Botschafter des Heils in Christo 1876
"Kommt her zu mir" - "Geht von mir"
Wie inhaltsschwer ist das Wörtchen „Komm!“ welches ehemals nach seinem unschätzbaren Wert von den Lippen Jesu ausgesprochen wurde! Es charakterisiert die gegenwärtigen Wege Gottes gegen die Welt und begegnet den Bedürfnissen dessen, der sich durch die Sünde elend und verlassen fühlt. Es redet von einem Gott, der, anstatt die Tür gegen das erste Klopfen einer wahrhaft bekümmerten Seele zu verschließen, dieselbe vielmehr weit vor ihr öffnet, um sie mit Freuden in seine Arme zu schließen. Wie der Wind die Spreu, so verscheucht es jede Furcht, die als die Frucht der Sünde in jedem Herzen eines jeden Nachkommen dessen wohnt, der sich einst vor der Gegenwart Gottes unter den Bäumen zu verbergen suchte. Es verkündigt uns einen Gott voll unendlicher Barmherzigkeit, der dem verlorenen Sohn ungeachtet seiner Missetaten entgegeneilt, ihn umarmt, küsst, bekleidet und aufnimmt. Ja – ganze Bände ließen sich füllen mit der Sprache, welche dieses kleine Wort zu uns redet. Es ist das mächtige charakteristische Wort von heute – „Komm!“
Es findet seinen Widerhall in dem Herzen, der Offenbarung, den Wegen und der Botschaft Gottes – in jener Botschaft, deren klangvolle Töne noch überall sich hören lassen, wo irgend in dem weiten Bereich der Sünde das Evangelium der Gnade Gottes verkündigt wird. „Komm! Komm! Komm!“ – so dringt es wie ein feierliches Echo aus den geweihten Räumen hernieder, wo die Engel Gottes sich freuen über einen Sünder, der Buße tut. „Wenn jemand dürstet; der komm zu mir und trinke!“ so schallt es uns aus jenem kostbaren Buch entgegen, welches uns allein den Willen Gottes offenbaren kann. Alle die Wege Gottes gegen den Sünder, als da sind: persönliche Ermahnungen, ein verlängertes Leben, abgewandte Gefahren, Pfade der Trübsal – alle flüstern im Geheimen in flehendem Ton: „Komm!“ – „Komm!“ so ertönt es von den Lippen des Herolds heute wie immer schon seit Tagen. Wochen, Monden und Jahren. „Komm!“ ist der gnädige Ruf, der vom Himmel herab in Liebe und Ernst an Alte und Junge, an Reiche und Arme, an Juden und Nationen, an Ehrbare und Lasterhafte gerichtet ist. „Kommt her zu mir alle Mühselige und Beladene!“ – alle werden eingeladen, alle sind willkommen. „Alles ist bereit, kommt ...!“
Aber wie wunderbar, dass Gott mit einer solch brennenden Sehnsucht Sünder einladen kann! Wahrlich höchst wunderbar! Aber die einzige und alleinige Ursache ist: „Gott ist die Liebe.“ – Doch wie hat der Sünder diese Liebe aufgenommen? Ach! Wir hören die Antwort aus dem Mund dessen, der „wie nie ein Mensch geredet hat.“ Er sagt: „Ihr wollt nicht zu mir kommen, auf dass ihr das Leben habt.“ Kann es möglich sein? Kann man hartnäckig eine solche Liebe – Gottes eigene Barmherzigkeit von sich weisen? Der Herr sagt es: „Ihr wollt nicht zu mir kommen.“ –
Geliebter Leser! Der Herr sagt nicht: „Ihr könnt nicht zu mir kommen“, sondern: „Ihr wollt nicht zu mir kommen.“ Der Mensch versiegelt sein Urteil durch seine eigene vorsätzliche Verachtung der Barmherzigkeit Gottes. Welch eine ernste, feierliche Wahrheit! Die Tür ist geöffnet, die Gelegenheit gegeben, und eine treue und liebevolle Stimme ruft: „Komm!“ Aber der Mensch antwortet auf dieses alles mit Geringschätzung und Verachtung. Sein Leben, seine Sünden und alle seine Wege sind nichts als eine Verachtung der Barmherzigkeit Gottes. „Sie aber achteten es nicht und gingen hin, der eine auf seinen Acker; der andere an seinen Handel“, – und der Ruf vom Himmel verhallt im Mund. Schrecklich!
Aber was wird aus dem Verächter? Ist er etwa der Vernichtung oder der Vertilgung anheimgegeben? O nein, ein weit schrecklicheres Los als dieses alles wartet seiner. Er, der sein Ohr dem einladenden Worte des Herrn gegenüber verschlossen hat, wird gezwungen sein, einmal ein anderes Wort zu hören, eine andere Wahrheit anzunehmen und die Folgen seiner Torheit zu ernten. Er wird zu Boden sinken vor dem markerschütternden Tone der Worte: „Gehe von mir!“ Nachdem ihm das liebliche Wort „Komm!“ oftmals vergeblich zugerufen worden ist, wird das furchtbare Wort: „Gehe von mir!“ in sein Ohr dringen. Ach! Dann wird es heißen: „Geht hin von mir, Verfluchte, in das ewige Feuer!“
O geliebter Leser! Kannst du diesen Gedanken ertragen? Ist es nicht entsetzlich, von Ihm zurückgewiesen zu werden, der die einzige Quelle der Liebe, des Lichts und der Segnungen ist, der mit herablassender Gnade dich ertrug, sich mit großem Verlangen nach dir sehnte, dir unaufhörlich nachging und dir immer und immer das süße Wort: „Komm! Komm! Komm!“ zuflüsterte? Kannst du den Gedanken an den „Wurm, der nicht stirbt“ und an das „Feuer, das nicht erlöscht“, ertragen, wo nimmer eine Veränderung oder Milderung deiner furchtbaren Lage zu erwarten ist? Willst du es wagen, dem Schrecken des Wortes: „Gehe von mir!“ die Stirn zu bieten? Willst du es wagen, der entsetzlichen Finsternis, dem undurchdringlichen Dunkel, der unbeschreiblichen Einsamkeit, den nagenden Gewissensbissen und der unaufhörlichen Todesangst zu trotzen?
Stehe still und denke nach! Wache auf und betrachte die ganze Wirklichkeit dieser Wahrheit und öffne dein Ohr der Barmherzigkeit, welche dir in diesem Augenblick noch zuruft: „Komm! Komm! Komm!“