Botschafter des Heils in Christo 1876
Die Auserwählung
Unter den wichtigen Lehrsätzen der christlichen Wahrheit nimmt die Lehre der Auserwählung einen der ersten Plätze ein. Wir werden durch dieselbe mit den vor Grundlegung der Welt gefassten Ratschlüssen Gottes bekannt. „Er hat uns auserwählt in Christus vor Grundlegung der Welt“ (Eph 1,4). Nicht die Schöpfung des Himmels und der Erde ist das erste, was wir von Gott erfahren; o nein; vor Grundlegung der Welt, als noch nichts von dem, was jetzt ist, bestand, hat Gott an uns gedacht, hat uns auserwählt, uns gekannt, uns verordnet, dem Bild seines Sohnes gleichförmig zu sein. Kostbare Wahrheit! Gott ist die Liebe; das ist seine Natur, sein Wesen; und diese Liebe hat Er offenbaren und mitteilen wollen; und den Plan bildete Er, ehe die Welt war. Es ist in der Tat herrlich, als gebeugte Sünder zu Jesu gekommen zu sein und die reiche Barmherzigkeit Gottes erfahren zu haben; aber weit herrlicher ist es, wenn wir, nachdem wir im Glauben an Jesus Frieden mit Gott gefunden haben, aus dem Mund Gottes vernehmen, dass Er nicht erst jetzt, sondern vor Grundlegung der Welt an uns gedacht hat. Ja, dann lernen wir, dass die Auserwählung nicht eine Folge unseres Glaubens, sondern dass unser Glaube eine Folge der Auserwählung ist, ja dass sogar alle Dinge, die Erlösung, das Kommen Christi auf die Erde, die Schöpfung des Himmels und der Erde ihren Grund haben in der Auserwählung Gottes vor Grundlegung der Welt. Weil Gott uns auserwählt hatte, wurden Himmel und Erde, wurde der Mensch geschaffen; und nachdem der Mensch gefallen, war diese Auserwählung die Ursache der durch Christus vollbrachten Erlösung.
Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, ist die Lehre der Auserwählung ein unendlich trostreicher Gedanke für den Christen. Er lernt daraus, dass seine ganze Glückseligkeit ihren Grund in der ewigen Liebe und den ewigen Absichten Gottes hat. Dieses macht ihn los von sich selber und bringt ihn in eine engere Verbindung mit Gott. Dieses stellt seine Füße auf einen festen, unerschütterlichen Boden; denn was ist sicherer als die ewige Liebe Gottes? Dieses beseitigt alle Gedanken an eigenes Wirken und eigene Vortrefflichkeit: denn „es liegt nicht an dem Wollenden, noch an dem Laufenden, sondern an dem begnadigenden Gott“ (Röm 9,16). Leider hat der Mensch diese herrliche Wahrheit missbraucht und sie als einen Stein des Anstoßes auf den Weg des verlorenen Sünders gelegt. Nichts ist mehr gegen die Schrift und die Absicht des Heiligen Geistes, als dieses. Die Auserwählung ist eine Wahrheit, die in der Versammlung Christi gelehrt zu werden verdient, aber die durchaus kein Gegenstand einer an die Welt gerichteten Predigt sein kann. Den verlorenen Sündern muss das Evangelium der Gnade Gottes in Christus verkündigt werden; sie müssen an Christi statt gebeten werden, sich mit Gott versöhnen zu lassen: und wiewohl der Prediger des Evangeliums weiß, dass nur so viele glauben werden, als zum ewigen Leben verordnet sind, so darf er doch die Auserwählung nicht in seine Predigt aufnehmen. Tut er dieses, so schwächt er die Verkündigung der Gnade Gottes, so wie das Gefühl der Verantwortlichkeit des Menschen bezüglich der Annahme des Evangeliums. Nie haben die Apostel also gehandelt. Sie predigten das Evangelium aller Kreatur: sie bewegten die Menschen zu glauben; jedoch wenn etliche glaubten, so unterwiesen sie dieselben in der christlichen Wahrheit, und mithin auch in der Auserwählung. Also geziemt es sich auch jetzt. Die Lehre von der Auserwählung hat ihren Platz im Innern des Hauses zur Stärkung und Tröstung der Gläubigen. Es ist der Teufel, der ihr einen Platz außerhalb des Hauses angewiesen hat zum Anstoß bekümmerter Seelen.
Was nützt es auch, dass man mit unbekehrten Menschen oder mit bekümmerten, noch nicht erlösten Seelen über die Auserwählung redet? Die natürliche Folge einer solchen Torheit ist, dass viele sagen: „Wenn ich nur wüsste, dass ich auserwählt wäre, dann dürfte ich mir Jesus und die Erlösung wohl zueignen.“ Aber wer kann dieses wissen? Wo steht es in der Bibel, welche die Auserwählten sind? Dies ist nirgends zu finden. Unsere Namen stehen nicht darin. Und dieses wäre doch nötig, wenn ich vorher wissen müsste, ob ich ein Auserwählter sei oder nicht. In der Bibel aber steht, dass ein jeder, der an Jesus glaubt, das ewige Leben hat, und dass alle, die das Evangelium angenommen haben, auserwählt sind. Der Sünder hat also nicht nötig zu wissen, ob er auserwählt ist, um zu Jesu zu kommen; im Gegenteil darf er nicht als ein Auserwählter, sondern als ein verlorener Sünder, als ein Gottloser, als ein Feind Gottes zu Jesu kommen, und dann, wenn er an Jesus glaubt, wird ihm gesagt, dass er auserwählt ist. Wie wusste Paulus, dass die Thessalonicher auserwählt seien? Hören wir seine Worte: „Wissend, von Gott geliebte Brüder, eure Auserwählung. Denn unser Evangelium war nicht bei euch im Wort allein, sondern auch in Kraft und in dem Heiligen Geist und in großer Gewissheit. Und ihr seid unsere Nachahmer geworden und des Herrn, indem ihr das Wort empfangen habt in vieler Bedrängnis mit Freude des Heiligen Geistes“ (1. Thes 1,4–6). Also ihre Annahme des Evangeliums mit Freude des Heiligen Geistes war für ihn der Beweis ihrer Auserwählung. Und es ist auf keine andere Weise möglich. Wie unglücklich sind die Seelen, die anstatt auf Jesus zu sehen und zu Ihm ihre Zuflucht zu nehmen, ihr Auge auf die Auserwählung richten! Verharren sie dabei, dann wird die für die Gläubigen so trostreiche Wahrheit durch deren Missbrauch für sie eine Ursache zu ihrem ewigen Verderben werden. O, dass die Augen aller Prediger des Evangeliums für diese auf dass sie, anstatt die Seelen aufzuhalten und sie durch Lehrsätze, die nicht in ihren Bereich gehören, zu verwirren, vielmehr dieselben auf den einzigen Namen hinweisen, der unter dem Himmel gegeben ist, und durch welchen wir können gerettet werden.
Prüfen wir jetzt, was der Heilige Geist uns bezüglich der Auserwählung lehrt. Wir können uns zu diesem Zweck auf zwei oder drei Stellen in den Briefen des Paulus beschränken; denn an wie vielen Stellen des Neuen Testaments auch von Auserwählung und von Auserwählten gesprochen werden mag, so finden wir doch die Lehre von der Auserwählung nur in zwei oder drei Stellen in den Briefen des Paulus. Das Ausführlichste über diesen Gegenstand finden wir in dem ersten Kapitel des Epheserbriefes; dann in Römer 8,29–30; und endlich in Römer 9. In letzteren wird jedoch nur der Grundsatz der Auserwählung hervorgehoben, um wie wir sehen werden, den Juden zu beweisen, dass, da ihre eigene Existenz als Volk auf die Auserwählung Gottes gegründet sei, sie notwendigerweise die Auserwählung der Heiden annehmen müssten.
In Epheser 1,4 lesen wir: „Wie Er uns auserwählt hat in Ihm vor Grundlegung der Welt, dass wir heilig und tadellos seien vor Ihm in Liebe.“ Wie bereits bemerkt, geschah unsere Auserwählung vor Grundlegung der Welt, sie ist der erste Gedanke in dem Herzen Gottes, der Plan seiner ewigen Liebe, ehe die Welt war. Dieses ist der erste Punkt von Wichtigkeit; und der zweite Punkt ist, wozu Er uns auserwählt hat. „Dass wir heilig und tadellos seien vor Ihm in Liebe.“ Gott wollte uns vor sich, vor seinem Angesicht haben; Er wollte uns in seine Gegenwart bringen. Aber um dieses tun zu können, mussten wir Ihm gleichen. Ein ehrlicher Mensch kann sich in Gesellschaft eines unehrlichen Menschen nicht behaglich finden: und viel weniger kann Gott das in seiner Gegenwart dulden, was im Gegensatz zu seiner Heiligkeit steht; und wollte Er uns daher in seine Gegenwart bringen, so mussten wir Ihm gleich sein. Christus nun bekleidet diesen Platz; Er ist persönlich das Bild des unsichtbaren Gottes. In Ihm sind die Liebe, die Heiligkeit, die Vollkommenheit in all seinen Wegen vereinigt. Darum sind wir in Ihm auserwählt. Gott ist heilig in seinem Charakter, tadellos in seinen Wegen, Liebe in seiner Natur; und wir sind in Christus auserwählt, dass wir seien heilig und tadellos vor Ihm in Liebe. Welch ein Glück! Wir sind in der Gegenwart Gottes, Ihm gleichend, und zwar in Christus, der der Gegenstand und der Maßstab der göttlichen Liebe ist, so dass Gott alle seine Wonne in uns finden kann; und wir sind der göttlichen Natur teilhaftig, so dass wir fähig sind, von dieser Natur völlig zu genießen.
In Vers 5 geht der Heilige Geist noch einen Schritt weiter. Um in der heiligen Gegenwart Gottes sein zu können, mussten wir unbedingt heilig und tadellos und in Lieds sein. Doch wir hätten als Engel vor Gott sein können. Wir würden sicher damit zufrieden gewesen sein; aber seine Liebe wäre dadurch nicht befriedigt worden. Gott wollte nicht nur Engel vor seinem Angesicht haben; Er wollte Kinder besitzen. Er wollte in der engen und innigen Beziehung eines Vaters zu uns stehen und mit uns, als seinen Kindern, Gemeinschaft machen. Darum fügt der Apostel hinzu: „Nach dem Wohlgefallen seines Willens.“ Das Erste war – mit Ehrerbietung gesprochen – notwendig; das Letzte war das Bedürfnis des liebenden Herzens Gottes, seiner herrlichen Wonne. „Der uns zuvor bestimmt hat zur Sohnschaft durch Jesus Christus für sich selbst nach dem Wohlgefallen seines Willens.“
Wir lernen hier deshalb, dass Gott uns vor Grundlegung der Welt auserwählt hat, um, in sittlicher Beziehung Ihm gleich, vor seinem Angesicht zu stehen, und dass Er uns zuvor bestimmt hat, seine Kinder zu sein. Wir sind auserwählt in Christus, und Kinder durch Jesus Christus. Christus ist das Bild des unsichtbaren Gottes: wir tragen dieses Bild, da wir in Ihm auserwählt sind. Christus ist der Sohn; und wir treten in demselben Verhältnis vor den Vater. Welch eine unaussprechliche Gnade! Mögen unsere Herzen mehr fähig werden, um dieser Gnade zu vertrauen und sie zu genießen!
In Römer 8,29–30 finden wir die zweite Stelle, in welcher wir über die Auserwählung belehrt werden. Der Apostel hat in Vers 28 gesagt, dass „denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Guten mitwirken, denen, die nach Vorsatz berufen sind;“ und diese Worte veranlassen ihn, über die Auserwählung der Gläubigen zu sprechen. Wir sind berufen nach dem Vorsatz, den Gott in sich selbst vor Grundlegung der Welt gefasst hat. „Denn welche Er zuvor gekannt hat, die hat Er auch zuvor bestimmt, dem Bild seines Sohnes gleichförmig zu sein, damit Er der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern.“ Gott hat uns also zuvor gekannt, und das will in Verbindung mit dem, was in Epheser 1 gelehrt wird, mit anderen Worten sagen: Gott hat uns vor Grundlegung der Welt als die Seinen gekannt. Und die, welche Er zwar als die Seinen gekannt hat, hat Er auch zuvor bestimmt, dem Bild seines Sohnes gleichförmig zu sein. Dieses will, wie etliche meinen, durchaus nicht sagen, dass wir bestimmt seien, Christus durch unseren Wandel hienieden gleichförmig zu sein. Dazu sind wir sicher berufen; wir müssen seinen Fußstapfen nachfolgen und mehr und mehr durch den Heiligen Geist Ihm praktisch gleich werden; doch wird uns dieses hier nicht gelehrt. Die Vorbestimmung, dem Bild des Sohnes Gottes gleichförmig zu sein, bezieht sich auf die Gleichförmigkeit mit Christus in der Herrlichkeit. „Wir wissen“, sagt Johannes, „dass, wenn Er offenbart ist, wir Ihm gleich sein werden; denn wir werden Ihn sehen, wie Er ist“ (1. Joh 3,2). Christus, das Weizenkorn, ist in die Erde gefallen und gestorben und hat in der Auferstehung Frucht hervorgebracht. Diese Frucht sind die Gläubigen. Sie sind mit Ihm verbunden; sie sind eins mit Ihm; sie sollen die Herrlichkeit mit Ihm teilen. Er sagt selbst: „Die Herrlichkeit, die du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben: und ich will, dass die du mir gegeben hast, auch bei mir seien, wo ich bin.“ Jetzt sind wir noch auf Erden und wandeln noch in einem sterblichen, verweslichen Leib umher; aber wenn Jesus kommt, so werden die Entschlafenen in Ihm auferweckt und die übriggebliebenen Lebenden verwandelt werden. Dann empfangen sie alle einen Leib, der seinem verherrlichten Leib gleichförmig ist (1. Thes 4; Phil 2); dann werden sie als Söhne Gottes offenbart sein, weil sie Söhne der Auferstehung sind; und dann ist der Vorsatz Gottes in Erfüllung getreten; denn dann sind sie alle gleichförmig dem Bild seines Sohnes. Dann wird man eine Familie von Brüdern sehen; denn Jesus schämt sich nicht, uns Brüder zu heißen. Zur Maria Magdalena sagte Er nach seiner Auferstehung: „Gehe hin und sage meinen Brüdern.“ Dabei dürfen wir jedoch nicht vergessen, dass, wie herrlich und innig die Gemeinschaft und die gesegnete Familie Gottes auch sein mag, unser hochgelobter Herr dennoch den ersten Platz einnehmen wird. Wir sind durch die Gnade seine Brüder; aber Er ist das Haupt und der Erstgeborene unter vielen Brüdern.
In Vers 30 finden wir eine Verbindung der Wege Gottes in der Zeit mit seinem vor Grundlegung der Welt gefassten Vorsatz. „Welche Er aber zuvor bestimmt hat, diese hat Er auch berufen; und welche Er berufen hat, diese hat Er auch gerechtfertigt; welche Er aber gerechtfertigt hat, diese hat Er auch verherrlicht.“ Alles wird hier aus einem göttlichen Gesichtspunkte und gemäß der Absicht Gottes betrachtet; nicht als ob die Berufung, die Rechtfertigung und die Verherrlichung bereits vollbrachte Tatsachen seien, sondern weil der Heilige Geist uns vorstellt, was nach Gottes Willen von Anfang bis zu Ende unsere herrliche Stellung ist. Es war der vor Grundlegung der Welt gefasste Ratschluss Gottes, uns dem Bild seines Sohnes gleichförmig zu machen; und diesen Vorsatz erfüllt Er durch die Berufung, Rechtfertigung und Verherrlichung der Auserwählten, so dass hier also ein herrliches Resultat mit Gottes ewigem Vorsatz und Ratschluss verbunden ist.
Wir müssen hier noch aufmerksam darauf machen, dass es sowohl in Epheser 1, wie auch in Römer 9 deutlich ins Licht tritt, dass Gott Personen auserwählt hat, und dass die von etlichen aufgestellte Lehre, als habe Gott nur zum Voraus gesehen, was einzelne Menschen sein, tun und glauben würden, ganz und gar mit der Wahrheit im Widerspruch steht. Der Apostel sagt durchaus nicht: „Was Gott zuvor gekannt hat“, sondern: „Welche Er zuvor gekannt hat.“ Gott hat die Menschen zuvor gekannt und nicht nur ihren Zustand oder ihr Verhalten. Und in Epheser 1 heißt es: „Wie Er uns auserwählt hat in Ihm vor Grundlegung der Welt, dass wir heilig und tadellos seien vor Ihm in Liebe“, nicht aber: „Da wir heilig und tadellos vor Ihm in Liebe waren.“
Wir kommen nun zu Römer 9, einem Kapitel, welches vor allem in Betreff der Lehre von der Auserwählung oft eine so höchst verkehrte Auslegung gefunden hat. Aus diesem Grund müssen wir uns etwas ausführlicher damit beschäftigen. Was ist der Zweck der Belehrung des Apostels in diesem Kapitel? Er hat in den vorhergehenden Kapiteln bewiesen, dass sowohl die Juden wie die Nationen vor Gott Sünder und dem Gericht Gottes verfallen seien, und dass sie also beide, wollten sie errettet werden, aus Gnaden und keineswegs aus Gesetzeswerken gerechtfertigt werden müssten. Hierdurch schwand natürlich der Vorrang des gläubigen Juden gegenüber dem Gläubigen aus den Heiden. Als Sünder standen sie gleich; und dieses war ebenso der Fall, wenn sie durch die Gnade erlöst und mit Christus vereinigt waren. Der Einwand der Juden jedoch war, dass ihnen die Verheißungen Gottes anvertraut waren, und dass sie deshalb weit über den Gläubigen aus den Nationen zu stehen behaupteten, so dass es ihnen sehr zum Anstoß diente, in den Nationen Mitgenossen desselben Evangeliums und derselben Vorrechte in Christus erblicken zu müssen. Der Apostel antwortet darauf, dass Israel ohne Zweifel im Besitz der Verheißungen sei, dass diese jedoch nicht dem Samen Abrahams nach dem Fleisch, „sondern den Kindern der Verheißung“ nach der Auswahl Gottes gegeben worden seien. Nicht alle aus Israel seien Israeliten. Denn in diesem Fall hätten auch die anderen Söhne Abrahams Erben der Verheißung sein müssen. Doch nun hatte Gott gesagt: „In Isaak wird dir ein Same genannt werden.“ Bei Rebekka zeigte sich dieses noch deutlicher. Selbst als ihre Kinder noch nicht geboren waren, sagte Gott: „Der Größere wird dem Geringeren dienen.“ Also will der Apostel sagen: „Eure Existenz als Volk, eure Vorrechte, die euch gegebenen Verheißungen sind auf die Auserwählung Gottes gegründet.“ Hätte Gott nicht den Isaak auserkoren, der Sohn der Verheißung zu sein, dann würde Ismael euer Stammvater geworden sein; und hätte Gott nicht den Jakob über den Esau erhoben, dann würdet ihr jetzt keine Kinder der Verheißung sein. Ist nun Ungerechtigkeit bei Gott, indem Er die Nationen zu den Segnungen des Evangeliums beruft, dann ist es auch Ungerechtigkeit gewesen, dass Er Ismael und Esau als die Häupter seines Volkes verworfen, sowie auch, dass Er zu Moses gesagt hat: „Ich werde begnadigen, den ich begnadige, und mich erbarmen, über den ich mich erbarme.“ – Diese aus 1. Mose 33 angeführten Worte, welche Gott zu einer Zeit sprach, als Israel das Gesetz, bevor es noch ins Lager gekommen, durch sein Tanzen um das goldene Kalb bereits übertreten hatte, zeigen deutlich, wie unberechtigt die Einwendungen der Juden gegen die Auserwählung der Nationen waren. Hätte sich damals Gott nicht in einer unumschränkten Gnade seines Volkes erbarmt, so würde Er es in einem Augenblick in seinem Grimm vernichtet haben. Wenn nun das ganze Dasein Israels sich, wie es die Geschichte klar ans Licht stellt, auf den souveränen Willen Gottes stützt, so dass es nicht an dem Wollenden, noch an dem Laufenden, sondern an dem begnadigenden Gott liegt, dann müssen sie auch auf demselben Grund die Auserwählung der Nationen annehmen und dieses umso mehr, da Israel als Volk, wie der Apostel in dem letzten Teil dieses Kapitels beweist, Christus und in Ihm die Segnungen des Evangeliums verworfen hat.
Man sieht hieraus, dass in diesem Kapitel zwar von dem Grundsatz der Auserwählung die Rede ist, dass es sich hier aber keineswegs um unsere Auserwählung zur Seligkeit handelt, wie dieses in Epheser 1 und in Römer 6 der Fall ist. Freilich sind die Worte in Vers 15 und 16, da sie die wichtige Wahrheit, dass alles in Gott und keineswegs in uns seinen Grund hat, ans Licht stellen, auch auf uns anwendbar und können betreffs unserer Auserwählung angeführt werden; dennoch aber enthält dieses Kapitel nicht die Lehre von der Auserwählung zur ewigen Herrlichkeit. Dieses wird noch deutlicher hervortreten, wenn wir dem, was der Apostel hier darstellt, noch einige Bemerkungen hinzufügen. Um den Juden die Gerechtigkeit der Einführung der Nationen zu den Segnungen des Evangeliums zu beweisen, beruft er sich auf den Grund ihres eigenen Bestehens als Volk. Dieser Grund war die Auserwählung Gottes. Gott hatte den Isaak über den Ismael und den Jakob über den Esau erhoben. War dieses eine Auserwählung zur Seligkeit gewesen? Keineswegs; davon war durchaus keine Rede. Isaak und Jakob wurden hier nicht auserwählt, um selig zu werden, sondern um die Häupter, die Stammväter des irdischen Volkes Gottes zu sein. „Der Größere wird dem Geringeren dienen.“ Es ist daher ein Irrtum, wenn man diese Stellen anführt, um dadurch unsere Auserwählung zu beweisen. Sie steht damit in keiner Verbindung. Die ganze Beweisführung des Apostels würde, wenn dieses der Fall wäre, ihre Kraft verlieren. Wir wissen aus dem Brief an die Hebräer, dass Esau verworfen worden ist: aber dieses kommt hier durchaus nicht in Frage. Ferner beachte man, dass die Auserwählung Isaaks und Jakobs keine Auserwählung vor Grundlegung der Welt war, wie diejenige zur Seligkeit es ist, sondern eine Auserwählung in der Zeit. Überall, wo von einer Auserwählung zur Seligkeit die Rede ist, wird von dem Vorsatz Gottes vor Grundlegung der Welt oder vor den Zeiten der Zeitalter gesprochen, während hier, wo es sich um die Auserwählung zu einem Haupt des irdischen Volkes Gottes handelt, von einer Auserwählung, als die Kinder noch im Mutterleib waren, die Rede ist.
Hieraus folgt selbstredend, dass die Worte: „Den Jakob habe ich geliebt, aber den Esau habe ich gehasst“, oft ganz falsch gedeutet werden. Überdies bemerke man, dass diese Worte nicht in 1.Mose, sondern im Propheten Maleachi zu finden sind. In 1.Mose wird nur gesagt: „Der Größere wird dem Geringem dienen.“ Erst nachdem die Nachkommen Esaus ihre Bosheit und Feindschaft gegen Israel in auffälliger Weise an den Tag gelegt hatten, wurde gesagt: „Den Jakob habe ich geliebt, aber den Esau habe ich gehasst.“ Ebenso ist es mit Pharao. Dieser Mann war ein Gottloser, ein Unterdrücker des Volkes Gottes und sagte zu Moses und Aaron: „Wer ist Jehova, auf dessen Stimme ich hören soll, Israel ziehen zulassen?“ Dieser gottlose Mann, der sich gegen Gott auf jede nur mögliche Weise auflehnte, wurde durch Gott unter das Geeicht der Verhärtung gebracht, so dass er schließlich in seinen Sünden umkam. So ist es noch der Fall; und so wird es in den letzten Tagen sein. Nachdem die Menschen die Wahrheit verworfen haben, wird Gott einen Geist des Irrtums senden. Aber dieses ist ein Gericht. Man beachte es wohl. Gott bringt niemanden zur Sünde. Dieses zu behaupten, würde nichts als Gotteslästerung sein. Aber wenn der Mensch die Sünde tut und liebt und darin verharrt, so straft Gott mit dem Gericht der Verhärtung.
Man hat auch aus diesen Worten die Lehre der Verwerfung geschöpft. Doch nichts ist weiter von den Gedanken Gottes entfernt, wie diese Zehre. Der menschliche Verstand macht folgende Schlussfolgerungen: „Wenn Gott den einen erwählt, verwirft Er auch den anderen.“ – Doch dieses sind menschliche Schlüsse und durchaus nicht die Gedanken Gottes. Wenn man dem einen einen ausgezeichneten Platz anweist, als dem anderen – und das ist hier bei Jakob und Esau der Fall – dann bezeugt man zwar dem einen eine Gunst: allein dieses schließt doch eine Verurteilung des anderen keineswegs in sich. Die Auserwählung wird uns deutlich in der Schrift gelehrt; aber bezüglich der Verwerfung finden wir kein Wort darin. Im Gegenteil, Gott hat den Menschen rein, unschuldig und ohne Sünde geschaffen. Der Mensch ist es, der sich von Gott durch die Sünde losgerissen hat und der deshalb dem ewigen Verderben unterworfen ist. Überdies hat Gott für den sündigen, feindseligen Menschen seinen viel geliebten Sohn gegeben und lasst die frohe Botschaft der Vergebung und des Friedens durch Ihn in der Welt verkündigen: und wieder ist es der Mensch, der den Heiland verwirft und von sich stößt, und der darum in seinen Sünden stirbt. Anstatt dass Gott einen einzigen Menschen, wie etliche in gotteslästerlicher Weise lehren, für die Verdammnis bestimmt hat, hat Er vielmehr alles Mögliche getan, um den Menschen zu erretten und zu erlösen. Die Menschen aber sind alle in einem so schrecklich feindseligen Zustand, dass, wenn es keine Auserwählung gäbe, alle ohne Unterschied verloren gehen würden. Man hüte sich daher, Gott durch die Verwerfungslehre zur Ursache der ewigen Qual der Verlorenen zu machen und dadurch die Verantwortlichkeit des Menschen, so wie die Gerechtigkeit seines Gerichtes zu vernichten. Halten wir an der Schrift fest. Diese allein stellt uns die Wahrheit in ihrer wirklichen Bedeutung vor Augen, während alle menschlichen Auffassungen fallen und nicht selten, ohne es zu wollen, den Boden der Wahrheit unterhöhlen.
Aber – könnte man fragen – wie fasst man denn die Worte des Paulus in Vers 21: „Hat der Töpfer nicht Macht über den Ton, aus demselben Klumpen ein Gefäß zur Ehre, und ein anderes zur Unehre zu machen?“ Meine Antwort ist: Die Macht Gottes ist unumschränkt. Wenn der Mensch sich gegen Gott auflehnt und Ihm das Recht, zu tun und zu lassen, was Er will, streitig machen will, dann sagt der Apostel: „O Mensch, wer bist du, der du das Wort nimmst wider Gott? Wird das Geformte zu dem Former sagen: Warum hast du mich also gemacht?“ Gott hat das Recht, alles zu tun; und niemand hat das Recht, Ihn zu beschuldigen. Und dieses Recht Gottes wird hier in den kräftigsten Ausdrücken vorgestellt. Jedoch wird nirgends gesagt, dass Gott von diesem Recht Gebrauch gemacht hat. Er hat das Recht, um zu tun, was der Töpfer tut; aber es ist die Frage, ob Er sich dieses Rechtes bedient hat. Und dann beweisen uns die beiden folgenden Verse, dass Gott, wiewohl Er das Recht hat. Seinen Zorn zu erzeigen und seine Macht kund zu tun, im Gegenteil die Gefäße des Zornes mit vieler Langmut ertragen hat. Die Verschiedenheit der Ausdrucksweise in den Versen 22 und 23 ist beachtenswert und in Betreff dieses unseres Punktes entscheidend. Von den Gefäßen der Barmherzigkeit wird gesagt, dass Gott sie zuvor zur Herrlichkeit bereitet habe, während dieses von den Gefäßen des Zornes nicht gesagt wird. Von letzteren lesen wir, dass Er „die Gefäße des Zornes, zubereitet zum Verderben, mit vieler Langmut ertragen“, aber nicht, dass Er sie zum Verderben zuvor bereitet habe. Während die Gefäße der Barmherzigkeit durch Gott selbst zur Herrlichkeit zuvor bereitet sind, haben die Gefäße des Zornes sich selbst durch ihr Verharren im Bösen, sowie durch ihren Unglauben zubereitet, obwohl Gott sie mit vieler Langmut ertragen hat. Von einer Verwerfung oder Vorherbestimmung zur ewigen Verdammnis ist also durchaus keine Rede. Gott wird sicher einmal an den Kindern des Ungehorsams seinen Zorn erweisen und sie in den Feuersee werfen; aber nicht Er ist die Schuld ihres Elends. Er wird allen den Beweis liefern, mit wie vieler Geduld und Langmut Er sie in all ihren Sünden und Ungerechtigkeiten ertragen hat, so dass niemand ein einziges Wort zur Beschuldigung hervorzubringen vermögen wird.
Gebe der Herr uns erleuchtete Augen des Verständnisses, auf dass wir die Wahrheit richtig zu erfassen im Stande sein und durch dieselbe von allen menschlichen Gedanken und Aufstellungen freigemacht werden mögen!