Schluss des zweiten Kapitels ist zum ersten Male von dem Priestertum die Rede.
Beide Kapitel stellen uns Zugleich die Vollkommenheit der Erlösung dar. Über den Inhalt des ersten Kapitels haben wir bereits gesprochen. Im zweiten Kapitel lesen wir: „Denn es geziemte Ihm, um dessentwillen alle Dinge und durch den alle Dinge sind, indem Er viele Söhne zur Herrlichkeit brachte, den Anführer ihrer Errettung durch Leiden vollkommen zu machen. Denn sowohl der, welcher heiligt, als auch die, welche geheiligt werden, sind alle von einem, um welcher Ursache willen Er sich nicht schämt, sie Brüder zu nennen.“ Das Priestertum steht daher in Beziehung zu den Geheiligten, und zu ihnen allen. Christus hat durch die Gnade Gottes für alle – für alle Menschen – den Tod geschmeckt, wie in Vers 9 gesagt wird; aber sobald der Apostel von dem Priestertum redet, dann spricht er nicht mehr von allen, sondern nur von den Geheiligten, – nicht mehr von dem Samen Adams, sondern von dem Samen Abrahams in geistlichem und nicht buchstäblichem Sinns.
Das Priestertum Christi ist also gänzlich von seinem Versöhnungswerk auf Golgatha unterschieden. Letzteres dehnt sich über die ganze Welt aus, während ersteres nur mit den Geheiligten in Verbindung steht. Dasjenige, was im Alten Testament durch das auf den Gnadenstuhl gesprengte Blut vorgebildet wurde, dehnte sich auf alle aus. Es war dabei durchaus nicht von denen die Rede, die sich in unmittelbarem Bereich der Segnungen Gottes befanden; nein, das Blut hatte einen grenzenlosen Wert. „Durch die Gnade Gottes schmeckte er den Tod für alle.“ Aber sobald wir Christus in seinen Tätigkeiten und in seinen Leiden als Hohepriester betrachten, dann sehen wir, wie bereits bemerkt, unsere Aufmerksamkeit auf die beschränkt, welche in einer besonderen Gnadenbeziehung zu Ihm stehen. „Weil nun die Kinder Blutes und Fleisches teilhaftig sind, so hat Er gleicherweise an denselben Teil genommen, auf dass Er durch den Tod zunichtemachte den, der die Macht des Todes hat, das ist den Teufel, und alle diese befreite, die durch Furcht des Todes während des ganzen Lebens der Knechtschaft unterworfen waren.“
Es ist daher sehr deutlich, dass Christus für sein erlöstes Volk, für die Geheiligten, für die Kinder, ein barmherziger und treuer Hohepriester ist, „Denn Er nimmt fürwahr sich nicht der Engel an, sondern des Samens Abrahams nimmt Er sich an.“ Nach seinem wohlgefälligen Willen machte Er sündige Menschen zu Kindern Gottes, während die Engel in der Stellung bleiben, die sie von jeher einnahmen. „Darum sollte Er den Brüdern in allem gleich werden;“ denn sonst hatte Er kein „barmherziger und treuer Hohepriester“ sein können. Vor seinem Kommen in diese Welt war Christus kein Hohepriester. Erst musste Er den Brüdern in allem gleich werden; erst musste Er am Kreuz das Erlösungswerk vollbringen, bevor von einem Hohepriester die Rede sein konnte. Auch war Er während seines Wandels hienieden kein Hohepriester. Erst nachdem Er diese Erde verlassen hatte und zu seinem Vater gegangen war, konnte Er als der Hohepriester seines erlösten Volkes betrachtet werden; und in diesem Zustand ist es, dass wir Ihn als Hohepriester mit Ehre und Herrlichkeit gekrönt sehen. Sein Hohepriestertum ist ein Amt, welches Er im Himmel für die bekleidet, die von der Welt abgesondert und zu Gott gebracht sind.
Nachdem uns dieses alles vorgestellt ist, finden wir erst am Ende des zweiten Kapitels Christus als Hohepriester. Er ist „in den Sachen mit Gott ein barmherziger und treuer Hohepriester, um die Sünden des Volkes zu sühnen.“ Dieses erinnert uns an den großen Versöhnungstag. Dort erschien der Hohepriester und kein anderer. Er machte Versöhnung für das ganze Jahr; und nur einmal im Jahr ging er in das Allerheiligste, um das Blut der Versöhnung vor Gott zu bringen. Was der Hohepriester oder die Priester auch sonst zu tun haben mochten, welche Opfer sie auch täglich bringen mussten, so geschah doch diese Handlung – die Versöhnung im Innern des Vorhangs – nur einmal des Jahres, und zwar in der durch Gott bestimmten Zeit. Der Hohepriester vertrat bei dieser Gelegenheit das Volk und opferte den Bock, auf welchen das Los Jehovas gefallen war, für die Sünden des Volkes. Danach brachte er das Blut in das Innere des Vorhangs, um also „Versöhnung zu tun wegen der Unreinigkeiten der Kinder Israel und wegen der Übertretungen in all ihren Sünden.“ Dann trat er aus dem Allerheiligsten, legte seine beiden Hände auf den Kopf des noch lebendigen Bockes, des Bockes Asasel, der in die Wüste gesandt werden sollte, und bekannte auf ihn alle ihre Sünden: und schließlich wurde dieser Bock in die Wüste fortgesandt, als ein Sinnbild, dass alle Sünden hinweggetan waren (3. Mo 16).
Zur Versöhnung Israels bedurfte es also zweier Böcke. Beide dienten dazu, um die Versöhnung in ihren zwei großen Abteilungen vorzustellen. Die eine Handlung war der Ausdruck des gerechten Gerichts Gottes über die Sünde, die andere die damit in Verbindung stehende Tröstung für uns, dass alle Sünden hinweggetan sind und nicht mehr gesehen werden. Beide Handlungen finden wir im Neuen Testament, z. B. in Römer 3 und 4 deutlich wieder. Der letzte Teil des dritten Kapitels entspricht mehr dem Los Jehovas, während der letzte Teil des vierten Kapitels uns jenes Los, welches auf den Bock Asasel fiel, vor Augen stellt. Der erste Fall zeigt uns, dass Gott gerecht ist und den rechtfertigt, der des Glaubens an Jesus ist; und hier finden wir das Blut auf dem Gnadenstuhl. Im Zweiten Fall aber sehen wir Christus als den, „welcher unserer Übertretungen wegen dahingegeben und unserer Rechtfertigung wegen auferweckt worden ist;“ denn seine Dahingabe wegen unserer Sünden wird uns in dem fortgesandten Bock vorgebildet, der mit den Sünden des Volkes in die Wüste gesandt wurde. Indes denke man nicht, dass der Bock Asasel ein Vorbild der Auferstehung sei. Hiervon finden wir in diesen Opfern nichts. Andere Stellen reden allerdings davon, wie z. B. bei der Opferung Isaaks, oder auch bei dem Opfer, welches ein Aussätziger zu seiner Reinigung bringen musste. In letzterem Fall musste der lebendige Vogel, nachdem er in das Blut des geschlachteten Vogels getaucht worden, im offenen Felde frei gelassen werden (3. Mo 14). Bei dem Bock Asasel fand solches nicht statt. Zwar wurde er frei gelassen, jedoch in die Wüste, in ein abgesondertes, unbewohntes Land getrieben. Der Himmel aber ist kein unbewohntes Land und kann nicht mit einer Wüste verglichen werden. Es soll daher nur, wie ich glaube, das Wegtun der Sünde Israels, die Vernichtung des sichtbaren Zeugnisses ihrer Ungerechtigkeiten, vorgestellt werden.
Das, was nun auf dem großen Versöhnungstag geschah, ist ein Vorbild von dem, was Christus tat. Nachdem Er sich selbst zu einem Opfer hingegeben, nachdem Er sein Blut zur Vergebung der Sünden vergossen hatte, ging Er mit diesem Blut in das himmlische Heiligtum und brachte es dort als der große Hohepriester seines Volkes vor das Angesicht Gottes, um dadurch für die Sünden des Volkes Versöhnung zu tun. Diese Versöhnung ist eine ewige. „Er aber, nachdem Er ein Schlachtopfer für die Sünden dargebracht, hat sich für immerdar gesetzt zur Rechten Gottes“ (Heb 10,12). „Die Hauptsumme aber dessen, was wir sagen, ist: Wir haben einen solchen Hohepriester, der sich gesetzt hat zur Rechten des Thrones der Majestät in den Himmeln“ (Heb 8,1). Eine jährliche Wiederholung der Versöhnung findet nicht mehr statt. Das Blut der Versöhnung ist durch den großen Hohepriester in die Gegenwart Gottes gebracht und durch Gott angenommen worden; und Er, der es dorthin gebracht, hat sich zur Rechten Gottes gesetzt. Dort sitzt Christus als der Hohepriester seines Volkes für immerdar. Sein Blut ist im Heiligtum. Das Werk der Versöhnung ist nicht nur vollbracht, sondern die Versöhnung ist auch angenommen. Die Geheiligten stehen kraft dieser angenommenen Versöhnung, kraft dieses Blutes in der Gegenwart Gottes und werden, da ihr großer Hohepriester nie seinen Platz im Heiligtum verlässt, dort für immer sein. Er lebt, um für immer ihren Platz in der Gegenwart Gottes zu bekleiden.
Obschon nun, wie bereits gesagt, die Versöhnung allein durch den Hohepriester geschehen ist, so war dieses, genau gesprochen, doch nicht der eigentliche, gewöhnliche Dienst des Priesters. Es bildete vielmehr die Grundlage und war daher mit seinem Dienst enge verbunden. Die Versöhnung für die Sünden war die erste Forderung und der Grund, auf welchem der Priester täglich vor Gott zu Gunsten des Volkes erscheinen konnte.
Und hierdurch kommen wir zu einer anderen, nicht minder wichtigen Offenbarung betreffs der Person dessen, dem es allein geziemte, ein wahrer Hohepriester zu sein. „Denn in dem Er selbst gelitten hat, da Er versucht ward, vermag Er denen zu helfen, die versucht werden.“ Herrliche Wahrheit! O lasst uns einige Augenblicke mit Andacht über diese Worte nachsinnen, nicht weil es sich dabei um uns handelt, sondern weil Er der Gegenstand davon ist – Er, dessen Herz so oft durch seine Freunde, wie durch seine Feinde versucht wurde. Welch eine Zärtlichkeit seines Herzens, welch eine gnädige Fürsorge, dass Er durch die Menschen versucht werden wollte, um denen, die versucht werden, umso besser helfen zu können!
Welche Deutung aber hat hier das Wörtchen: „versucht?“ Diese Frage ist von höchster Wichtigkeit; denn mancher, der sich einen falschen Begriff davon machte, ist dadurch auf schreckliche Irrwege gekommen. Wir finden dieses Wort, nachdem zuvor von den „Geheiligten“ gesprochen ist; und sicher bezeichnet es nicht innere Neigungen zum Bösen. Kein Gedanke daran; denn die Behauptung, dass der Herr auf eine solche Weise versucht worden, wäre Lästerung. Überhaupt aber ist, wenn von dem Priestertum zu unseren Gunsten gesprochen wird, wohl von Schwachheiten und Versuchungen, doch keineswegs von Sünden und Übertretungen die Rede. Wie würde der Herr auch mit unseren Sünden Mitleiden haben können, da Er doch die Sünde hasst? Nein, das ist unmöglich und findet einen Widerspruch in den Worten: „Da wir nun einen großen Hohepriester haben, der durch die Himmel gegangen ist, Jesus, den Sohn Gottes, so lasst uns das Bekenntnis festhalten; denn wir haben nicht einen Hohepriester, der nicht Mitleid haben kann mit unseren Schwachheiten, sondern der in allem versucht worden ist in gleicher Weise, ausgenommen die Sünde“ (Heb 4,14–15).
Der Heilige Geist offenbart uns hier eine Wahrheit die sowohl mit der Herrlichkeit Christi, als auch mit dem, Bedürfnis des Gläubigen in vollem Einklang steht. Es ist sicher wahr, dass Christus nie eine Sünde tat; aber der Heilige Geist lässt uns hier eine weit herrlichere Wahrheit verstehen. Christus ist in allem versucht worden in gleicher Weise, ausgenommen die Sünde. Er hat nicht nur nie gesündigt, sondern Er hatte keine Sünde: und das ist ein großer Unterschied. Es war in Ihm keine Sünde; es gab in Ihm keinen Anknüpfungspunkt für die Sünde. Nicht nur willigte Er nie in die Sünde ein, nein, es gab in Ihm keine Sünde, in welche Er hätte einwilligen können. In seiner Natur als Mensch wohnte nichts Böses, auf welches der Teufel einwirken konnte. Das Böse kam Ihm von außen her entgegen. In einer gefallenen und verdorbenen Welt war Er den listigen Anläufen des Teufels ausgesetzt. Alles, was Ihm irgend Schmerz bereiten konnte, war gegenwärtig, und zwar nicht nur in den Juden, sondern auch in seinen Jüngern. Im Anfang seiner Laufbahn suchte der Teufel Ihn durch das, was angenehm war, zu verführen, und am Ende trachtete er Ihn zum Aufstand gegen Gott zu reizen, indem er Ihm die unaussprechlichen Schrecken jenes Todes vorstellte, dem Er entgegen zu gehen im Begriff war.
So ist also Christus gleich wie wir zu allen Zeiten, unter allen Umständen – sei es durch eine Vorspiegelung des Schmerzes oder der Freude – versucht worden. Jedenfalls ist Er – und das dürfen wir nicht aus dem Auge verlieren – in einem weit höheren Maße als wir versucht worden. „Keine Versuchung hat euch ergriffen, als nur eine menschliche“, sagt Paulus in 1. Korinther 10,13. Kann das von Jesus gesagt werden? Sind wir nicht alle überzeugt, dass der Herr mehr als irgendein anderes Wesen versucht worden, und dass keine Versuchung mit der Seinen zu vergleichen ist? Wie vollkommen wahr es daher ist, dass Jesus in allem, gleich wie wir, versucht worden ist, so ist es doch keineswegs wahr, dass wir, wie etliche behaupten, in allem versucht worden sind, gleich wie Er. Wenn wir auf die drei uns bekannten Versuchungen Jesu in der Wüste unseren Blick richten, müssen wir dann nicht bekennen, dass wir in einer solchen Weise nie vom Teufel versucht worden sind. Unsere Versuchungen mögen mit denen des Herrn in einiger Übereinstimmung sein, aber sie sind nie mit denselben zu vergleichen. Dazu wurde er außer diesen drei Versuchungen vierzig Tage hindurch durch den Teufel versucht. Sind wir je in einer solchen Weise versucht worden? Sicher nicht, und, wie ich glaube, werden wir auch nie in solche Versuchungen kommen.
Während daher der Herr in allem versucht worden ist, gleich wie wir, so wurde Er dennoch in einer Weise versucht, die Ihm allein eigen war. Und dieses konnte nicht anders sein; denn Er war, wenn ich mich so ausdrücken darf, nicht in einem gewöhnlichen Sinne ein natürliches Glied, und selbst nicht ein natürliches Haupt der Menschheit. Er wurde Mensch – das ist unstreitig wahr – aus Gnaden geboren von einem Weib; aber Er war der Sohn Gottes, ja Gott selbst und auf dem Punkt, den ersten Platz in der neuen Schöpfung einzunehmen. Er war das Gegenbild des ersten Menschen – indem sich dieser in Sünde, Er aber in Gerechtigkeit und Gnade offenbarte. Während der erste Mensch, Adam, in den günstigsten Umständen fiel und sich und seinen Nachkommen den Tod brachte, blieb der zweite Mensch, Jesus Christus, Sieger in den fürchterlichsten Versuchungen und umringt von Tod und Elend; und nun ist Er der verherrlichte, aus den Toten auferstandene Mensch im Himmel. Der Zustand, worin Adam vor dem Fall war, erklärt uns, was Versuchung ist; denn die allgemeine Annahme, dass eine Versuchung das inwendige Böse voraussetzt, ist ganz und gar falsch. Alle, welche also denken, vermengen die Versuchung mit der Begierde oder Neigung zur Sünde und beweisen nur zu deutlich, mit welchem Sauerteig ihr Lehrsystem durchdrungen ist. Wurde Adam nicht versucht? Und war Sünde oder eine innere Neigung zum Bösen in Adam, bevor er fiel? Keineswegs. Es bedarf daher keiner Sünde für die Versuchung in dem hier bezeichneten Sinne. Die erste Versuchung trat an jemanden heran, der ohne Sünde geschaffen war. So war es auch bei dem zweiten Menschen. Er war ohne Sünde und, was noch mehr war, als „das Heilige“ geboren; Er lebte, ohne „die Sünde zu kennen“; und wie könnte daher von einer in ihm wohnenden Neigung zur Sünde die Rede sein? Es war die Absicht des Teufels, die Sünde in Ihn hineinzubringen. Doch selbst am Ende seines Lebens kam „der Fürst dieser Welt und fand nichts in Ihm.“ Satan fand in dem Menschen Christus Jesus weder innere Sünde, um sie aufzuwecken, noch irgendwelchen Mangel an Gemeinschaft und Abhängigkeit von Gott, wodurch die Sünde sich hätte festsetzen können. Wenn der Teufel es hätte nur dahin bringen können, dass Jesus seinen eigenen Willen getan hätte, so würde die Sünde vorhanden gewesen sein, und alles wäre verloren, jede Hoffnung verschwunden gewesen. Doch, Gott sei Dank! Dieses konnte nicht sein; denn Er war sowohl eine göttliche Person als der abhängige Mensch. Christus ist eben sowohl Gott, wie es der Vater und der Heilige Geist ist. Seine Menschwerdung hat nicht im Geringsten seine Gottheit geschwächt, da Er die Menschheit in seiner Person zur Vereinigung mit Gott erhob Sowohl seine Gottheit, als auch seine Menschheit behielten ihre eigentümlichen Eigenschaften; und beide Naturen waren in ihrer ganzen Vortrefflichkeit in der Person Jesu vereinigt. Und ein solcher Jesus kam auf diese Erde, um seinen Gott und Vater zu verherrlichen und uns von all unseren Sünden zu erlösen. Und einen solchen Jesus haben wir als Hohepriester vor Gott.
Welch eine Kraft liegt daher in den Worten: „Indem Er selbst gelitten hat, da Er versucht ward.“ Ja, Er litt. Und wo jemand leidet, wenn Er versucht wird, da kann von keiner Neigung zur Sünde die Rede sein. Der Sünder tut seinen eigenen Willen: er kümmert sich nicht um den Willen Gottes, und das ist Sünde. Aber Jesus tat nie seinen eigenen Willen. Er wollte dieses nie; Er zögerte nie einen einzigen Augenblick. „Siehe, ich komme, deinen Willen zu tun, o Gott.“ So war es, bevor Er kam, so war es am Anfang, so war es am Ende, so war es während seines ganzen Lebens. Nicht einen Augenblick tat Er seinen eigenen Willen Er lebte als Diener in völliger Abhängigkeit von seinem Vater. Er war – mit einem Wort – der vollkommene Mensch, der Einzige, der nur den Willen Gottes getan hat. Darum hat auch niemand so gelitten, wie Er; denn nach dem Maß der Liebe und Heiligkeit leidet jemand mehr oder weniger, abgesehen von der Herrlichkeit die Er allein besaß.
So ist es jetzt mit den Kindern Gottes. Ihr wollt nicht euren eigenen, sondern den Willen dessen tun, den ihr als „Vater“ anrufen dürft. Das aber ist keine geringe Sache in einer Welt, wo nichts als Eigenliebe herrscht und die in Übereinstimmung mit ihrem eigenen Willen lebt und handelt. Der Herr Jesus war gerade das Entgegengesetzte, und so auch die, welche Ihm angehören. Petrus nennt uns „Auserwählte nach Vorkenntnis Gottes, des Vaters, durch Heiligung des Geistes, zum Gehorsam und zur Blutbesprengung Jesu Christi.“ Der Gehorsam Christi kann also auch von uns gefordert werden. Er unterwarf sich stets vollkommen dem Willen des Vaters. Er litt; und dieses Leiden war eine Folge der Versuchungen Satans, welche dem entgegentraten, der die Wonne Gottes war, und der sich stets weigerte, seinen Gehorsam aufzugeben. Überdies litt Er, indem sich seine Seele mit heiligem Abscheu gegen das Böse sträubte, welches nicht in Ihm, wohl aber überall außer Ihm war.
Die Einflüsterungen des Feindes bewirkten, anstatt seinen eigenen Willen wachzurufen, in Ihm nur Leiden und Betrübnis. Er litt eben deshalb, weil Er der Heilige war. Darum lesen wir: „Denn in dem Er selbst gelitten hat, da Er versucht ward, vermag Er denen zu helfen, die versucht werden.“ Wie beachtenswert ist es daher, dass wir, als Söhne Gottes, in der neuen Natur und durch den Heiligen Geist zu demselben Gehorsam berufen sind!
Aus diesem Gesichtspunkt werden die Christen hienieden in dem Hebräerbrief betrachtet. Sie sind erlöst: sie sind geheiligt: sie sind Kinder Gottes; und Christus nennt sie seine Brüder. Aber zu gleicher Zeit befinden sie sich auf dem Schauplatz der Versuchung in der Wüste. Der Psalmist erinnert die Kinder Israel an den „Tag der Versuchung in der Wüste.“ So ist es auch mit uns; wir befinden uns in der Wüste: die Jetztzeit ist der Tag der Versuchung. Wir werden versucht und vielfältig auf die Probe gestellt. Unser Gott lässt alles zum Guten mitwirken: denn wir durchschreiten eine Stätte, wo jeder Ursprung von Macht, wo jede gute und vollkommene Gabe, wo das Licht, das unseren Weg bescheint, von oben kommt und nicht von uns selbst oder von der uns umgebenden Welt. Es gibt nichts um uns her und nichts in unserer alten Natur, welches uns helfen könnte. Vielmehr ist dieses alles geeignet, uns zu verleiten und unsere Schritte zu hemmen, während vor allem der Teufel es ist, der uns zum Bösen verführt. Doch Christus weiß dieses: Er hat sein wachsames Auge sowohl auf den Teufel, als auf uns gerichtet. Ein Feldherr, der früher selbst in einer belagerten Stadt dem Feind die Spitze zu bieten hatte und ihn zum Abzüge zwang, kann am besten den Zustand seiner Freunde ermessen, die, von demselben Feind umzingelt, noch mit einem Verräter in der Stadt zu kämpfen haben. Um wie viel mehr kann daher Jesus mit uns Mitleid haben! Es gibt keinen größeren Irrtum, als die Voraussetzung, dass Jesus, um mit uns fühlen zu können, den alten Menschen in sich gehabt haben müsse. Wäre dieses der Fall gewesen, so würde die Person Christi in ihrer moralischen Herrlichkeit und Vollkommenheit zunichtegemacht sein; und weder sein Werk, noch dessen Folgen würden von einigem Wert sein; ja, wir würden keinen Erlöser haben und dastehen, wo der Unglaube steht welcher den Sohn und sein Werk leugnet. Es läuft fast auf eins hinaus, ob wir die Gottheit Christi leugnen, oder die vollkommene, fleckenlose Menschheit untergraben; denn beides leitet zu den schrecklichsten Folgen; beides beraubt uns des vollkommenen Menschen, der allein kraft seiner Vollkommenheit im Stande war, unsere Sünden auf sich zu nehmen und die Schuld zu bezahlen. Ich wiederhole es: Er, welcher unter Versuchungen zu leiden wusste, kann in vollkommener Weise Mitleid mit uns haben, die wir nicht nur gegen denselben Versucher, sondern auch gegen das Fleisch in uns zu wachen haben. Sollte sein Mitleid, weil Er den letzten Kampf nicht zu bestehen hatte, darum geringer sein? Im Gegenteil; denn der alte Mensch hält jemanden in dieser oder jener Weise mit sich selbst in Tätigkeit, während Er ganz frei war, um zu lieben, zu dienen und zu leiden.
Jedoch kommt Christus, wie bereits bemerkt, nur den Gläubigen, den Kindern Gottes, den heiligen Brüdern, die „der himmlischen Berufung teilhaftig sind“, zu Hilfe. Sie sind die „Geheiligten.“ Das Priestertum Christi steht nur mit den Heiligen in Verbindung. Dieses ist so wahr, dass der Apostel, wenn er von dem Priestertum Christi spricht, nicht mit einem einzigen Worte der „Sünden“ gedenkt. Dennoch gibt es viele Christen, welche meinen, dass Christus als Hohepriester der Sünden wegen auftrete, die wir von Zeit zu Zeit begehen. Doch die Schrift lehrt dieses nirgends. Im Gegenteil verbindet unser Brief sein Priestertum mit der Hilfe und dem Mitleiden, welches wir erfahren, wenn wir versucht werden, wie Christus versucht ward.
Christus hat Mitleid mit unseren „Schwachheiten“, keineswegs aber mit unseren Sünden. Wenn ein Gläubiger gesündigt hat, so ist von Seiten Gottes für dieses Bedürfnis eine andere Vorsorge getroffen worden; denn in diesem Fall ist Christus unser „Sachwalter bei dem Vater“ (1. Joh 2). Hier aber ist nur von dem Hohepriestertum Christi die Rede; und in dieser Eigenschaft hat Er mit unseren Sünden nichts zu tun. Als Hohepriester beschäftigt Er sich mit unseren „Schwachheiten.“ „Wir haben nicht einen Hohepriester, der nicht Mitleid haben kann mit unseren Schwachheiten, sondern der in allem versucht worden ist in gleicher Weise, ausgenommen die Sünde.“ Er sitzt nun zur Rechten seines Vaters; und dort ist Er in seiner liebreichen Sorge für mich beschäftigt, um mich inmitten all der Leiden und Prüfungen, die ich durch die Menschen, durch die Welt und den Teufel um seines Namens willen zu ertragen habe, zu unterstützen und mir zu helfen. Er ist in der Herrlichkeit: ich bin in der Wüste, jedoch mit der Hoffnung, bald dort zu sein, wo Er ist, in derselben Herrlichkeit. Doch will Er uns – gepriesen sei sein Name! – während unserer Pilgerschaft hienieden nicht allein lassen. Er ist uns ein großer Hohepriester; und wir dürfen mit Freimütigkeit zu Ihm gehen, „auf dass wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zur rechtzeitigen Hilfe.“ Er kennt – und das ist überaus herrlich – jedes Leid aus eigener Erfahrung, Er weiß, welch ein Feind Satan ist: Er kennt seine Schlauheit, List und Bosheit. Er, der Heilige, ward vollkommener Mensch, ward uns in allem gleich, ausgenommen die Sünde: und darum kann Er in vollkommener Weise mit uns Mitgefühl haben, ja, mit uns leiden in unseren Schwachheiten.
Die Wahrheit, dass Er nicht nur nicht sündigte, sondern ohne Sünde war, und dass seine Versuchungen von der Sünde getrennt waren, findet im folgenden Kapitel eine nähere Erklärung. „Denn jeder aus Menschen genommene Hohepriester wird für Menschen bestellt in den Sachen mit Gott.“ „Nun, bezieht sich dieses nicht auf Jesus?“ fragt vielleicht jemand. „War Er nicht aus den Menschen genommen?“ – Meine Antwort ist, dass der Heilige Geist hier durchaus nicht das Priestertum Christi beschreibt, sondern gerade im Gegenteil das jüdische Priestertum als einen Gegensatz zu dem seinen bezeichnet. Dieses leuchtet deutlich aus den nachfolgenden Worten hervor: „Auf dass er sowohl Gaben als Schlachtopfer darbringe für die Sünden, der Nachsicht zu haben vermag mit den Unwissenden und Irrenden, indem auch er selbst mit Schwachheit umgeben ist; und um dieser willen muss er, wie für das Volk, so auch für sich selbst opfern für die Sünden.“ – dieses letztere räumt, dünkt mich, für den Gläubigen jede Schwierigkeit hinweg. Wenn der hier in Rede stehende Hohepriester nicht nur für anders, sondern auch für sich selbst, für seine eigenen Sünden opfern muss, so wird es doch niemand wagen, dieses auf Christus anzuwenden. Wir lesen weiter: „Und es nimmt nicht jemand sich selbst die Ehre, sondern als von Gott berufen, gleich wie auch Aaron. Also hat auch der Christus sich nicht selbst verherrlicht.“ Der Apostel beginnt hier mit einem Vergleich, jedoch nur um den Gegensatz umso schärfer hervortreten zu lassen. Allerdings verherrlichte Christus sich nicht selbst: aber Er, der zu Ihm sagte: „Du bist mein Sohn!“ derselbe Gott setzte Ihn als Priester ein. „Du bist Priester in Ewigkeit nach der Ordnung Melchisedeks.“ Wir sehen also, dass hier, wo uns die Wurzel, der Stamm und die Früchte vor Augen gestellt werden, das Wesen des Priestertums Christi darin besteht, dass Er nicht nur der Sohn des Menschen, sondern auch der Sohn Gottes war. Der Hohepriester, von welchem in den ersten Versen des fünften Kapitels die Rede ist, ist, wie jeder andere, nur ein Kind Adams – ein Hohepriester, der „Nachsicht zu haben vermag mit den Unwissenden und Irrenden“, und zwar einfach deshalb, weil er nicht besser war. Er war, wie jeder andere, „mit Schwachheit umgeben.“ Kein Wunder daher, dass er mit seinen Mitmenschen Nachsicht hatte. Doch dieses alles bildet einen völligen Gegensatz zu dem Standpunkt der Majestät und der Gnade des himmlischen Hohepriesters, der, obwohl der eingeborene Sohn Gottes, sich dennoch zur Menschwerdung erniedrigte, um als Sohn des Menschen hier auf Erden zu wandeln.
Das Priestertum Christi steht also, wie bereits gesagt, in Beziehung zu den Versuchungen und Schwachheiten derer, die Er die Seinen nennt, die Er liebt und bis ans Ende lieben wird. Es dient zu ihrer Stütze, wenn sie versucht werden, wie Er es ward, wenn sie um der Gerechtigkeit oder um seines Names willen leiden, wenn sie – mit einem Wort – durch irgendetwas, das nicht die Folge ihrer Sünden ist, geprüft werden. Wohl hat der Herr in seiner Gnade auch in Betreff der Sünden Vorsorge getroffen. Er kann sich in seiner Barmherzigkeit auch mit jemandem beschäftigen, dessen Leiden eine Folge seiner eigenen Sünden ist; allem das wird uns hier nicht gelehrt. Es ist sehr wichtig, die verschiedenen Unterweisungen der Heiligen Schrift nicht miteinander zu vermengen. Eine Verbindung des Hohepriestertums Christi mit unseren Sünden und Gebrechen mag vielleicht mit unseren Wünschen und Gedanken mehr übereinstimmen; aber darauf kommt es nicht an. Der Glaube darf sich nicht um menschliche Urteile kümmern; sein Weg ist, die Bibel zu erforschen und sich dem Urteil Gottes zu unterwerfen. Eine völlige Unterwürfigkeit unter das Wort wird uns allein in den Stand setzen, die Absicht und die Gedanken des Heiligen Geistes recht zu verstehen.
Da wir noch Gottlose und Sünder waren, konnte natürlich nicht von Mitleid und demzufolge nicht von einem Priestertum die Rede sein. Wir bedurften damals keines Mitleids mit unseren Sünden, sondern eines Sühnopfers für unsere Sünden – eines Sühnopfers, wie nur Christus es darbringen konnte. Ein rechtlich gesinnter Mensch, und vor allem ein Heiliger Gottes begehrt kein Mitleiden mit seinen Sünden. Christus litt für uns, der Gerechte für die Ungerechten, und durch sein kostbares Blut reinigte Er uns von unseren Sünden. Das war der Weg, auf welchem Gott diesem unserem Bedürfnis begegnete. Aber Mitleiden kann Er mit unseren Sünden nicht haben. Jedoch jetzt, nachdem wir in Christus eine neue Schöpfung geworden und nicht allein im Blut, sondern auch im Wasser durch das Wort gewaschen sind – „Dieser ist, der gekommen ist durch Wasser und Blut, Jesus, der Christus, nicht durch das Wasser allein, sondern durch das Wasser und das Blut“ – jetzt, da wir nach seinen eigenen Worten in Christus ganz rein und ohne Sünde sind, haben wir etwas anders nötig, als einen Versöhner für unsere Sünden; wir bedürfen einer Person, die in allen Versuchungen, in allen Mühen und Gefahren, denen wir hienieden um seines Namens willen ausgesetzt sind, uns vollkommen unterstützen, ja selbst mit uns leiden kann.
Und dieses ist es eben, was der Herr Jesus nun für uns tut. Er beschäftigt sich mit einem jeden von uns persönlich. Er ist nicht der Hohepriester der Versammlung; das wird nirgends im Neuen Testament gesagt; nein, es ist ein persönlicher Segen, eine persönliche Beziehung zwischen Christus und den Seinen. Wir sind in dieser Welt dem Feind bloßgestellt; wir durchschreiten als Fremdlinge und Pilger die dürre Wüste, und als solche bedürfen wir des Priestertums Christi.
Als die Kinder Israel durch die Wüste reisten, wurde der Hochmut des menschlichen Herzens zu Öfteren offenbar. So einmal, als Korah sich gegen Moses auflehnte und erklärte, dass, da sie alle ein heiliges Volk bildeten, sie keines Priesters mehr bedürften. Die Folge war, dass unter dem Volk eine große Plage entstand, und dass die, welche den Aufruhr angestiftet hatten, durch den Zorn Jehovas in den Schlund der Erde geworfen wurden. Kurz nachher aber wird dem Volk in einer beachtenswerten Weise die große Wichtigkeit des Priestertums vorgestellt. Jedes Familienhaupt musste für jeden Stamm einen Stab ins Heiligtum bringen. So auch Aaron. Als nun Moses am folgenden Morgen in das Zelt des Zeugnisses trat, sah er, dass der Stab Aarons blühte und Früchte trug. Dieser Stab des Hohepriesters war demzufolge das Kennzeichen des auserwählten Priestertums. Die Israeliten konnten nicht ohne Autorität sein; kein Gläubiger kann dieses begehren; denn nicht der Mensch, sondern Gott muss regieren. Dennoch war es nicht die richterliche Autorität des Stabes Mose, welcher nur Verwüstung und Gericht über ihre Häupter hätte bringen können. Der Stab Aarons hingegen war der Ausdruck der priesterlichen Gnade; er war der Stab der lebendigen Kraft, des Lebens, welches nach dem Tod ist und Früchte hervorbringt. Und also Zeigt uns der Heilige Geist in solch hervorragender Weise, dass etwas ganz anderes nötig ist, um das Volk durch die Wüste zu führen, als wenn es sich um seine Befreiung aus Ägypten handelt. Als die Israeliten an jener Seite des roten Meeres standen, waren sie zwar aus den Händen ihrer Feinde befreit; aber wer würde sie durch die Wüste geführt haben, wenn Gott nicht auch in dieser Beziehung Vorsorge getroffen hätte. Sicher niemand. Daher bedurfte es der Gnade des Priestertums, vorgestellt in dem blühenden Stab Aarons; es bedurfte der Kraft eines endlosen Lebens (4. Mo 16–17).
So begegnet der Herr Jesus auch unseren Bedürfnissen während unseres mühevollen Wandels hienieden. „Er vermag völlig zu erretten, die durch Ihn zu Gott kommen.“ Er errettet sie völlig. Hier ist nicht von der Erlösung der Sünder, sondern von der Erlösung der Heiligen die Rede, von der Erlösung jener, denen, wie der Apostel sagt, „ein solcher Hohepriester geziemte heilig, unschuldig, unbefleckt, abgesondert von den Sündern, und höher, denn der Himmel geworden.“ Solche errettet Er, bringt sie durch alle Mühen, über all die Anstöße Satans hinweg, und durch die Folgen der eigenen Schwachheiten hindurch wohlbehalten ins Vaterhaus. Herrliche Wahrheit! Ja, unser treuer Führer, unser mitleidiger Hohepriester wird uns in dieser Wüste nicht verlassen. Er leidet mit uns, die wir heilig, vollkommen und ohne Sünde in Ihm sind. Nicht, als ob wir nicht sündigen, Gott bewahre mich vor diesem Irrtum! Ach, nur zu oft willigen wir in die Versuchungen Satans ein. Aber auch in dieser Beziehung hat der Herr in seiner unendlichen Gnade Vorsorge getroffen, wovon jedoch hier nicht die Rede ist. Nur mit den Seinen, nur mit den Schwachheiten und den Versuchungen, die Ihm selbst auf dieser Erde begegnet sind, kann Er Mitleiden haben. Der Herr gebe uns allen, dieses recht zu verstehen!